Eine Tochter aus gutbürgerlichem Hause, die an der Kunstgewerbeschule studiert, ist 1915 in Wien nicht mehr ganz ungewöhnlich. Aber Margarete Lihotzky, geboren am 23. Januar 1897, gibt sich nicht mit dem Künstler-Atelier zufrieden – und erobert als erste Frau ihren Platz in einer weiteren Männerdomäne.
"Nebenan war die Klasse für Architektur. Mich hat das ungeheuer fasziniert, dass man auf dem Papier sich etwas ausdenkt, was dann Einfluss hat auf das Leben der Menschen, ob sie froh und glücklich sind, ob sie sich wohlfühlen in ihren vier Wänden oder unglücklich.“
Frühe Erfolge im "Roten Wien" und "Neuen Frankfurt“
Heinrich Tessenow wird für die sozial engagierte Studentin zum geistesverwandten Lehrer. Sein Prinzip des „Einfach-Notwendigen“, also das sparsame und zweckmäßige Bauen, setzt die junge Architektin 1920 mit einer Siedlungsanlage um. Margarete Lihotzky gewinnt den Wettbewerb, weil ihre aus standardisierten Holzelementen konstruierten Häuser sich kostengünstig vorproduzieren lassen. Für die künftigen Bewohner, meist Arbeiter, ist diese Architektur ungewohnt:
"Da bin ich hinausgeschickt worden mit den Plänen und habe oft in verräucherten Wirtshäusern bei Petroleumlicht, wo es noch gar keine elektrischen Leitungen gab, da habe ich meine Pläne erläutert und habe den Leuten erklärt, wie sie es machen sollen.“
Die sozialrevolutionäre Minimal-Küche
Die Architektin hat Erfolg im sozialdemokratisch regierten „Roten Wien“ und wird 1926 für das „Neue Frankfurt“ engagiert. So nennt Stadtbaurat Ernst May seine grundlegende Reform des Wohnungsbaus. Dafür soll die neue Mitarbeiterin eine Musterküche entwickeln – auf kleinstem Raum, mit geringen Kosten. Margarete Lihotzky, die politisch mit den Kommunisten sympathisiert, kehrt das kapitalistische Instrument der „Rationalisierung“ um. Auch sie analysiert mit der Stoppuhr jeden Arbeitsschritt, aber nicht, um den Takt eines Fließbandes und damit den Profit zu steigern. In der bedarfsgerecht kalkulierten Minimal-Küche, 1,90 Meter breit und 3,44 Meter lang, soll die Zeitersparnis den Arbeiterinnen selbst, den Hausfrauen, zugutekommen.
"Ich habe an dem ersten Modell der Frankfurter Küche dreiviertel Jahre gearbeitet, gemeinsam mit der Industrie. Dann haben wir eine Modellküche im Rathaus ausgestellt. Alle Frauenorganisationen sind dahin gekommen, so dass wir nach diesem Experiment dann die Massenherstellung der Küchen vornehmen konnten."
Mit der "Frankfurter Küche" in der Sowjetunion
In 10.000 Wohn-Einheiten wird die „Frankfurter Küche“ eingebaut, ein Erfolgsmodell. 1930 schließt sich die Architektin der „Brigade May“ an. Geleitet vom Frankfurter Stadtbaurat sollen deutsche Experten in der Sowjetunion neue Städte projektieren. Während sich ihr Ehemann Walter Schütte um Schulbauten kümmert, entwickelt Margarete Schütte-Lihotzky einen vorbildlichen Standard für Kindergärten. Keine leichte Aufgabe in dem riesigen Land mit vier Klimazonen:
"Also, ich kann doch nicht dieselben Kindergärten projektieren im hohen Norden wie in der Wüste, unten im Süden. Das allein ergab schon ungeheuer viele verschiedene Kinderanstalten, verschiedene Baumaterialien – und das war sehr interessant.“
15 Jahre Zuchthaus - und nach dem Krieg kaltgestellt
Das Architektenpaar zieht 1938 nach Istanbul und organisiert im türkischen Exil den Widerstand gegen das Nazi-Regime. Auf Kurierfahrt durch Österreich wird Margarete Schütte-Lihotzky Ende 1940 von der Gestapo verhaftet und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Befreiung im April 1945 in ihre Heimatstadt Wien zurückgekehrt, ist die zuvor so erfolgreiche Architektin damit konfrontiert, dass sie als Mitglied der Kommunistischen Partei in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs kaum noch Aufträge bekommt:
"Ich habe in zwanzig Jahren zwei Kindergärten gebaut, während ehemalige Nazis, die haben schon ganz große Aufträge gehabt, also in den Sechzigerjahren dann."
Späte Wiederentdeckung
Erst in den 1980er-Jahren wird Margarete Schütte-Lihotzky wiederentdeckt, ihr Lebenswerk mit Architekturpreisen gewürdigt. Im Januar 2000 stirbt die Sozialreformerin und Feministin in ihrer Wiener Wohnung: 40 Quadratmeter klein, aber mit größtem Geschick eingerichtet.