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Syrien-Flüchtlinge
"Europa muss mehr tun"

Mehr als 2,5 Millionen Syrer sind auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg seit mehr als drei Jahren - Deutschland nimmt nun weitere 10.000 Flüchtlinge auf. Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius sagte im Deutschlandfunk, "auch die Deutschen sind großzügig".

Boris Pistorius im Gespräch mit Christoph Heinemann | 13.06.2014
    Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD)
    Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD): "Wenn alle so viel täten wie Deutschland, dann gebe es deutlich mehr Menschen, die aus der Region Syrien hier Sicherheit finden." (dpa / Holger Hollemann)
    Den Anrainerstaaten müsse hoher Respekt gezollt werden für die Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge, sagte Pistorius im DLF. Dabei erhielten die Länder auch finanzielle Hilfe aus Europa. "Die Zahl derer, die in der Region bleiben ist naturgemäß höher, und trotzdem ist es richtig: Europa muss mehr tun. Deutschland tut mehr." Die Bundesrepublik habe seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien vor mehr als drei Jahren bereits 40.000 Flüchtlinge aufgenommen, so der SPD-Politiker. "Deutschland macht wesentlich mehr als alle anderen europäischen Mitgliedsstaaten, ausgenommen Schweden. (...) Wenn alle so viel täten wie Deutschland, dann gebe es deutlich mehr Menschen, die aus der Region Syrien hier Sicherheit finden."
    Der Innenminister erwartet außerdem eine nächste Flüchtlingswelle aus dem Irak, nachdem die Regierung um Ministerpräsident Nuri al-Maliki dort immer mehr die Kontrolle verliert. "Man muss sicherlich damit rechnen, dass das unser nächstes Arbeitsfeld wird", sagte Pistorius.

    Das Interview mit Boris Pistorius in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Der Bundes- und die Länderinnenminister beenden heute ihre Beratungen in Bonn. Wenn sich die Ressortchefs treffen, dann arbeiten sie einen umfangreichen Tagesordnungskatalog ab. Die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien stand unter anderem auf dem Programm und die Innenminister beschlossen eine Verdoppelung der bislang zugesagten Plätze, also weitere 10.000. Am Telefon ist jetzt Boris Pistorius (SPD), der Innenminister des Landes Niedersachsen. Guten Morgen.
    Boris Pistorius: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Pistorius, Libanon, Jordanien, Türkei - diese Länder haben Hunderttausende Syrer aufgenommen. Warum sind Libanesen, Jordanier und Türken großzügig und die Deutschen nicht?
    Pistorius: Auch die Deutschen sind großzügig. Aber völlig richtig: Man muss hohe Anerkennung und Respekt dem zollen, was die Anrainerstaaten dort leisten, mit Unterstützung, finanzieller Unterstützung allerdings auch aus Europa. Naturgemäß ist es so, dass die meisten Menschen, die aus ihrem Land fliehen müssen, sich versuchen, in der näheren Nachbarschaft aufzuhalten. Das heißt, die Zahl derer, die in der Region bleiben, ist naturgemäß höher. Und trotzdem ist es richtig: Europa muss mehr tun. Deutschland tut mehr. Ich will mal die Zahl in Erinnerung rufen: Seit Ausbruch des Bürgerkrieges sind fast 40.000 Menschen nach Deutschland gekommen aus Syrien, die hier Zuflucht gefunden haben. 20.000 werden es jetzt insgesamt sein übers Kontingent, das wir beschlossen haben, und als Asylbewerber kommen weitere und über den Familiennachzug haben wir bundesweit noch 60.000 Anträge liegen, die noch bearbeitet werden. Also wir tun schon sehr, sehr viel und wir tun vor allen Dingen extrem viel im Vergleich zu allen europäischen Mitgliedsstaaten.
    Heinemann: Herr Pistorius, kann man von Menschen, die Aleppo oder Homs überlebt haben, verlangen, dass sie Formulare für ein reguläres deutsches Asylverfahren ausfüllen?
