Samstag, 27. April 2024

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Perspektiven für die Ukraine
Ringen um Deeskalation im Donbass

Neue Gespräche unter anderem zwischen Moskau und Washington sollen klären, wie sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine entschärfen lässt. Großer Streitpunkt für Kiew ist das Minsker Abkommen, denn es enthält innenpolitisch schwierige Punkte.

Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke | 09.01.2022
Der russische Präsident Vladimir Putin sitzt an einem langen, mächtigen Tisch und schaut auf einen Bildschirm, auf dem der amerikanische Präsident Joe Biden zu sehen ist.
Die ersten bilateralen Videocalls zwischen den Präsidenten Russlands und er USA im Dezember haben keinen Durchbruch gebracht, nun steht ein Treffen hochrangiger US- und Kreml-Vertreter in Genf an. (imago / ITAR-TASS / Mikhail Metzel)
Die Industriestadt Sewerodonezk, etwa 30 Kilometer vom Kriegsgebiet im Donbass entfernt, auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Viele Gebäude sind verfallen, die Grünflächen ungepflegt, auf den Straßen fahren wenige und vor allem alte Autos. Abends sind viele Fenster dunkel, viele Leute sind fort, sind auf der Suche nach Arbeit weiter in den Westen des Landes oder ins Ausland gegangen. Die Front des seit 2014 laufenden Krieges zwischen ukrainischen Truppen und von Russland unterstützten sogenannten Separatisten ist mehr als 400 Kilometer lang, mehr als 13.000 Menschen sind bisher ums Leben gekommen.

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Sewerodonezk ist eine sogenannte Monostadt, gebaut in den 50er-Jahren für die Arbeiter eines Chemiewerks. Das hat seine beste Zeit längst hinter sich, wie die ganze Stadt. Iryna ist 2014 aus Luhansk nach Sewerodonezk geflüchtet. Es ist nicht ihr richtiger Name, sie hat Angst um ihre Eltern, die noch in Luhansk leben, auf der anderen Seite der Kontaktlinie, auf von Russland kontrolliertem Gebiet. Iryna fürchtet, dass sie Schwierigkeiten bekommen, wenn sie ein Interview gibt. Im Sommer war Iryna zu Besuch in Luhansk.
„Als ich ein kleines Kind war, spielten die Jungs auf der Straße 'Rote gegen Faschisten'. Jetzt spielen sie 'Wir gegen die Dillköpfe'.“ Ukropy, Dillköpfe - das ist eine in Russland verbreitete verächtliche Verballhornung der Ukrainer. „Die Informationspolitik Russlands auf der anderen Seite der Kontaktlinie zielt darauf ab, Aggression gegen uns Ukrainer zu schüren. Die Leute dort schauen russische Fernsehsender und betrachten uns als ihre Feinde.“
Iryna macht das Angst. Aber noch mehr Angst macht ihr der Truppenaufmarsch jenseits der russischen Grenze. Nach Angaben westlicher Geheimdienste hat Russland dort etwa 100.000 gefechtsbereite Soldaten, Panzer, Artillerie, Drohnen etc. zusammengezogen. Iryna bereitet sich auf das Schlimmste vor, einen russischen Einmarsch. Im Internet hat sie recherchiert, was in einen Notfallkoffer gehört, für den Fall, schnell fliehen zu müssen.
Karte zeigt die Ostukraine mit dem von Separatisten kontrolliertem Gebiet und der Minsker Sicherheitszone
Ostukraine mit dem von Separatisten kontrolliertem Gebiet und der Minsker Sicherheitszone (dpa-infografik / Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
„Vor allen Dingen alle nötigen Papiere, dann warme Kleidung zum Wechseln, Medikamente und unverderbliche Lebensmittel wie Cracker, Wasser, Konserven für mindestens eine Woche. 2014 hatten wir so etwas schon mal, mit dem Unterschied, dass ich mir damals ganz sicher war, dass es niemals passieren würde. Aber dann wurde es doch ernst und ich musste Luhansk verlassen.“
Ihre Tochter ist im Teenageralter. Mit ihr redet sie über die fragile Lage: „2014 hat sie auch schon alles begriffen. Sie weiß, was passieren kann. Aber ihr Optimismus stützt mich. Sie sagt: 'Mama, man muss im Jetzt leben, es wird schon alles gut, du machst dir unnötig Sorgen.'“

