Bei wichtigen Entscheidungen in der Europäischen Union ist die Einstimmigkeit der Mitgliedsländer gefordert. Nahezu jedes Mal, wenn eine dieser Entscheidungen blockiert wird, ist Ungarn beteiligt. Ministerpräsident Viktor Orbán handelt nach dem Prinzip "Ungarn first" und ist mit seinem autoritären Politikstil vor allem auf seinen eigenen Machtausbau bedacht. Vorgaben aus Brüssel will er da kaum akzeptieren - EU-Fördergelder dagegen schon.
Warum wird Viktor Orbáns Regierung als autoritär bezeichnet?
Viktor Orbán hat in Ungarn eine Machtfülle erreicht, die für EU-Verhältnisse ungewöhnlich groß ist. Er war bereits von 1998 bis 2002 ungarischer Regierungschef und ist es seit 2010 ohne Unterbrechung. Mit seiner Fidesz-Partei gewann er vier Parlamentswahlen in Folge, zuletzt im April 2022, und baut seine Macht immer weiter aus. Zwar holte er immer nur knapp mehr als 50 Prozent der Stimmen, zweimal lag er sogar knapp darunter. Doch jedes Mal konnte er sich eine Zweidrittelmehrheit der Mandate sichern und damit die Möglichkeit, im Alleingang Verfassungsänderungen durchzusetzen.
Der Grund dafür liegt im ungarischen Wahlsystem begründet, das Orbán zu Gunsten siner Fidesz-Partei noch ein Stück weit umgestaltete. So setzte er durch, dass die Stimmen auf dem Land, wo er beliebter ist als in den Metropolen, mehr Gewicht haben. Dies gelang durch eine deutliche Verringerung der Sitze im Parlament und veränderte Zuschnitte der Wahlkreise. In Ungarn dominiert das Mehrheitswahlrecht. Das bedeutet, dass die meisten Abgeordneten über Direktmandate aus den Wahlkreisen ins Parlament einziehen. Das prozentuale Verhältnis der Parteien spielt hingegen eine untergeordnete Rolle.
2014 hatte Orbán die Chuzpe, sich damit zu brüsten, eine „illiberale Demokratie“ in Ungarn aufgebaut zu haben. Er stellte das als ein gutes System dar, das den angeblich schlecht funktionierenden liberalen Demokratien in Europa überlegen sei. Das illiberale Orbánsche System geht jedoch einher mit einer Aushöhlung des Rechtsstaats, der systematischen Zerschlagung kritischer Medien, der Gängelung der Zivilgesellschaft, der maßlose Bereicherung von Orbán und seinen Angehörigen und Hetze gegen Regierungskritiker, Migranten und sexuelle Minderheiten.
Dass der Ministerpräsident in Ungarn dennoch nicht unbeliebt ist, liegt auch daran, dass es vor Orbán eine Zeit des politischen Stillstands und eine Wirtschaftskrise gab und die sozialliberale Vorgängerregierung verhasst war. Orbán spricht immer wieder den Stolz der Ungarn an und schafft Feindbilder, die verfangen. Zumal Orbán die Medien dominiert und seine politischen Gegner dort kaum Gehör finden.
Welche Rolle spielt Viktor Orbán in der EU?
Ungarn ist bereits seit 2004 Mitglied in der Europäischen Union. Die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 war für viele Beobachter der Moment, den Orbán nutzte, um als Akteur auf der europäischen Bühne in Erscheinung zu treten. Er wurde zum Gegenspieler von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Slogan „Wir schaffen das“. Orbán war derjenige, der am lautesten dagegen opponierte. Er wurde der Hardliner in Europa, der starke Mann, der die Gruppe der Staaten anführte, die sich für Grenzschließungen und gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aussprachen. Die Bevölkerung hatte Orbán damals hinter sich, denn die Menschen in Ungarn waren Zuwanderung aus arabischen und afrikanischen Ländern oder aus Afghanistan nicht gewöhnt. Der Ausländeranteil liegt in Ungarn bei etwa zwei Prozent. Viele Jahre kamen die meisten Migrantinnen und Migranten aus dem Nachbarland Rumänien.
