Mittwoch, 24. April 2024

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Sexualisierte Gewalt in der DDR
Vergiftete Medaillen

Sexualisierte Gewalt im Sport haben bisher vor allem Betroffene aus den alten Bundesländern öffentlich gemacht. Die Aufarbeitung des DDR-Staatssports drehte sich um staatlich verordnetes Doping. Nun soll auch sexueller Missbrauch Thema sein.

Von Andrea Schültke | 29.04.2023
Zieleinlauf, bewegungsunscharfe Sprinter-Beine an der Ziellinie.
DDR-Sport: Ex-Leichtathletin Karin erfuhr als Grundschulkind sexualisierte Gewalt durch Trainer und Arzt. (imago / Krieger)
Sexualisierte Gewalt im DDR-Sport war und ist bis heute ein noch größeres Tabuthema als in den alten Bundesländern. Das hat die Veranstaltung der Aufarbeitungskommission in Schwerin deutlich aufgezeigt. Neben ehemaligen Turnerinnen und Gymnastinnen ist der frühere Wasserspringer Jan Hempel einer der wenigen DDR-Sportler, die jahrelang schwere sexuelle Übergriffe durch Trainer und Betreuer bisher öffentlich gemacht haben. Erfahrungen, die sie mit vielen, vielen noch unbekannten Athletinnen und Athleten teilen.

Gute und schlimme Tage

Neben Hempel haben in Schwerin drei weitere Betroffene des DDR-Sports gesprochen, vor allem über die Folgen, die die Übergriffe für ihr Leben hatten und immer noch haben: "Es gibt gute Tage und es gibt ganz viele schlimme Tage, wo man sich fragt `Wie geht es jetzt weiter, gibt es morgen noch?`" berichtete die ehemalige Leichtathletin Karin.
Bereits im zweiten Schuljahr für den Leistungssport gesichtet, erfuhr sie sexuelle Gewalt – sowohl durch ihren Trainer als auch durch den Sportarzt. Das soll anderen Kindern nicht passieren. Auch deshalb spricht Karin in Schwerin das erste Mal öffentlich vor Publikum. Es fällt ihr nicht leicht, sie ist aufgeregt, berichtet sie im Vorfeld. Auf dem Podium ist davon nichts zu spüren. Sie strahlt Kraft aus und den Willen bekannt zu machen, wie schwer es für Betroffene ist, Unterstützung zu erhalten, etwa beim Beantragen von Hilfsleistungen:

Unterstützung fehlt

"Dann ist es ja oftmals auch so, dass wir uns ziemlich allein gelassen fühlen, weil wir wieder an dem Punkt sind, wo wir nochmal beweisen müssen, erklären müssen, was uns wieder in die Geschichten von damals zurückführt, retraumatisiert.
Oder es sind irgendwelche Anträge, wo man wieder schier daran scheitert. Nicht weil man den Antrag nicht lesen kann, aber einfach diese ganze Bürokratie, die dahintersteht."

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Hilfe finden beim Bewältigen der Bürokratie, ist nur eine der vielen Hürden für Betroffene. Hinzu kommen unter anderem fehlende Therapieplätze und ein Mangel an spezialisierten Beratungsstellen. Es fehlt an Unterstützung, um mit den Folgen der Übergriffe zu leben. Diese Folgen sind gravierend. Anne Drescher ist Landesbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Bei ihrem Amt ist eine Anlaufstelle eingerichtet für Geschädigte des DDR-Dopingsystems.
Im Laufe der Gespräche sei auch sexueller Missbrauch verstärkt ein Thema geworden. Anne Drescher spricht angesichts der Gewalt, über die die Betroffenen berichtet haben, von Menschenrechtsverletzungen, begünstigt durch die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse im DDR-Sportsystem: "Gerade vor dem Hintergrund der Missbrauchserfahrungen, die die Kinder in diesem System machen mussten ist es Zeit, an den Medaillenerfolgen zu kratzen. Diese Medaillen sind vergiftet. Vergiftet durch das, was die Kinder in diesen Einrichtungen durchmachen mussten".

