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100. Geburtstag
Die Schweizer Lyrikerin Erika Burkart und ihre Inspirationsquelle

Die Dichterin Erika Burkart war in allem eine Ausnahmekünstlerin. Ihre Gedichte, ihre lyrische Prosa, die Essays und Aufzeichnungen kennzeichnen sprachliche Präzision und Fantasie. Für ihr Schaffen wurde die Deutschschweizerin mit zahlreichen Preisen geehrt. Heute vor hundert Jahren wurde sie geboren.

Von Carola Wiemers | 08.02.2022
Erika Burkart, Schweizer Schriftstellerin, aufgenommen in Althaeusern bei Muri im Kanton Aargau im Januar 1999
Die Schweizer Schriftstellerin Erika Burkart (Picture-Alliance/KEYSTONE)
“Das alte Haus
Jahr um Jahr lernen
sich nicht zu fürchten
vor toten Winkeln.

Hochsitz der Stürme unter dem Dach:
Ziegelzelt, Balkengefüge,
in der Dämmerung eines
andern Jahrhunderts.

Im Schlupf in der Winde versteckt
Schuhe, Scherben,
Lumpen der Andern, die man nicht kannte,
Namenlose, sie gingen
Voraus aus dem Haus
im letzten Bett durch die Klostertür“

Ein Haus als Inspirationsquelle


Im Atlas der Weltliteratur finden sich zahlreiche Topographien, in denen Landschaften, Orte, Häuser Gegenstand und Medium des Erzählens sind. Auch im Werk der Schweizer Lyrikerin Erika Burkart gibt es solch einen magischen Ort: das einstige Äbtehaus des Klosters Muri im Schweizer Kanton Aargau, das 1736 als Sommerresidenz erbaut wurde. Die Eltern kauften das Anwesen in den 1920er-Jahren und betrieben dort die Wein- und Speisewirtschaft „Kapf“. Während die Mutter als Lehrerin arbeitete, gefährdete der Vater, einst Großwildjäger in Südamerika, durch seine Alkoholsucht die familiäre Existenz.
Das Haus, auf dem Höhenkamm einer Moräne gelegen, war für Burkart eine nie versiegende Inspirationsquelle, ein geographischer, poetischer wie memotechnischer Raum. In diesem Refugium lebte sie – seit Ende der 1960er-Jahre gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Ernst Halter - bis zu ihrem Tod im Jahr 2010.
„Es waren immer schon schöne Bäume da. Es war die weite Landschaft. Da war das Moor, die Reussebene, die Wälder ringsherum. Und dann die Stille draußen in der Landschaft.“

Sprachlich hochkonzentrierte Lyrik

Burkart, geboren am 8. Februar 1922, absolvierte das Lehrerinnenseminar in Aarau und unterrichtete einige Jahre als Primarlehrerin. Aufgrund einer schweren Herzerkrankung musste sie diese Tätigkeit jedoch aufgeben.
1953 erschien ihr Lyrikdebüt „Der dunkle Vogel“, rasch gefolgt von weiteren Gedichtbänden. In der sprachlich hochkonzentrierten Lyrik wie auch in den Romanen, Erzählungen, Aufzeichnungen geht es Burkart stets um Fragen der Herkunft, um Entbehrungen und Ängste, um Kränkungen, die eine Reformierte im katholischen Umfeld erleidet. Reale und imaginäre Landschaften, Außen- und Innenwelten verwandelt sie in eine Textur, die robust und fragil zugleich ist. So hilft ihr die mythische Weberin Arachne dabei, um über Geborgensein und Entwurzelung poetisch sprechen zu können.
„Verschollen Arachne
zwischen Wetter- und Innenfenster,
Sichtbarwerden zerfetzter Fäden,
baumelt im Zugwind
festgezurrt die vergessene Beute.“

Pars-pro-toto-Verfahren

Die passionierte Botanikerin war eine stets Suchende, eine neugierige Sammlerin in allen Lebensbereichen. Ihre poetische Inspiration entzündet sich am Detail, umgesetzt in einem phantasievollen Pars-pro-toto-Verfahren. Ein Lichtstrahl, eine Blume, ein Geruch, eine Geste stehen für das Ganze.
Burkarts Sprache ist klar und rätselhaft zugleich. Etwa wenn die archaische Kraft der Elemente als „Sturmpranke“ ins „nachgedunkelte Laub der regenschweren Bäume“ fährt.
„Das leere Land
Beinahe weiß
Und vom Blattrand zerschnitten.

Was jenseits ist,
gehört uns.

Beinahe schwarz

Dieses Land
Zwischen den Sternen
Nennen wir Zeit.“
Auch wenn in ihrem reichen Sprachkosmos das Schweigen, die Stille, Krankheit und Tod zunehmend Platz beanspruchen und sie das eigene Leiden „gottlos“ nennt - die Dichterin hat in sechs Jahrzehnten die Welt der Poesie nie verraten.
„Niemand kann erklären, weshalb er Gedichte schreibt. Ich schweige, horche nach innen, stelle mir selbst die Frage, die ich nicht beantworten kann.“