"Im Osten sind mehr Leute loyal zu Russland eingestellt"

Trotz des massiven Truppenaufmarsches und des bald acht Jahre dauernden Krieges sei diese Haltung weit verbreitet, sagt der Soziologe Denys Kobzin vom Institut für Sozialforschung in Charkiw: „Der Krieg ist zwar das Thema Nummer eins, aber es steigt die Zahl der Leute, deren Interesse an ihm sinkt. Das variiert von Region zu Region.“
Repräsentative Umfragen kann Kobzin nur auf dem von der Ukraine kontrollierten Gebiet durchführen. Für den nicht besetzten Teil des Donbass hat er Erstaunliches herausgefunden: „Im Gebiet Donezk zum Beispiel habe ich mich gewundert. Dort haben bis zu 30 Prozent der Menschen aufgehört, sich überhaupt für den Konflikt zu interessieren. Es wächst eine junge Generation heran, für die der Krieg bereits ein natürlicher Bestandteil ihres Lebens ist. Sie sind mit ihm großgeworden, sie haben sich an ihn gewöhnt."
Im Osten der Ukraine habe etwa jeder Dritte Angst vor einem erneuten Einmarsch Russlands; im Landesdurchschnitt dagegen sei es mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Kobzin spricht von einem Paradoxon:
„Je weiter wir vom Osten des Landes Richtung Westen gehen, desto stärker wird Russland als Feind gesehen. Das hat historische Gründe. Der Westen des Landes gehörte nicht zum zaristischen Russland und bis zum Zweiten Weltkrieg auch nicht zur Sowjetunion. Im Osten dagegen ist alles stärker vermischt, und viele Leute identifizieren sich noch mit der UdSSR, haben diese Vorstellung von den Bruderrepubliken. Deshalb sind im Osten mehr Leute loyal zu Russland eingestellt.“
Ältere Frauen mit Einkaufstaschen gehen auf einer Dorfstraße an zwei Soldaten in Tarnanzügen vorbei, ohne diesen Beachtung zu schenken.
Der Anblick von Soldaten gehört für Menschen in der Ostukraine längst zur Normalität. Viele geben in Umfragen an, sich nicht mehr für den Krieg zu interessieren. (imago images / ZUMA Wire / Andriy Andriyenko)

Internationale Gespräche zum Ukraine-Konflikt im Januar 2022

  • 9.1. USA und Russland sprechen in Genf
  • 12.1. Nato-Russland-Rat tagt
  • 13.1. Konsultationen zwischen Moskau und der OSZE
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat sich in seiner Neujahrsansprache zur neuerlichen Bedrohung aus Russland geäußert und sich bemüht, die Bevölkerung zu einen:
„Man hat versucht, uns aus dem Ausland einzuschüchtern. Aber keine Armee auf der anderen Seite der Grenze macht uns Angst, denn die außergewöhnliche Armee auf unserer Seite der Grenze schützt uns. Ich bin froh, dass unsere Armee heute über das größte Budget in der Geschichte der Ukraine verfügt. Ich bin froh, dass wir zum ersten Mal Militärflugzeuge bauen, dass wir die Marineflotte gemeinsam mit Großbritannien erweitern, dass uns bei Drohnen und Kriegsschiffen die Türkei hilft, und dass wir Raketen selbst bauen.“
Unter anderem um einen weiteren Angriff Russlands auf die Ukraine zu verhindern, werden diese Woche weitere Gespräche auf internationaler Ebene geführt. Vorausgegangen waren unter anderem zwei Telefonate zwischen US-Präsident Joe Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin - eines Mitte Dezember, eines Ende Dezember.
Aus dem Weißen Haus hieß es nach dem zweiten Gespräch: „Präsident Biden machte deutlich, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten und Partner entschlossen reagieren werden, wenn Russland weiter in die Ukraine eindringt.“ Welche Maßnahmen das genau sein können, ist nicht bekannt. Immer wieder ist die Rede davon, Russland vom internationalen Banken-Zahlungssystem Swift auszuschließen und die Gaspipeline Nordstream 2 nicht in Betrieb zu nehmen.