    Pistorius: Nein! Deswegen bin ich ja auch der Auffassung, dass es richtig war, dass das Kontingent, ohne dass ein Asylantrag gestellt werden muss, jetzt erhöht wird. Das ist eine gute und richtige Entscheidung. Aber es gibt eben viele Menschen, die sich aus Syrien auf eigene Faust auf den Weg machen, sich nach Europa durchschlagen und dann natürlich einen Asylantrag stellen müssen, um überhaupt irgendwie Zuflucht zu finden. Das ist dann halt nicht zu ändern. Entscheidend ist, dass die Menschen in Sicherheit kommen, und das sind sie, wenn sie nach Europa kommen.
    Heinemann: Kritiker sagen jetzt, eben nur 10.000 mehr. Haben Sie Angst vor Rechtspopulisten?
    Pistorius: Nein. Davor müssen wir keine Angst haben, erstens weil wir eine große Akzeptanz in der Bevölkerung haben, gerade für das Problem und für die Tragödie, die sich in Syrien abspielt, und für die Menschen. Da gibt es große Sympathie und Solidarität. Und ich habe das schon gesagt: Deutschland macht wesentlich mehr als alle anderen europäischen Mitgliedsstaaten, ausgenommen Schweden. Wir sind mit insgesamt 40.000 - es werden mehr werden - ganz vorne weg bei den Europäern. Ich erwarte einfach auch von den anderen europäischen Nationen, dass sie mehr tun. Das muss man sehr deutlich sagen. Wenn alle so viel täten wie Deutschland, dann gäbe es deutlich mehr Menschen, die aus der Region Syrien hier Sicherheit finden könnten. Wir brauchen keine Sorgen uns zu machen um Rechtspopulismus in dieser Frage. Aber wir können nicht alles alleine regeln.
    Heinemann: Sollten Sie gleich sitzen bleiben in Bonn und über die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Irak beraten?
    Pistorius: Man muss sicherlich angesichts der Entwicklung, die sich dort abzeichnet, damit rechnen, dass das unser nächstes Arbeitsfeld werden wird. Ja, das ist wohl so.
    Heinemann: Mit welcher Folge?
    Pistorius: Es wäre jetzt noch zu früh, das zu beurteilen, aber man muss sicherlich damit rechnen, dass sich auch aus dem Irak Menschen in zunehmender Zahl auf den Weg machen werden. Eine weitere Tragödie, eine weitere Folge weltpolitischer Entwicklungen, deren Ursachen teilweise weit zurückliegen.
    Heinemann: Herr Pistorius, ein anderes Thema der Innenministerkonferenz, passend zum internationalen Ereignis jetzt: Gewalttäter, die in und um Sportereignisse herum ihr Unwesen treiben, die sollen härter bestraft werden. Soweit die Absicht. Beschlüsse gibt es aber keine. Warum nicht?
    Pistorius: Weil es nicht darum geht, jetzt Beschlüsse zu fassen auf einer Konferenz, die ja keine unmittelbaren Folgen hätten. Wir müssten Gesetze verändern da, wo notwendig. Wir sind der Auffassung, es geht um Maßnahmen, nicht um Gesetzesverschärfungen. Es geht um Maßnahmen, wie wir derer habhaft werden, die den Fußball bedrohen, die friedliche Fußballfans am Fußballzuschauen behindern und die Fußball nur dazu missbrauchen, um Gewalt zu verüben. Darum geht es. Da sind wir auf einem sehr, sehr guten Weg seit einigen Jahren, gemeinsam mit DFB, DFL und den Vereinen, dem einen Riegel vorzuschieben. Wir haben eine deutlich verbesserte Situation in den Stadien seit einiger Zeit. Zugegeben: Wir haben nach wie vor das Problem mit Bengalos, hoch gefährlich, weit mehr als irgendein Feuerwerksspielzeug, wie das gerne romantisierend erklärt wird. Wir haben aber ein großes Problem auf den Anreisewegen und dabei geht es darum - und darüber werden wir heute diskutieren -, welche Maßnahmen sind geeignet, die Anreisewege zu organisieren, wie können wir bekannte Gewalttäter ausschließen von den Anreisewegen, wie können wir die Ticketvergabe regeln. All das sind die Maßnahmen, über die wir reden, weil es am Ende um eine Sache geht, den Fußball zu schützen und vor allen Dingen diejenigen, die friedlich Fußball sehen wollen.
    Heinemann: Worum geht es Ihnen genau? Welche Maßnahmen meinen Sie?
