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Afghanistan
Wenn Sport für Frauen lebensgefährlich ist

Seit der Machtübernahme im Sommer 2021 verweigern die Taliban Frauen und Mädchen den Zugang zum Sport. Große Sportorganisationen wie die FIFA und das IOC schauen häufig hilflos und untätig zu. Die frühere Judoka Friba Rezayee stammt selbst aus Afghanistan kämpft mit ihrer eigenen Organisation gegen die Tatenlosigkeit – und für die Rechte afghanischer Sportlerinnen.

Von Jutta Heeß | 10.12.2022
Members of the Afghanistan national girls soccer teams hug during a training session at a soccer pitch in Odivelas, outside Lisbon, Thursday, Sept. 30, 2021. The girls and their families arrived in Portugal Sept.19 after an international coalition came to their rescue. (AP Photo/Ana Brigida)
Die afghanische Mädchen-Fußballnationalmannschaft beim Training in Portugal. Die jungen Frauen wurden mit ihren Familien im September 2021 aus Afghanistan gerettet. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Ana Brigida)
Kein Sport. Kein Fußball, kein Radfahren, kein Schwimmen. Das ist die Realität für Frauen und Mädchen in Afghanistan. Seit der Machtübernahme der Taliban sind sie vom Sport komplett ausgeschlossen.
Laut den eigenen Statuten müsste das Internationale Olympische Komitee (IOC) das Land ausschließen, denn es soll eine gleichmäßige Beteiligung von Männern und Frauen in allen Sportarten angestrebt werden. Es wurde diskutiert und das IOC hat nun der Taliban-Regierung zur Auflage gemacht, Frauen und Mädchen wieder Zugang zu Sport und internationalen Wettkämpfen zu gewähren. Geschieht das nicht, drohe dem Land der Ausschluss aus dem IOC.

Judoka Rezayee: IOC sehr nachsichtig zu den Taliban"

Die ehemalige afghanische Judoka Friba Rezayee hält die bloße Androhung für unzureichend: "Ich glaube nicht, dass das ausreicht. Ich glaube nicht, dass es funktionieren wird. Es sieht so aus, als sei das IOC sehr geduldig und sehr nachsichtig zu den Taliban. Das Einzige, was bei den Taliban funktionieren wird, wäre eine sofortige Suspendierung. Die Taliban dürfen Frauen nicht aus dem Sport verbannen, die Turnhallen für sie schließen und trotzdem erwarten, dass das IOC sie als reguläre Mitglieder behandelt. Ich denke, das sollte Konsequenzen haben. Ich persönlich fordere einen sofortigen Ausschluss der Taliban."
Die frühere afghanische Judoka Friba Rezayee im September 2021 in Vancouver, Kanada.
Die frühere afghanische Judoka Friba Rezayee im September 2021 in Vancouver, Kanada. (imago images / ZUMA Press / Darryl Dyck via www.imago-images.de)
Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat das IOC aufgefordert, die Taliban-Regierung ohne Zögern zu suspendieren. Während Männer weiterhin Sport treiben und ihr Land auf internationaler Ebene repräsentieren können, wird Frauen jegliche sportliche Betätigung untersagt. Es ist Teil der Taliban-Strategie, Frauen komplett vom sozialen Leben auszuschließen.
"Die Kricket- und Fußballmannschaften der afghanischen Männer können Afghanistan im Ausland vertreten. Warum dürfen Frauen nicht einmal ins Fitnessstudio gehen? Das ist inakzeptabel. Wir können das so nicht hinnehmen. Das IOC hat die Taliban bereits in den neunziger Jahren ausgeschlossen. Warum schließen sie sie diesmal nicht aus? In der IOC-Charta, Kapitel 1, Regel 2, Paragraph 7, wird ausdrücklich auf die Werte der Olympischen Charta hingewiesen, und es heißt dort, dass das IOC die Förderung von Frauen im Sport auf allen Ebenen unterstützt, um die Gleichstellung von Männern und Frauen umzusetzen. Es ist nicht an der Zeit, nett zu den Taliban zu sein.“