"Die Ukraine wird im Verhandlungsprozess nicht ignoriert"

In der Ukraine sorgt man sich vor allem, Biden könnte mit Putin über die Köpfe der Ukrainer hinweg entscheiden. Biden ließ allerdings mitteilen, es gelte das Prinzip „Nichts über euch ohne euch“. Also: Keine Beschlüsse die Ukraine betreffend ohne Beteiligung der Ukrainer.
Das versicherte der US-Präsident auch dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einem Telefongespräch. Selenskyj kommentierte das Gespräch mit Biden anschließend via Twitter: „Das erste internationale Gespräch des Jahres beweist den besonderen Charakter unserer Beziehungen. (…) Wir schätzen die unbeugsame Unterstützung.“ Einige Beobachter fürchten trotzdem, die Ukraine könnte bei den Verhandlungen unter den Tisch fallen.
Der Leiter des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta, Wolodymyr Fessenko, teilt diese Befürchtung nicht. Der Kiewer Politologe spricht von einer „systematischen Zusammenarbeit“ zwischen den USA und der Ukraine:
„Vor dem Gespräch Mitte Dezember zwischen Biden und Putin hat der US-Außenminister den Präsidenten der Ukraine angerufen und mit ihm besprochen, worum es gehen wird. Die ukrainische Position wurde berücksichtigt. Anschließend gab es Gespräche zwischen dem ukrainischen und dem US-Präsidenten. Und die waren lang, nur eine halbe Stunde kürzer als die zwischen Biden und Putin. Die Ukraine ist informiert, man berät sich mit der Ukraine, die Ukraine wird im Verhandlungsprozess nicht ignoriert.“
Vollmer (Grüne): Gemeinsamen Perspektiven in den Vordergrund stellen (9.1.2022)
Die russische Führung hat im Vorfeld der kommenden Gespräche Forderungen gestellt. Russland fühle sich bedroht von der NATO und der Ukraine, heißt es aus Moskau. Nun möchte Russland eine schriftliche Zusage der NATO, dass die Ukraine niemals Mitglied des Bündnisses wird. Fessenko sieht diese Forderungen gelassen:
„Ich bezweifle, dass der Westen, die USA und die NATO öffentlich erklären: 'Die Ukraine wird niemals NATO-Mitglied'. Das sähe wie eine Niederlage und wie eine Demütigung Bidens aus, und das kann er zurzeit ganz und gar nicht brauchen. Er steckt auch so in einer komplizierten Lage. Außerdem wäre es eine Demütigung europäischer Politiker. Offizielle Verhandlungen über einen NATO-Beitritt der Ukraine werden ja derzeit ohnehin nicht geführt.“

Streitpunkt Minsker Abkommen

Von daher, so Fessenko, sei in dem Punkt wohl kaum etwas Neues zu erwarten. „Ein viel größeres Risiko für die Ukraine besteht darin, dass die USA und die europäischen Verhandlungsteilnehmer sich darauf einigen, die Umsetzung des Minsker Abkommens maximal zu beschleunigen. Das ist das einzige direkte Risiko für uns, denn das kann die innenpolitische Situation erschweren und wird kaum erfüllbar sein.“
Das Abkommen von Minsk soll den Krieg im Osten der Ukraine befrieden und eine politische Lösung des Konflikts herbeiführen. 2015 wurde es unter Druck geschlossen, vermittelt von Deutschland und Frankreich. Um dem Vormarsch der Russen Einhalt zu gebieten, ließ sich der damalige Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, auf Punkte ein, die in der Ukraine äußerst unbeliebt und nicht mehrheitsfähig sind.
Das sind vor allem ein in der ukrainischen Verfassung festgeschriebener Autonomiestatus für die sich selbst als Volksrepubliken bezeichnenden und von Russland kontrollierten Gebiete Luhansk und Donezk sowie Lokalwahlen dort. Für die Bevölkerung sind diese Punkte unannehmbar, insbesondere solange sie nicht die Kontrolle über die Grenze zwischen den besetzten Gebieten und Russland zurückerlangt. Der gleichfalls im Minsker Abkommen vereinbarte Waffenstillstand wurde umgehend gebrochen, bereits drei Tage nach Unterzeichnung eroberten russische Kämpfer den Ort Debalzewe.
Trotz des offensichtlichen und frühen Scheiterns der Vereinbarung betonen viele, dass es keine Alternative zu dem Abkommen gebe. Auch US-Präsident Joe Biden habe sich im Telefongespräch mit Putin Ende des Jahres, so eine Erklärung der US-Regierung, für die Umsetzung des Minsk-Abkommens ausgesprochen. Sollten die USA auf Russlands Forderungen eingehen und die Umsetzung des Minsker Abkommens in der jetzigen Form verlangen, wäre das fatal, meint der Kiewer Politologe Fessenko. Selenskyj stünde als Verräter da, würde er einwilligen.
„Stellen wir uns vor, im Januar oder Februar ruft Biden Selenskyj an und sagt ihm: ‘Sie wollen doch keinen Krieg. Sie müssen das Minsker Abkommen umsetzen und Lokalwahlen zustimmen.‘ Selenskyj hat zwar formal große Macht, er hat die Mehrheit im Parlament und kontrolliert die Regierung. Aber wenn er morgen im Parlament vorschlägt: Lasst uns den Wahlen im Donbass zustimmen und das Minsker Abkommen umsetzen - was dann? Selenskyj weiß das sehr wohl: Dann gehen am nächsten Tag mindestens Tausende zu Protesten in Kiew auf die Straße, vielleicht auch einige zigtausend.“