Der Mehrheit der EU-Vertreter wurde schon früh klar, dass sie mit dem Rechtspopulisten Orbán den bösen Buben in ihren Reihen haben. Orbán konnte mit den Werten der EU und den Vorgaben aus Brüssel wenig anfangen. „Die Geschichte der Beziehungen zwischen der Orbán-Regierung und der Europäischen Union ähnelt einem Trauerspiel. In den Auseinandersetzungen mit den EU-Institutionen und mit Kritikern verwendet Orbán stets die Sprache des Krieges“, schreibt der renommierte ungarisch-österreichische Publizist Paul Lendvai in seinem Buch „Orbáns Ungarn“. „Er spricht ausschließlich von Feinden.“
Der ehemalige Präsident des EU-Parlaments und spätere SPD-Kanzlerkandidat, Martin Schulz, sagte, Ungarn sei „formal eine Demokratie, in der Verfassungswirklichkeit aber ein autoritärer Staat“. Orbán wisse, dass er sich auf der EU-Ebene alles erlauben könne und er mache, was er wolle, so Schulz. Legendär wurde eine Szene, in der Ex-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Orbán begrüßte. „Der Diktator kommt“, sagte Juncker schmunzelnd, als der ungarische Premier auf ihn zulief. Dann hob er die Hand, rief Orbán „Diktator!“ zu und reichte sie ihm. Orban wurde nicht etwa böse, sondern feixte mit Juncker herum. Orbán - der Quasi-„Diktator“, der einfach dazugehört, den man zwar ächtet, aber an den man sich auch irgendwie gewöhnt hat.
Ungarn ist in Europa auch nicht wirklich isoliert. Ein gutes Verhältnis besteht unter anderem zu Österreich. Dem ehemaligen ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz wurde immer wieder nachgesagt, Orbán sei sein Vorbild gewesen bei seinem Versuch, die österreichischen Medien und die Justiz für sich zu vereinnahmen. Auch der autoritäre ehemalige slowenische Ministerpräsident Janez Jansa war ein Orbán-Bewunderer. Gute Kontakte hat Ungarn zu Serbien, Tschechien, der Slowakei und es gab sie auch zum ehemaligen bulgarischen Regierungschef Bojko Borissow, der Anfang Oktober die Parlamentswahlen in Bulgarien gewonnen hat, mit dem aber aktuell niemand koalieren möchte, weil ihm Korruption vorgeworfen wird. Das Verhältnis zu Polen ist hingegen etwas abgekühlt, weil Polen Russland als Feind ansieht. Für Orbán ist der russische Präsident Wladimir Putin jedoch Freund und Partner. Ungarn möchte vor allem weiter von Russland Öl und Gas beziehen.
Auch in Deutschland wurde Orbán immer wieder freundlich empfangen, vor allem von der ehemaligen CDU-Kanzlerin Angela Merkel und vom ehemaligen bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer. In Ungarn gibt es einen bekannten Spruch: „Deutschland hat drei Gründe dafür, dass man zu Orbán nicht so streng ist: Audi, Mercedes und BMW.“ Ungarn ist ein wichtiger günstiger Produktionsstandort der deutschen Autoindustrie.
Wieso blockiert Ungarn so häufig EU-Entscheidungen?
Beispielhaft für Orbáns Umgang mit seinen EU-Partnern war der Sondergipfel in Brüssel im Juli 2020, bei dem der Corona-Aufbaufonds und das EU-Budget für die kommenden sieben Jahre beschlossen werden sollten. Die Auszahlung der Gelder sollte damals an die Bedingung geknüpft werden, dass in den Mitgliedsländern Rechtsstaatlichkeit und demokratische Standards eingehalten werden.