Stillhalten und Schweigen

Das führt auch Bettina Rulofs noch einmal deutlich vor Augen. Die Sportsoziologin aus Köln hat 72 Erfahrungsberichte von Betroffenen aus dem Sport ausgewertet, die sich bei der Aufarbeitungskommission gemeldet hatten. Zwölf davon kamen von Athletinnen und Athleten aus der DDR. "Die sozialistische Gesellschaft wahrte nach außen hin den Schein, dass gerade die jungen Menschen vom Aufwachsen in sozialistischen Strukturen profitierten, Gewalt durfte nicht sein und bedeutete Stillhalten, Schweigen nach außen." Auch im Sport.
Eine der 12 DDR-Sportlerinnen, die an der Studie der Aufarbeitungskommission teilgenommen haben, ist die ehemalige Leichtathletin Karin. Sie macht eindringlich klar, wie wichtig ihr eine Entschuldigung des organisierten Sports gewesen wäre. Ein Signal, dass die Organisation, in der ihr das Leid angetan wurde, Verantwortung übernimmt. Im Oktober 2020 schienen sich Karins Erwartungen zunächst zu erfüllen durch Petra Tzschoppe.
Die damalige Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes sagte auf einer Veranstaltung: "Ich möchte an dieser Stelle nicht nur persönlich, sondern im Namen des organisierten Sports alle Betroffenen, auch die, von denen wir bisher noch nicht wissen, um Entschuldigung bitten."
Worte mit großer Wirkung, auch auf Karin, die damals im Publikum saß: "Damals war ich sehr ergriffen davon, war überrascht über diese eindeutige Aussage und habe mich auch gefreut, dass ich das erste Mal von einem Vertreter eine Entschuldigung gehört habe. Es war dieses Wort Entschuldigung, was so viel bewirkt hat".

Keine Reaktion auf Email

Bei der Veranstaltung vor zweieinhalb Jahren hatte die damalige DOSB-Vizepräsidentin auch Ankündigungen über weitere Unterstützung für Betroffene gemacht. Ein Jahr danach sei für sie keine wahrnehmbare Umsetzung erkennbar gewesen, sagt Karin. In einer Email an Petra Tzschoppe fragt sie:
"'Haben Sie diese Entschuldigung damals wirklich als Wahrheit ausgesprochen?' Ich habe auch um ein Gespräch mit dem DOSB gebeten und habe auch meine Bereitschaft erklärt, als Betroffene meine Expertise einzubringen bei der weiteren Aufarbeitung. Leider gab es dann nie eine Reaktion darauf."

Wütend und traurig

Erst als sich die unabhängige Interessenvertretung Athleten Deutschland einschaltet, kommt dann doch im letzten Sommer ein Gespräch mit dem Deutschen Olympischen Sportbund zustande. Karin hatte auf Verständnis gehofft für die Situation von Betroffenen. Und darauf, vom neuen DOSB-Präsidenten Thomas Weikert das Wort "Entschuldigung" zu hören: "Im Laufe des Gespräches hat dann leider der DOSB-Präsident gesagt, er kann sich nicht alle Fehler seiner Vorgänger auf den Tisch ziehen, was mich wiederum sehr, sehr enttäuscht hat, wütend gemacht hat, aber auch, ja, sehr traurig".
Kopfschütteln im Saal und auch ein Nicken bei den Betroffenen aus den alten und neuen Bundesländern im Publikum. Viele von ihnen haben ähnliche Erfahrungen machen müssen, im Umgang mit Sportorganisationen. Vor allem den verantwortlichen Funktionären an der Verbandsspitze gehe es nach wie vor um den Ruf und das Image der Organisation und nicht um Respekt vor den Betroffenen und Anerkennung ihres Leids. Eine wirklich aufrichtige und glaubwürdige Entschuldigung sei ein Zeichen für die Übernahme von Verantwortung für das Geschehene und deshalb so wichtig, klingt es in Gesprächen am Rande der Veranstaltung durch.
Karin wünscht sich, "dass man nicht immer hergeht und sagt die DDR gibt es nicht mehr, also können wir das andere auch vom Tisch wischen. Natürlich gibt es die DDR nicht mehr, aber wir tragen diese Geschichte ein Leben lang mit uns herum". Kurz nach der Tagung in Schwerin betrachtet Karin, die ehemalige Leichtathletin, ihren Auftritt dort als Marathonlauf. Der habe sie motiviert. Jetzt – so sagt wie – will sie viele weitere folgen lassen.