Micheline Calmy-Rey setzte in der Schweizer Politik neue Akzente. Das fing bei ihrem Styling an: ein frecher Bubikopf, Hosenanzüge und hohe Absätze. Statt helvetischem Mittelmaß und Bescheidenheit verkörperte die sozialdemokratische Außenministerin aus Genf Extravaganz und Selbstbewusstsein.
Unschweizerisch selbstsicher trat Calmy-Rey mit einem Chanson in einer Fernsehshow auf - und im April 2003, nach nur 100 Tagen im Amt, machte sie in einem Interview mit dem Schweizer Radio SRF klar, dass sie vom Schweizer Duckmäusertum auf dem internationalen politischen Parkett wenig halte.
"Manche Leute, die denken, wir sind so klein, wir sollen ja nichts tun. Das kann ich nicht verstehen. Das ist nicht, weil wir klein sind, dass wir nichts tun können. Wir haben Kompetenzen, wir haben eine große Kredibilität mit den humanitären Fragen. Das ist eine große Tradition der Schweiz. Da können wir etwas bringen."
Den Schweizerinnen und Schweizern den Nutzen der Außenpolitik verständlich zu machen, das sei ihr als Bundesrätin ein zentrales Anliegen gewesen, schreibt Micheline Calmy-Rey heute, zwölf Jahre später, in ihrem Buch.
"Ich war bei meinem Amtsantritt im Außendepartement erstaunt, wie wenig man fähig war, die strategischen Interessen der Schweiz gegenüber anderen Ländern zu definieren. Ausbau der Beziehungen, ständig wachsende Handelsbilanzzahlen und möglichst viele Besuche hieß stets die Losung. Von Politik keine Rede. Es gibt heute noch Leute, die sich fragen, ob der oder die Schweizer Außenministerin überhaupt reisen soll. Sie finden, die beste Art, unsere Interessen, unsere Sicherheit und unseren Wohlstand zu wahren, sei sich zu ducken, in Vergessenheit zu geraten und sich nicht um die Angelegenheiten der Großen dieser Welt zu kümmern. (…) Die beste Außenpolitik wäre demnach gar keine und der größte Trumpf einer Außenministerin ihre Fähigkeit, in den vier Landessprachen zu schweigen."
Unkonventionelle Bundesrätin
Das Schweigen war nicht Micheline Calmy-Reys Sache. Sie gestaltete die Schweizer Außenpolitik offensiver als all ihre Vorgänger, jettete um die Welt und verschaffte dem Zwergstaat Schweiz Gehör, in dem sie frecher vorging als andere oder Protokolle missachtete. So erkämpfte sie sich zum Beispiel als frischgebackene Außenministerin in Davos ein Treffen mit dem damaligen US-Amtskollegen Colin Powell und erläuterte diesem den Standpunkt der Schweiz zur Irakkrise. Kritiker warfen der unkonventionellen Bundesrätin vor, sich selbst zu inszenieren und sich in die Angelegenheiten der Großmächte einzumischen. Micheline Calmy-Rey jedoch wertet dieses diplomatische Treffen rückblickend als eine lehrreiche Feuertaufe: Sie habe damals gelernt, dass sich die Schweiz Respekt verschaffe, wenn sie die Stimme erhebt und manchmal gar stört.
Gezerre um das Schweizer Bankgeheimnis
In ihrem Buch blickt Micheline Calmy-Rey auf eine Reihe von Ereignissen zurück, die in ihren Augen belegen, dass die Schweiz gut daran täte, in Zukunft noch mehr in die Offensive zu gehen. Sie legt plausibel dar, dass das Land in den vergangenen Jahren viele Probleme hätte entschärfen können, wenn es international besser vernetzt und aktiver gewesen wäre. Ein Paradebeispiel ist für sie das Gezerre um das Schweizer Bankgeheimnis. Die blamable Strategie habe darin bestanden, jahrelang Nein und nochmals Nein zu sagen, um letztlich dann doch klein beizugeben.
