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Steigende Corona-Neuinfektionen
"Diese Wellen gehören zur eingeschlagenen Strategie"

Der Ökonom Thomas Straubhaar hat davor gewarnt, auf die steigenden Zahlen von Corona-Neuinfektionen mit Hysterie und einem erneuten Lockdown zu reagieren. Man sollte die Zahlen in Kauf nehmen und prüfen, wo man mit vergleichsweise geringen Maßnahmen hohe Wirkungen erzielen könne, sagte er im Dlf.

Thomas Straubhaar im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
Eine Atemschutzmaske wurde drapiert für ein Foto. Köln, 29.07.2020 *** A breathing mask was draped for a photo Cologne, 29 07 2020 Foto:xC.xHardtx/xFuturexImage
An einer sogenannten Herdenimmunisierung führe letztlich kein Weg vorbei, meint der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar (imago images / Future Image)
Mit aktuell rund 1.700 gemeldeten Neuinfektionen pro Tag sind die Coronawerte in Deutschland aktuell wieder auf einem Höchststand. Viele Gesundheitsexperten sagen, die zweite Corona-Welle sei da und fordern die Politik dazu auf, jetzt möglichst schnell über gezielte Einschränkungen nachdenken. Private Feiern sollen reguliert werden - und es gibt den Ruf nach bundesweit einheitlichen Maßnahmen. Das Ziel: die Zahl der Corona-Neuinfektionen wieder senken. Der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar hält bundesweite Maßnahmen und einen erneuten kompletten Lockdown nicht für den richtigen Weg.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Tobias Armbrüster: Herr Straubhaar, die Infektionszahlen steigen wieder. Müssen wieder neue Einschränkungen her?
Thomas Straubhaar: Da würde ich sehr viel vorsichtiger und nüchterner sein und zunächst einmal prüfen und gucken, inwieweit wir in Zukunft ganz generell bei dieser eingeschlagenen Strategie damit rechnen müssen, dass die Neuinfektionszahlen steigen, weil wir letztlich es nicht schaffen können und auch nicht schaffen werden, ohne Impfung eine Verdrängung und Ausmerzung des Coronavirus zu erreichen. Von daher gesehen gibt es gar keine Alternative dazu, als damit zu leben, dass auch Neuinfektionszahlen steigen, und deshalb sollten wir nicht so alle unsere Kraft jetzt darauf einsetzen, mit allen Mitteln Wellen zu verhindern. Diese Wellen gehören zur eingeschlagenen Strategie. Viel klüger ist es zu gucken, wo können wir mit vergleichsweise einfachen Maßnahmen sehr hohe Wirkungen erzielen.
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"Das gehört dazu, bis wir einen Impfstoff haben"
Armbrüster: Das heißt, verstehe ich Sie da richtig, man sollte die Infektionen ruhig auch ein bisschen weiterlaufen lassen?
Straubhaar: Genau, man sollte in Kauf nehmen, dass diese Zahlen steigen und nicht hysterisch jetzt darauf gucken und von Wellen reden und von jahrelangen Konsequenzen, die damit verbunden sind, weil das gehört dazu, bis wir einen Impfstoff haben, bis wir in dem Sinne die Masse der Menschen immunisieren können gegen das Virus, gibt es in dem Sinne gar keine andere Antwort, als dass es immer und immer wieder hochpoppen wird. Das ist nichts Unnatürliches. Deshalb sollte man zulassen eine Zulassung und nicht eine Ausmerzungsstrategie. Bei dieser Zulassungsstrategie ist selbstverständlich wichtig, dass alles, was sich bewährt hat mit einfachen Mitteln, beibehalten wird, Abstandsregeln, Masken, Hygiene. Das sind, denke ich, Instrumente, die niemanden wirklich fundamental in seinen Grundrechten oder in ihren Grundrechten einschränken, aber eine hohe Wirkung erzielen. Es ist meines Erachtens nicht nötig, jetzt im vorauseilenden Gehorsam schon sehr viele Maßnahmen zu ergreifen, die dann doch auch Grundrechte einschränken.
Thomas Straubhaar, Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Uni Hamburg
Thomas Straubhaar, Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Uni Hamburg (imago/Reiner Zensen)
"An der Herdenimmunisierung führt kein Weg vorbei"
Armbrüster: Herr Straubhaar, wenn ich Sie da richtig verstehe, dann sprechen Sie sich für so etwas aus tatsächlich wie dieses immer wieder viel diskutierte Prinzip der Herdenimmunität. Ist das korrekt?
Straubhaar: An der Herdenimmunisierung führt letztlich kein Weg vorbei. Ich denke, alles andere ist irgendwo nicht wirklich zu Ende gedacht, weil bis die Menschen sozusagen nicht mehr in hohem Maße dieses Virus an andere weitergeben können, wird uns dieses Corona verfolgen. Das wird dann sein, wenn es einen Impfstoff gibt, oder es gibt vielleicht auch Medikamente eines Tages, die uns erlauben, dann im Umgang mit der Krankheit, die durch Corona verursacht wird, besser umzugehen, und bis das soweit ist, wird es immer wieder dazu führen, dass die Zahlen hochpoppen. Diese Herdenimmunisierung, ich denke, das ist etwas zum roten Tuch in Deutschland gemacht worden. Was ich will, ist, darauf hinweisen, dass am Ende muss es eine Herdenimmunisierung geben. Da gibt es zwei Wege: Impfungen oder ein gewisses Zulassen, dass auch im realen Alltag die Anzahl der Neuinfektionen steigen. Das ist der Preis der Freiheit bei den Grundrechten, der Freiheit für die Wirtschaft, das zu tun, was letztlich auch Menschen rettet und der Gesundheit zugutekommt, nämlich auch sich um andere Dinge kümmern zu können, die letztlich auch zum medizinischen Fortschritt führen, der wiederum dann hilft, auch Corona besser in den Griff zu kriegen.