Für Orbán war von Anfang an klar, dass er diese Klausel unbedingt verhindern musste. Dabei nutzte er es aus, dass die Entscheidung einstimmig gefällt werden musste und erpresste seine Partner - ein Muster, das immer wieder auffällt und häufig von Erfolg gekrönt ist: Orbán drohte die Verhandlungen über den Corona-Wiederaufbaufonds, auf den vor allem Italien angewiesen war, zu blockieren. Am Ende flossen die Gelder, weil Orbán bekam, was er wollte: Die Forderungen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wurden stark verwässert. Der ungarische Ministerpräsident stellte sich daraufhin vor die Kameras und verkündete: „Wir haben nicht nur viel Geld rausgeholt, sondern auch den Stolz unserer Nationen verteidigt.“
Verteidigt hatte Orbán damit aber vor allem eines: seine ungeheure Machtfülle in Ungarn. Sie wurde nicht angetastet. Wenn es nach Orbán ginge, dann gäbe es eine „EU der Nationen“, einen losen Staatenbund ohne Vorgaben aus Brüssel und ohne fortschreitende politische Integration. Für Orban gilt „Ungarn first“ und damit meint er auch immer seinen eigenen Machterhalt.
Ungarn ist allerdings in der EU eindeutig ein Nehmerland. Der Netto-Empfang lag 2021 bei 5,97 Milliarden Euro, abgeben an den EU-Haushalt musste Ungarn 1,67 Milliarden. Ohne die EU-Mitgliedschaft würden die wirtschaftliche und auch die politische Bedeutung Ungarns enorm schrumpfen.
Wieviel Geld bekommt Ungarn von der EU?
Daher sind es manchmal handfeste finanzielle Interessen, die Orbán dazu bewegen, EU-Entscheidungen zu verhindern. So war es laut Beobachtern auch bei seiner Blockade des Öl-Embargos gegen Russland. Ungarn gab an, zu abhängig von der Versorgung mit russischem Öl über die Druschba-Pipeline zu sein, wollte dann allerdings auch nicht mitgehen, als ein reines Tankschiff-Embargo gegen Russland vorgeschlagen wurde. EU-Diplomaten vermuteten dahinter den Versuch Orbáns, höhere EU-Zuschüsse für den Ausbau anderer Öl-Pipelines zu erpressen. Von besonderem Interesse für Ungarn ist dabei der Ausbau der Adria-Pipeline über Kroatien.
Auch im Fall der ungarischen Blockade eines globalen Steuersatzes von mindestens 15 Prozent wurde Orbán Erpressung vorgeworfen. Mit dem Mindestsatz sollen Steueroasen ausgetrocknet werden, vor allem für globale Großkonzerne wie Google. Anfangs ging Ungarn mit, doch dann gab es vor der Unterzeichnung des Abkommens ein Veto, mit der Begründung, dass die europäische Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr sei. Kritiker sahen hier einen erneuten Versuch Orbáns, die EU-Kommission zu erpressen, damit sie Ungarn im Streit um die Rechtsstaatlichkeit mehr durchgehen lässt.
Wie reagieren die EU-Institutionen auf Orbáns Verhalten?
Der Rechtsstaatsmechanismus, den Orbán einst zu verhindern versuchte und letztlich zumindest abschwächen konnte, wird inzwischen gegen Ungarn angewandt. Erstmals in der Geschichte der EU sollen einem Mitgliedsland die Fördergelder gekürzt werden: Die EU-Kommission schlägt vor, Ungarn wegen Korruption 7,5 Milliarden Euro nicht auszuzahlen.
Der Rechtsstaatsmechanismus zielt allerdings ausschließlich auf die missbräuchliche Verwendung von EU-Geldern ab. Er ist eben kein Instrument geworden, mit dem die Europäische Union Ungarn sanktionieren könnte, weil die Regierung die Medien gängelt oder Minderheitenrechte aushöhlt. Zum Schutz der Grundwerte der EU gibt es das sogenannte Artikel-7-Verfahren. Es kann theoretisch zum Entzug des Stimmrechts im EU-Rat führen, was einem politischen Rauswurf aus der Union gleichkäme. Auch dafür ist allerdings Einstimmigkeit innerhalb der Mitgliedsstaaten notwendig. Bislang haben Polen und Ungarn derartige Schritte blockiert.
Verschiedene EU-Parlamentarier wie etwa Katarina Barley (SPD) oder auch Manfred Weber (CSU) haben angesichts der Orbánschen Blockadehaltung bei den Sanktionen gegen Russland eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip in der EU gefordert. Allerdings: Auch die Abschaffung der Einstimmigkeit kann nur einstimmig beschlossen werden.
Quelle: Oliver Soos, Nina Voigt