"Der andauernde Todeskampf des Bankgeheimnisses ist schwer erträglich und die juristische Unsicherheit Gift. Die Steuerstreitigkeiten sind dem Ruf der Schweiz abträglich. (…) Die Lehre, die man aus den Geschehnissen seit 2008 ziehen kann, ist, dass wir zu wenig fähig sind, die weltweiten Entwicklungen vorauszusehen und eine Gesamtstrategie auszuarbeiten. Statt uns aktiv und konstruktiv an der Diskussion zu beteiligen, stellen wir unsere Igelstacheln auf und beschränken uns selbst auf einem so wichtigen Gebiet wie der Steuerpolitik auf das Reagieren."
Die Schweizer entschieden sich im 17. Jahrhundert dafür, ihre Interessen nicht mehr mit Gewalt durchzusetzen - 300 Jahre, bevor das Völkerrecht den Krieg ächtete. Für Calmy-Rey ein revolutionärer Akt. Neutralität sei jedoch nicht mit Gleichgültigkeit gleichzusetzen. Aktive Neutralität bedeute, Konflikten vorzubeugen oder sie auf diplomatischem Weg zu lösen. Und gerade da liege die Stärke der Schweizer, die es dank Institutionen wie der direkten Demokratie und dem Föderalismus geschafft hätten, trotz verschiedener Sprachen, Religionen und Kulturen gewaltfrei zusammenzuleben. Tatsächlich ist es Calmy-Rey während ihrer Amtszeit gelungen, die Schweiz als Vermittlerin zwischen Kriegsparteien zu positionieren. So vertritt das Land als Schutzmacht die Interessen Georgiens in Russland und umgekehrt und verhandelt zwischen der Türkei und Armenien um die Beilegung des Grenzkonfliktes. Dieses Engagement sei nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern durchaus auch im Interesse der Schweiz, betont Calmy-Rey:
"Das alles macht, dass die Schweiz eine Rolle hat, dass sie empfangen wird, dass wenn wir Probleme haben oder unsere Interessen verteidigen in einem besonderen Bereich, dann haben wir einen direkten Draht."
Calmy-Rey: Schweiz soll EU-Mitglied werden
Im letzten Kapitel kommt die ehemalige Außenministerin auf die EU zu sprechen: Sie, die sich als Bundesrätin für den bilateralen Weg engagierte, plädiert auch hier für eine Offensive. Die EU verlange von Drittstaaten, dass sie die Normen der Gemeinschaft übernehmen. Um diese auch beeinflussen zu können, sollte die Schweiz EU-Mitglied werden, ist Calmy-Rey überzeugt. Allerdings denkt die ehemalige Politikerin an eine Art "Beitritt light", der heute realistisch geworden sei, weil sich die EU immer mehr eine Gemeinschaft unterschiedlich stark integrierter Staaten vorstellen könne.
Das Buch hat auch seine Schwächen: Gewisse Passagen wirken geschwätzig und selbstgefällig oder sind redundant. Man glaubt gerne, dass die ehemalige Außenministerin selber in die Tasten griff und die Verfassung ihres ersten Buches keinem Ghostwriter überließ, der die Erinnerungen womöglich gestrafft hätte. Das Buch ist aber gerade dieses persönlichen und leidenschaftlichen Tons wegen lesenswert. Es besticht nicht durch tiefgründige Analysen, aber durch intelligente Beobachtungen und Erinnerungen einer Politikerin, die in ihren neun Amtsjahren als Außenministerin einen tiefen Einblick in die Stärken und Schwächen der Schweizer Politik erhielt.
Literaturangaben:
Micheline Calmy-Rey: "Die Schweiz, die ich uns wünsche", Verlag Nagel & Kimche, 240 Seiten, 18,90 Euro, ISBN: 978-3-312-00610-6
Micheline Calmy-Rey: "Die Schweiz, die ich uns wünsche", Verlag Nagel & Kimche, 240 Seiten, 18,90 Euro, ISBN: 978-3-312-00610-6