Armbrüster: Herr Straubhaar, ich nehme an, dass sich da viele Menschen jetzt entsetzt an den Kopf fassen, wenn sie das hören. Mit Verlaub, ein rotes Tuch ist die Herdenimmunität, Herdenimmunisierung nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern, weil Virologen …
Straubhaar: Er ist als Begriff ein rotes Tuch geworden.
"Es soll nicht der schwedische Weg sein"
Armbrüster: Einen Augenblick. Virologen haben von Anfang an bei diesem System davor gewarnt, dass das natürlich leicht dazu führt, und man hat das gesehen in vielen Ländern, dass die Intensivstationen auf den Krankenhäusern sehr leicht überlastet werden und dass dieses Virus, dass diese Infektionen außer Kontrolle geraten. Ist das eine Gefahr, die Sie auch in Kauf nehmen würden?
Straubhaar: Nein. Diese Gefahr existiert ja im Moment auch nicht. Wir sind ja weit, weit davon weg, beim Zustand, den wir am Anfang hatten. Wir haben ja dazugelernt. Noch einmal: Es soll nicht der schwedische Weg sein, der am Anfang oder der englische, der gar nichts tut. Wir sollen das, was wir wissen, umsetzen. Wir sollten in Kauf nehmen, dass wir nicht einen Lockdown der Wirtschaft oder die Isolationsstrategien fahren müssen, deren Folgeeffekte auch für das Gesundheitswesen langfristig viel negativer sind. Noch einmal: Es ist nicht so, dass diese Herdenimmunisierung … wenn ich sage rotes Tuch, dann meine ich den Begriff an sich, weil wir am Anfang … da wäre das ein Fehler gewesen, aber jetzt wissen wir mehr, wir sind weiter. Es ist ja nicht so, dass jetzt die Intensivstationen momentan überlaufen werden, und deshalb ist mehr möglich. Das sollte abgewogen werden, wie weit wir zulassen, dass an der einen oder anderen Stelle Neuinfektionen passieren, weil das gehört ohnehin dazu. Das wird nicht zu vermeiden sein.
Das Prinzip: "vergleichsweise kleiner Eingriff, große Wirkung"
Armbrüster: Aber was spricht denn dagegen, zu sagen, wenn man in einzelnen Städten sieht, da gehen die Zahlen tatsächlich nach oben oder in einzelnen Unternehmen, vielleicht auch in Schulen, dass man dort sagt gezielt, diese Betriebe, diese Bereiche fahren wir runter, alles andere lassen wir unberührt? Was spricht dagegen?
Straubhaar: Genau, da spricht überhaupt nichts dagegen. Das ist ja auch nicht etwas, was ich anzweifele. Ich sage, das, was sich bewährt hat, sollten wir tun. Dort, wo wir mit gezielten Maßnahmen – das ist ja genau das, was ich meine – vergleichsweise kleiner Eingriff, große Wirkung, das soll gemacht werden, aber nicht, dass wir mit großflächigen Maßnahmen versuchen, eine hundertprozentige sozusagen Unterdrückungsstrategie durchzusetzen, sondern dass wir dort, wo es hilft, dort, wo es in kleinen gezielten Maßnahmen möglich ist, viel zu erreichen, natürlich sollen wir das tun. Wir sollen ja das, was wir gelernt haben, jeden Tag neu einsetzen. Mein Plädoyer ist, dass wir das nüchtern tun, dass wir abwägen und nicht eine Einbahnstraßenstrategie fahren, die alles dafür tut, zu unterdrücken dort, wo Unterdrückung gar nicht möglich ist.
"Wir brauchen eine starke Wirtschaft"
Armbrüster: Und ich nehme an, Ihre Sicht ist, das sollte man tun, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Straubhaar: Das sollte man tun, um das alltägliche Leben am Laufen zu halten, weil letztlich geht es ja nicht dagegen, Wirtschaft gegen Gesundheit auszuspielen. Das ist dumm. Wir brauchen eine starke Wirtschaft, gerade um auch ein starkes Gesundheitswesen finanzieren zu können. Wir brauchen eine starke Wirtschaft, um den medizinisch-technologischen Fortschritt zu erwirken, der an vielen, vielen Stellen des alltäglichen Lebens hilft, Menschenleben zu retten, Gesundheit zu verbessern und damit den allgemeinen Lebensbedingungen, den Menschen entgegenzukommen.
Armbrüster: Ganz kurz noch, Herr Straubhaar: Macht die Bundesregierung das gerade falsch?
Straubhaar: Nein, die Bundesregierung macht vieles sehr richtig, indem sie auch ja ganz gezielt jetzt an regionalisierten, spezialisierten Lösungen festhält. Sie sollte jetzt nicht dem Druck nachgeben, wieder flächendeckend von Bundesseite allgemeine Maßnahmen für alle gleichermaßen zu ergreifen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.