"Wir müssen über eine realistischere Fassung des Minsker Abkommens verhandeln"

Mit so einem Vorhaben, ist bereits Selenskyjs Vorgänger Poroschenko im Sommer 2015 gescheitert. Nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens, legte er dem Parlament einen Antrag vor, die Verfassung so zu ändern, dass Bezirke, Kreise und Städte mehr Macht bekommen. Davon hätten auch die besetzten Gebiete profitiert. Prompt protestierten Tausende vor dem Parlament. Drei Menschen starben. Die Verfassungsänderung wurde auf Eis gelegt.
Politologe Fessenko: „Heute ist die Lage so: Wir müssen über eine realistischere Fassung des Minsker Abkommens verhandeln, der Russland zustimmt, die aber auch für die Ukraine akzeptabel ist. Deutschland, Frankreich und die USA könnten helfen, so einen Kompromiss zu finden. Klappt das nicht, sollten wir eine Verhandlungspause einlegen und uns zumindest auf einen nachhaltigen Waffenstillstand einigen. Mindestens für ein Jahr.“
Der Politologe rechnet damit, dass Putin, sollten die Gespräche in dieser Woche mit den USA, der NATO und der OSZE nicht zu seiner Zufriedenheit laufen, durchaus weiter eskalieren könnte:
„Ich erwarte keinen großen Krieg, und die meisten anderen Experten in der Ukraine tun das auch nicht. Aber es gibt das Risiko lokaler militärischer Operationen: einer Zuspitzung der Kämpfe im Donbass mit dem Versuch, zum Beispiel Mariupol einzunehmen und die Küste des Asowschen Meeres. Ein großer Krieg dagegen wäre zwar möglich, aber dafür braucht selbst Russland noch weitere militärische Ressourcen.“
Mariupol ist eine für den Donbass wichtige Hafen- und Industriestadt.

Flieger-Abwehrsysteme der Ukraine noch aus der Sowjetunion

Die Ukraine sei auf kleine, lokal begrenzte Angriffe besser vorbereitet als 2014, sagt Gustav Gressel, Sicherheits- und Osteuropaexperte am European Council on Foreign Relations:
„Vor allem die Landstreitkräfte haben seit 2014 große Fortschritte gemacht, was den Ausbildungsstand angeht, was die Bereitschaft angeht, was die Verwendungsfähigkeit des Materials angeht, auch taktisch haben sie im Zusammenspiel der einzelnen Waffengattungen und in ihrem Verhalten auf dem Gefechtsfeld schon enorm viel dazugelernt.“
Außerdem sei das ukrainische Militär auch dank der Lieferung von Waffen und weiterer Ausrüstung aus dem Westen wie Panzerabwehr-Lenkwaffen, Scharfschützengewehre und Kommunikationstechnik besser vorbereitet, erläutert Gressel. Im Fall einer großangelegten Invasion bleibe aber ein großer Schwachpunkt, erklärt der Experte: die Luftabwehr.
„Die ukrainische Luftwaffe war jetzt immer das Stiefkind aller militärischen Modernisierungen, weil es im Donbass-Krieg nicht gebraucht wurde. Die Flieger-Abwehrsysteme sind ja alle noch aus der Sowjetunion. Also da hat Russland natürlich genaue Kenntnisse über die Systeme, ihre Frequenzen. Und das gäbe der russischen Luftwaffe natürlich im Kriegsfall relativ viel Handlungsfreiheit.