    Pistorius: Denken Sie daran: Wir haben beispielsweise bei dem Rückspiel Eintracht Braunschweig gegen Hannover 96 ein hoch brisantes Hochrisikospiel mit viel Brisanz drin. Da haben wir die Ticketvergabe in Absprache mit den Vereinen gekoppelt an die Benutzung eines vorgeschriebenen Verkehrsmittels. Das heißt, diejenigen, die ein Ticket gekauft haben, haben es nicht bekommen, sondern haben einen Voucher bekommen, und erst als sie aus dem Bus ausstiegen in Braunschweig am Stadion, haben sie ihre Eintrittskarte bekommen. Das heißt, der Verein hatte die Kontrolle darüber, wer wie nach Braunschweig kommt. Wir mit der Polizei konnten das so organisieren, dass die gewaltbereiten Fans voneinander fern gehalten werden konnten. Es gab keine Konflikte und gleichzeitig konnten alle anderen friedlich zum Stadion kommen und ein Fußballspiel sehen. Das ist ein Beispiel, genauso wie die Frage, ob man gewaltbereite Hooligans, die uns bekannt sind, durch Meldeauflagen davon abhalten kann, zu einem Fußballspiel zu fahren. Das sind die Dinge, die wir verstärkt angehen wollen, ausdrücklich mit der Maßgabe, mit dem Ziel, die friedlichen Fußballfans zu schützen. Uns geht es nicht darum, die Fans pauschal in Haftung zu nehmen.
    Heinemann: Ist klar. Herr Pistorius, die Gewerkschaft der Polizei sagt, es gibt etwa 4.000 Gewalttäter, die von den Vereinen, von den Sozialarbeitern und der Polizei nicht mehr erreicht werden, und die GDP fordert, Maßnahmen genau gegen diese Gruppen müssen vor Beginn der nächsten Fußballsaison ergriffen und beschlossen sein. Können Sie Ihren Polizistinnen und Polizisten das verbindlich zusagen?
    Pistorius: Nein, das können wir nicht verbindlich zusagen, weil wir es hier mit vielen Akteuren zu tun haben. Wir haben es mit der Polizei zu tun, wir haben es mit Kommunen zu tun, mit Vereinen, wir haben es mit Anreisewegen zu tun. Das Problem liegt ja darin, dass es unter diesen Hooligans, unter diesen Gewalttätern welche gibt, denen es schon lange nicht mehr um Fußball geht, sondern die den Anreiseweg gezielt dafür nutzen, Gewalt auszuüben. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam durch die entsprechenden taktischen Maßnahmen im Vorfeld dafür Sorge zu tragen, dass sie auf diesen Weg nicht kommen, oder auf dem Weg so engmaschig kontrolliert und begleitet werden, dass es nicht zu dieser Gewalt kommt, die wir dort kennen. Es gibt keine Garantie dafür, 4000 Menschen übers Bundesgebiet verteilt jeweils an den entsprechenden Spieltagen in Schach zu halten.
    Heinemann: Herr Pistorius, das ist doch alles nicht neu. Warum dauert das so lange?
    Pistorius: Na ja, wir können ja nun nicht feststellen, dass wir noch nichts erreicht haben. Wir haben ja eine ganze Menge erreicht. Aber es ist eben in der Tat so, dass wir es mit vielen, vielen Akteuren zu tun haben, und die Tatsache ist nicht so, dass wir einfach sagen können, wir haben jetzt diese eine Gruppe und wir haben die andere Gruppe. Wir müssen als Polizei, als Politik sehen, dass wir über die Fans, auch über die friedlichen Fans eine Entsolidarisierung erreichen. Wir brauchen eine Distanzierung. Aber wir brauchen vor allen Dingen schnellere Bestrafung. Das ist auch ein Thema hier. Wir brauchen schnellere Bestrafung für diejenigen, die wir erwischen, damit klar ist, dass das nicht sanktionsfrei bleibt. Aber das sind alles Prozesse, an denen wir seit Jahren arbeiten und wo sich nicht von heute auf morgen per Umlegen eines Schalters ein Ergebnis erzielen lässt.
    Heinemann: Boris Pistorius (SPD), der Innenminister des Landes Niedersachsen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Pistorius: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.