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Vor 100 Jahren geboren
Ousmane Sembène - Urvater des afrikanischen Films

Der senegalesische Schriftsteller und Regisseur Ousmane Sembène gilt als Begründer des afrikanischen Kinos. Mit seinem Werk wollte der Sohn eines Fischers am Aufbau eines „neuen Afrikas“ mitwirken. So wird er gerne etwa mit Bertolt Brecht verglichen.

Von Bettina Rühl | 08.01.2023
Der senegalesische Schriftsteller und Regisseur Ousmane Sembène, 1992.
Der senegalesische Schriftsteller und Regisseur Ousmane Sembène, 1992. (picture-alliance / Mary Evans Picture Library)
Einer der international erfolgreichsten Filme afrikanischer Regisseurinnen und Regisseure heißt „Moolaadé“ in der deutschen Übersetzung „Bann der Hoffnung“. Im Film geht es um den Widerstand gegen die weibliche Genitalverstümmelung, um Menschenrechte und Meinungsfreiheit.
Für diesen, seinen letzten Film wurde der senegalesische Regisseur Ousmane Sembène vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2004 beim Filmfestival in Cannes. Sembène war damals bereits 81 Jahre alt. Anlässlich der Vorführung seines Films in Cannes sagte er: „Der Gesellschaftskampf gleicht in seiner Härte dem Tod. Doch in Afrika sterben so viele, da kommt es auf einen Toten mehr oder weniger nicht an. Und es lohnt sich zu kämpfen, denn Afrika ist in einem Umbruch. Und für das neue Afrika sind wir die einzig Verantwortlichen.“

"Er kam ganz von unten, also anders als Brecht“

Diese stark empfundene gesellschaftliche Verantwortung habe Sembènes Schaffen geprägt, sagt der deutsche Autor Hans-Christoph Buch. „Man kann ihn vielleicht am ehesten mit Brecht vergleichen in unserem Kulturkreis. Er war ein überzeugter Filmemacher und Schriftsteller, der für das Volk etwas tun wollte, für sein Volk, für Afrika, und der die westlichen Medien benutzte, um diese Botschaft zu transportieren. Er kam ganz von unten, also anders als Brecht.“

Zum Kampf gegen NS-Deutschland einberufen

Geboren wurde Sembène am 1. oder 8. Januar 1923, das genaue Datum ist nicht bekannt, als Sohn eines muslimischen Fischers. Aus finanziellen Gründen musste er die Schule früh verlassen, verdiente zunächst als Mechaniker und Maurer sein Geld in der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Er las viel, entdeckte das Kino. 1944 wurde er in die französische Armee eingezogen, um im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland zu kämpfen.
Das Erlebnis prägte ihn tief, sagt der senegalesische Literaturwissenschaftler Moustapha Diallo: „Nach seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg ist er nach Senegal zurückgegangen. Und wenn man für die Freiheit Europas gekämpft hat, kann man nicht akzeptieren, zu Hause von diesen Europäern unterdrückt zu werden.“

Kritik an Afrikas neuer Bourgeoisie

Sembène, der Autodidakt, fing an zu schreiben. In seinen Romanen und Kurzgeschichten kritisierte er die kolonialen und postkolonialen Strukturen der Ausbeutung. Und er wandte sich schon früh gegen Missstände auch in seiner eigenen Gesellschaft, zum Beispiel gegen die Maßlosigkeit der neuen afrikanischen Bourgeoisie. Die Traditionen, die Frauen unterdrückten, prangerte er beispielsweise in seinem Film „Moolaadé“ an. Über seine Arbeit daran sagte er: „Ich habe zwei Jahre lang für diesen Film recherchiert. Ich arbeite an mehreren Synchronfassungen, sodass möglichst viele Menschen den Film sehen und verstehen können. Außerdem veranstalte ich Open-Air-Vorführungen mit Frauengruppen, Hebammen und Ärztinnen, um die Debatte über das Problem der Beschneidung und der Freiheit grundsätzlich anzustoßen.“

"Ich glaube nicht, dass unsere Zukunft von Europa abhängt“

Die Sprache war für Sembène ein zentrales, ein politisches Thema. Gefragt, ob seine Filme in Europa verstanden würden, sagte er einmal:
„Europa ist nicht mein Zentrum. Europa liegt am Rande Afrikas. Die Franzosen sind länger als 100 Jahre im Senegal geblieben und sprechen meine Sprache nicht. Aber ich spreche ihre Sprache. Ich glaube nicht, dass unsere Zukunft von Europa abhängt.“

Film studiert Sembène in Moskau

Sembène war sich bewusst, dass seine Bücher in seiner Heimat die Arbeitenden und die Menschen auf dem Land nicht erreichen konnten, denn nur wenige konnten lesen. Deshalb wollte er Filme drehen. 1961 reiste er nach Moskau, um dort Filmwissenschaften zu studieren. Der senegalesische Literaturwissenschaftler Moustapha Diallo: „Mit dem Film konnte er auch die senegalesischen Sprachen so vermitteln, dass er die Leute erreichte, die Französisch nicht beherrschen. Und das war ein zentrales Element für ihn.“
Sembènes Filme wurden auch im Senegal im Fernsehen und im Kino gezeigt, und als er 2007 in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt starb, war er in seiner Heimat jedem bekannt. International gilt er als „Vater des afrikanischen Films".