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Suizid vor 175 Jahren
Friedrich List und seine Vision von zollfreiem Handel

Der Wirtschaftsjournalist und Unternehmer Friedrich List war Vordenker der deutschen Zollunion im 19. Jahrhundert, ein origineller Ökonom seiner Generation und international berühmt. In seiner deutschen Heimat hatte es der Demokrat schwer: Heute vor 175 Jahren nahm sich Friedrich List das Leben.

Von Bert Oliver Manig | 30.11.2021
Friedrich List Gedenkmedaille
Eine Gedenkmedaille für den Wirtschaftstheoretiker Friedrich List auf deren Rückseite auch an dessen Geburtsstadt Reutlingen erinnert wird. (Aufnahme vom 02.07.1964) (picture alliance / dpa)
„Da lebt in Deutschland ein Mann ohne öffentliches Amt, Titel oder Reichtum, der durch seinen Patriotismus und seine Begabung trotzdem zu einer wirklichen Macht im Land geworden ist.“
Der französische Ökonom Henri Richelot wunderte sich 1845 darüber, dass sein berühmter Kollege Friedrich List ein bescheidenes Leben als freier Publizist fristen musste. Ein Jahr später erkannte man auch in seiner Heimat, wie prekär Lists Existenz trotz seines enormen Fleißes als Journalist und Herausgeber der ersten deutschen Wirtschaftszeitung war: Am 30. November 1846 nahm sich Friedrich List das Leben. Nach einem Zerwürfnis mit seinem Verleger hatte ihn die Aussicht, seiner Familie zur Last zu fallen, zum Äußersten getrieben.

Selbst seine Freunde hatten nicht bemerkt, dass die Schwermut den beleibten kleinen Mann befallen hatte, der eigentlich stets Heiterkeit verbreitete. Lists quirliger Enthusiasmus steckte an, sein spöttischer Humor arbeitete pausenlos. Seine Tischmanieren waren berüchtigt, überhaupt nahm er wenig Rücksicht auf gesellschaftliche Etikette.

Der im Revolutionsjahr 1789 in Reutlingen geborene Sohn eines Weißgerbers war kein geschmeidiger Mensch. Theodor Heuss schrieb über seinen schwäbischen Landsmann:

„Sein Selbstbewusstsein war sehr stark, naiv und großartig, aber offenbar für viele verletzend und peinlich. Er hatte das unbequeme Talent, wahrhaftig zu sein, wo es sich empfahl, Vorsicht walten zu lassen. So geht er durch die Zeit – es ist, als ob in den Lavendelduft des Biedermeier sein Wesen wie ein unbekümmert frischer Wind von der Rauhen Alb hineinbraust.“

Beginnende Industrialisierung als Potential für Fortschritt

Doch die Biedermeierzeit duftete nicht nach Lavendel, sie roch nach Kohlenstaub und Maschinenöl. Friedrich List witterte früh, dass in der beginnenden Industrialisierung das Potential für bürgerlichen Fortschritt und nationale Einigung steckte. 1819 gab er ohne Zögern eine Professur in Tübingen auf, um den ersten gesamtdeutschen Unternehmerverband mitzugründen und zu leiten. Er stellte sich an die Spitze einer Bewegung zur Abschaffung der Binnenzölle in dem aus 38 souveränen Einzelstaaten bestehenden Deutschen Bund. 

Seine ätzende Kritik an der reaktionären und korrupten Bürokratie brachte List 1824 auf die Festung Hohenasperg. Nach 5 Monaten Haft willigte der Familienvater in seine Ausbürgerung und Exilierung nach Amerika ein. Der württembergische Justizminister von Maucler hätte ihn lieber in Australien gesehen. Der Albtraum des Reaktionärs wurde Wirklichkeit: 1830 kehrte List als erfolgreicher Bergbau- und Eisenbahnunternehmer und als Konsul der Vereinigten Staaten nach Deutschland zurück. 1834 erlebte List hier mit der Gründung des Deutschen Zollvereins einen seltenen persönlichen Triumph, wenngleich er sich einen noch größeren Binnenmarkt gewünscht hätte. Große Verdienste erwarb sich List als Organisator und Publizist beim Bau der ersten deutschen Eisenbahnen. Während andere dabei reich wurden, ging sein amerikanisches Vermögen in einer Bankenpleite unter.

Freier Korrespondent in Paris

So zog List für einige Jahre als freier Korrespondent nach Paris, wo er sein Hauptwerk „Das nationale System der Politischen Ökonomie“ schrieb. Lustvoll griff er darin die Autoritäten Adam Smith und Jean Baptiste Say an. Ihre Lehre, dass nur solche Arbeit produktiv sei, die materielle Güter hervorbringt, reizte seine Spottlust:
„Wer Schweine erzieht, ist nach ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. Der Arzt, welcher seine Patienten rettet, gehört nicht in die produktive Klasse, aber der Apothekerjunge, obgleich die Pillen, die er produziert, nur wenige Minuten existieren mögen.“
Lists alternatives Erklärungsmodell für wirtschaftlichen Wohlstand waren die „produktiven Kräfte“ einer Nation. Dazu gehörten neben den Faktoren Kapital und Arbeit auch eine verlässliche Rechtsordnung, eine ausgebaute Infrastruktur und ein effektives Bildungssystem. Im Gegensatz zur Laissez-faire-Doktrin der Klassiker kam dem Staat in Lists Denken also eine wichtige Rolle zu. 

Doch ein Etatist war er nicht. Zu Unrecht beriefen sich Protektionisten wie Otto von Bismarck auf ihn. „Erziehungszölle“ zum Schutz der jungen heimischen Industrie vor der weiter entwickelten englischen Konkurrenz befürwortete List nur für eine Übergangszeit. Eine Konservierung überlebter Strukturen wäre dem weltoffenen, undogmatischen Liberalen Friedrich List nicht in den Sinn gekommen.