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Vor 20 Jahren
Als der Bundestag den Import embryonaler Stammzellen billigte

Ende der 1990er-Jahre gelang es Forschern, aus sogenannten embryonalen Stammzellen neues Gewebe für die Behandlung schwerer Krankheiten zu züchten. Doch mussten dafür Embryonen zerstört werden. Ein ethisches Dilemma, mit dem sich 2002 auch der Deutsche Bundestag befasste.

Von Martin Winkelheide |
DNA-Proben werden per Pipette auf eine Petri-Schale geträufelt

Sample of DNA being pipetted into a petri dish over genetic results property released PUBLICATIONxIN
DNA-Proben werden per Pipette auf eine Petri-Schale geträufelt (imago/Westend61)
Es war eine kontroverse Debatte. Der Fraktionszwang war aufgehoben. Nicht Parteizugehörigkeit zählte. Sondern die Abwägung der Argumente. Es ging um Grundsätzliches: Dürfen Wissenschaftler mit Zellen forschen, für die Embryonen getötet wurden? Was wiegt mehr: die Aussicht auf neue Heilmethoden oder der unbedingte Schutz eines Embryos? Darüber hatte der Bundestag am 30. Januar 2002 zu entscheiden und stimmte schließlich für einen Kompromiss:
„Der Antrag mit dem Titel ‚Keine verbrauchende Embryonenforschung. Import humaner embryonaler Stammzellen grundsätzlich verbieten und nur unter engen Voraussetzungen zulassen‘ hat im zweiten Abstimmungsgang die erforderliche Mehrheit erhalten."

"Und ist damit angenommen." gab der damalige Bundestagsvizepräsident Rudolf Seiters bekannt. Vorangegangen war eine mehr als vierstündige Diskussion. Die Abgeordnete Monika Knoche, damals bei den Grünen, sprach sich für ein absolutes Importverbot von embryonalen Stammzellen aus:
"Sagen wir doch: Wir verzichten auf den Aufbau eines Forschungszweiges, der zwangsläufig auf der In-Dienst-Setzung des ungeborenen in vitro Embryo basiert.“

Auf verschlungenen Pfaden zum Kompromiss

Peter Hintze von der CDU plädierte für eine Freigabe der Einfuhr embryonaler Stammzellen – gewonnen aus überzähligen Embryonen aus Reproduktionskliniken.
„Wenn wir keinen Unterschied mehr machen zwischen einem Menschen, der Möglichkeit zur Geschichte hat, und dem besonderen Schutz, den ich auch ernst nehme, einer befruchteten Eizelle im Tiefkühlbehälter der Reproduktionsmedizin, wenn ich das alles gleichsetze, wenn hier an diesem Pult dauernd von Töten geredet wird, was ist das für eine kategoriale Gleichsetzung.“
Auch die SPD-Abgeordnete Margot von Renesse warnte: „In einer schwierigen Situation, in der Werte einander gegenüberstehen, ist es gefährlich, gerade Wege zu suchen":
„In einem Labyrinth wird man vor die Mauer laufen, wenn man gerade Wege sucht. Oder man wird sie einreißen müssen. Oft ist der gewundene Weg dann der, der gerade zum Ausweg führt.“

Das Stammzellengesetz vom April 2002

Der „gewundene Weg“, der pragmatische Ansatz, fand im Parlament schließlich eine Mehrheit. Das im April 2002 verabschiedete Stammzellengesetz erlaubt - unter strengen Auflagen - eine Einfuhr von und Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen nach einer Genehmigung durch das Robert Koch Institut.

Neue Hirn- oder Herz-Zellen schienen möglich

Im November 1998 war es dem US-amerikanischen Zellbiologen James Thomson erstmals gelungen, menschliche embryonale Stammzellen im Labor zu kultivieren. Die Besonderheit dieser Zellen: Es sind Alleskönner. Aus ihnen können noch alle Zelltypen heranreifen: Herzzellen, Muskel-, Nerven- oder Hautzellen. Plötzlich schienen Visionen zum Greifen nahe: Ersatzgewebe aus dem Labor für schwer kranke Menschen. Neue Hirnzellen für Parkinson-Patienten oder neue Herzzellen nach einem Infarkt. Die Forschung an diesen Zellen boomte weltweit.
Auch der Bonner Neurowissenschaftler Oliver Brüstle wollte mit embryonalen Stammzellen forschen. Er stellte einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die meldete an die Politik: Hier gibt es Regelungsbedarf.
Oliver Brüstle war der erste Forscher in Deutschland, der Stammzellen einführen durfte: Im Dezember 2002 bekam er eine Stammzelllieferung aus Israel:
„Für mich als Mediziner ist es sehr schwer, nachzuvollziehen, diese Zellen nicht zu nutzen, sondern sie stattdessen etwa wegzuwerfen. Hier sehe ich es geradezu als Pflicht an, zu versuchen, aus diesen überzähligen Zellen therapeutisch medizinisch relevante Zelllinien zu generieren, um anderen Menschen letzten Endes damit zu helfen.“

Enttäuschte Erwartungen

Die Hoffnung auf schnelle medizinische Erfolge erfüllte sich nicht. Zunächst ging es darum zu verstehen, wie sich die Reifung einer Stammzelle in eine spezielle Nerven-, Herz- oder Leberzelle lenken und kontrollieren lässt.

Zum anderen warnten Forscher wie Hans Schöler vom Max-Planck-Institut in Münster vor dem schnellen Einsatz aus Stammzellen gezüchteter, „abgeleiteter“, Zellen im Menschen. Möglicherweise bestehe langfristig ein Krebsrisiko Schöler dazu 2012 in einem Radiointerview:
„Was passiert mit den abgeleiteten Zellen nach fünf oder zehn Jahren? (…) Das heißt, wir brauchen da Langzeitstudien.

Embryonale Stammzellen 2.0

Inzwischen hat die Wissenschaft Alternativen zu den embryonalen Stammzellen gefunden. So ist es etwa möglich, bereits spezialisierte Zellen, etwa Hautzellen, dazu zu bringen, ihre Spezialisierung aufzugeben, wieder ähnlich wandlungsfähig zu werden wie embryonale Stammzellen. Ohne dazu Embryonen zerstören zu müssen.