Rezayee war die erste weibliche Teilnehmerin bei Olympischen Spielen aus Afghanistan

Das IOC hatte das afghanische Olympische Komitee von 1999 bis 2003 während der ersten Herrschaft der Taliban ausgeschlossen. Friba Rezayee war 2004 die erste afghanische Sportlerin, die jemals an Olympischen Spielen teilnahm. Seit 2011 lebt sie in Kanada und hat eine Organisation gegründet, die sich für die Teilhabe von Frauen und Mädchen an Bildung und Sport einsetzt. Die 37-Jährige beobachtet daher auch die Situation der afghanischen Fußballnationalmannschaft. Die Frauen sind im vergangenen Jahr vor den Taliban nach Australien geflohen. Obwohl sie dort trainieren, dürfen sie nicht an internationalen Turnieren teilnehmen, weil sie vom afghanischen Fußball-Verband nicht mehr anerkannt werden. Die FIFA unternimmt nichts gegen diesen Ausschluss.
„Die FIFA trägt Verantwortung, und sie hat ihre eigene Charta und ethische Prinzipien, die sie ernst nehmen muss. Folglich muss die FIFA die afghanische Frauenfußballmannschaft anerkennen, die Fußballerinnen dürfen nicht das Opfer der Politik sein. Sowohl das IOC als auch die FIFA, und insbesondere die FIFA, sagen, dass sie keine Politik machen. Aber hier geht es zu 100 Prozent um Politik.“
Und vor allem geht es um Menschenrechte. Für Frauen und Mädchen war es in Afghanistan noch nie selbstverständlich, Sport zu treiben. Viele Athletinnen haben daher das Land verlassen, zum Teil schon vor der Machtübernahme der islamistischen Taliban. Sportlerinnen, die noch im Land waren, verbrannten ihre Trikots und Urkunden, warfen ihre Medaillen weg. Der Sport, der eigentlich zu Emanzipation und Selbstermächtigung in einem patriarchalen und totalitären Land beitragen soll, ist in Afghanistan für Frauen lebensgefährlich. Friba Rezayee:
„Sport hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt, uns zu stärken und die Rechte der Frauen sichtbar zu machen. Jede Sportlerin war eine Verteidigerin der Menschenrechte, eine Freiheitskämpferin. Wir müssen unsere Stimme erheben. Die Situation ist verheerend für die afghanischen Sportlerinnen, nicht nur in Afghanistan, sondern auch für die afghanischen Athletinnen in der Diaspora, weil sie Afghanistan im Exil nicht vertreten können und staatenlos werden. Sie lassen sie am langen Arm verhungern. Ihr Talent und ihre Zeit werden von IOC und FIFA vergeudet.“
Friba Rezayee will weiter für die Zukunft afghanischer Sportlerinnen kämpfen. Doch gerade zurzeit sei es schwierig, Aufmerksamkeit zu erlangen, sagt sie.

Rezayee: Die Welt vergisst Afghanistan

"Die Welt vergisst Afghanistan und die Welt vergisst die afghanischen Frauen. Wir kämpfen diesen Kampf gegen die Taliban allein. Wir haben festgestellt, dass selbst in Kanada die Aufmerksamkeit der Menschen nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine nachgelassen hat. Ich möchte darauf hinweisen, dass Russland in den siebziger Jahren in Afghanistan einmarschiert ist und Afghanistan besetzt hat. Auch wir haben unter Russland gelitten. Wir waren Opfer desselben totalitären Regimes. Wir können den Schmerz nachfühlen."
Das Schicksal der afghanischen Frauen dürfe jedoch nicht in Vergessenheit geraten, sagt Friba Rezayee. Mit ihrer Organisation „Women Leaders“ hält sie Kontakte in ihre Heimat. Im Moment setzt sie sich dafür ein, dass vier afghanische Judoka nach Deutschland ausreisen können - damit sie ohne Angst und Verbote ihren Sport ausüben können.