Und mit dieser Handlungsfreiheit kann sie natürlich dann auch am Boden zumindest operative Bewegungen wahrscheinlich relativ gut unterbinden und die Koordination der Kriegsführung auf der ukrainischen Seite ziemlich unmöglich machen. Das heißt nicht, dass die Ukraine dann sozusagen kampflos das Handtuch wirft.“
Ein Ukrainer beobachtet durch ein Fernrohr die Frontlinie zu Russland in der Nähe von Pesky, Donetsk am 14. Dezember 2021.
Dezember 2021: Ein ukrainischer Soldat beobachtet die Frontline zu Russland in der Nähe von Pesky, Donezk (AFP / Anatolii Stepanov)
Die Ukraine setze darauf, den Preis für Russland hochzutreiben, erläutert Gressel. Dabei könne sie auch auf die Bereitschaft der Zivilbevölkerung setzen. Umfragen bestätigen das. Der Soziologe Denys Kobzin aus Charkiw verweist auf eine Studie des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew:
„Der Studie zufolge ist, bezogen auf das ganze Land, jeder zweite Ukrainer bereit, bewaffnet Widerstand gegen die Besatzung durch Russland zu leisten. Im Osten sind die Zahlen niedriger, dort sind es 37,2 Prozent. Dazu kommen noch diejenigen, die bereit sind, zivilen Widerstand zu leisten, an Protesten teilzunehmen und dergleichen: Das sind bezogen auf das gesamte Land 33 Prozent, im Osten sind das 25,6 Prozent.“

"Ich bin überzeugt, dass es mit jeder Wahl besser wird"

Der Angriff auf das Land 2014 prägt die ukrainische Identität. Es gehe den Menschen um Freiheit und auch um Reformen und Demokratie, meint Gressel:
„Die Leute sind mit Selenskyj enorm unzufrieden, das stimmt. Das heißt aber nicht, dass sie jetzt sozusagen sich Putin herbeisehnen. Die Ukrainer schätzen ihr Recht, sich einen Präsidenten selber auswählen zu können, enorm hoch. Auch wenn sie dann der Meinung sind, dass dieser Präsident ein Volltrottel ist. Sie wollen den nächsten auch selber auswählen, auch vor dem Risiko hin, dass das auch ein nicht so glücklicher Handgriff sein wird. Das wollen sie noch mal selber ausprobieren und noch mal. Und das ist Teil ihrer Identität geworden.“
Ähnlich sieht es auch Iryna, die 2014 aus Luhansk nach Sewerodonezk geflohen ist:
„Trotz aller Schwierigkeiten hier bei uns in der Ukraine, obwohl wir wohl nicht die erfolgreichste Regierung gewählt haben, sind wir auf einem demokratischen Weg. Ich bin überzeugt, dass es mit jeder Wahl besser und besser wird. Das einzige, was wir wollen, ist, in einem freien demokratischen Land zu leben und unser Land selbst zu gestalten und unsere Regierung auf demokratische Weise abzulösen ohne Einmischung von außen.“

Die Notfallkoffer sind gepackt

Doch so einfach ist es nicht. Jeder Fünfte im Osten hege große Sympathien für Russland, einige von ihnen sogar für Putin, erläutert Denys Kobzin vom Institut für Sozialforschung in Charkiw: „Selbst wenn sie anerkennen, dass Russland Krieg führt, finden sie trotzdem, dass die Ukraine daran schuld ist, denn sie sind überzeugt, dass Russland niemals sein Brudervolk überfallen würde.“
In Sewerodonezk lebt auch Marina Tereschenko. Sie ist Journalistin, arbeitet für Svoi City, ein Online-Portal, das für und über Binnenvertriebene schreibt. Sie leidet unter der Einstellung vieler Menschen in der Region: „Sewerodonezk wird auch Separa-Donezk genannt - vom Wort Separatisten. Die Menschen hier sind prorussisch eingestellt, und sie waren immer prorussisch.“
Wie Iryna ist auch Marina Tereschenko 2014 aus Luhansk nach Sewerodonezk geflohen. Und auch sie hat einen Notfall-Koffer gepackt, denn sie ist überzeugt, im Zweifelsfall werde Russland nichts aufhalten: „Nichts. 2014 hat Russland auch nichts aufgehalten.“