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Vor 200 Jahren geboren
Der Geograf August Petermann und seine Theorie vom eisfreien Polarmeer

August Petermann war einer der berühmtesten Kartografen im 19. Jahrhundert und treibende Kraft hinter deutschen Arktisexpeditionen. Allerdings erwies sich seine Theorie von einem eisfreien Nordpol als Irrtum - mit fatalen Folgen.

Von Irene Meichsner | 18.04.2022
Zeichnung von der zweiten Deutschen Nordpolar-Expedition mit den Schiffen Germania und Hansa
Zeichnung von der zweiten deutschen Nordpolar-Expedition mit den Schiffen Germania und Hansa. Die wissenschaftliche Entdeckungsfahrt war vom Geografen August Petermann inspiriert (picture alliance / Bildagentur-online/Sunny Celeste)
Die Geschichte August Petermanns ist die Geschichte einer Obsession, die in einer Tragödie endete. Petermanns Biograf Philipp Felsch sagte dazu 2010 auf der Leipziger Buchmesse:
„Die Tragik von August Petermann ist die Tragik eines Kartografen, der eine Theorie entwickelt hat, die besagte, dass es ein eisfreies Polarmeer gibt, also ein warmes Meer rund um den Nordpol, und dass man deswegen den Nordpol per Schiff in zehn Tagen von der deutschen Nordseeküste aus erreichen könne. Und alle Expeditionen, die er dort hinschickte, haben natürlich nur Packeis angetroffen. Und als sich irgendwann herausstellte, dass das eisfreie Polarmeer nicht zu finden war, hat sich Petermann an seinem Schreibtisch das Leben genommen.“

Theorie vom eisfreien Polarmeer

August Petermann, der am 18. April 1822 in Bleicherode in Thüringen geboren wurde, hatte sich schon früh für die Erdkunde begeistert. Im Alter von 15 Jahren zeichnete er seine erste Landkarte, später besuchte er eine Kunstschule in Potsdam, wo er sich zum Kartografen ausbilden ließ. 1845 zog Petermann nach Edinburgh, um dort eine Stelle in einem Landkarten-Verlag anzutreten. Es war das gleiche Jahr, in dem der berühmte John Franklin von London aus aufbrach, um nach der „Nordwestpassage“ zu suchen - jener sagenumwobenen, direkten Verbindung zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, von der man annahm, dass sie im hohen Norden existierte. Petermann verfolgte die Schlagzeilen, und als drei Jahre später eine der größten arktischen Rettungsaktionen aller Zeiten startete, weil man von Franklin und seinen Männern nichts mehr gehört hatte, vertiefte er sich in die Materie. 1852 trat Petermann, der mittlerweile in London lebte, mit seiner Theorie vom eisfreien Polarmeer auf den Plan.
Philipp Felsch: „Er war nämlich der Meinung, dass John Franklin genau in dieses eisfreie Polarmeer direkt zum Nordpol gesegelt ist, und dass man ihn deswegen am Nordpol suchen müsse.“

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Selbst war Petermann nie zur See gefahren

Petermann glaubte, herausgefunden zu haben, dass der Golfstrom, eine Art Wärmepumpe, im Winter nach Norden driftete, und es dadurch möglich würde, das Packeis zu überwinden. Er vertrat seine Position mit Verve, machte sich damit aber nicht nur Freunde. Die Londoner „Times“ spottete bald nur noch über den Deutschen, der selber nie zur See gefahren war.
„Als ein sogenannter Theoretiker bin ich den Männern der Praxis gegenüber, die das Polarmeer tatsächlich gesehen haben, im Hintertreffen“, räumte Petermann selbst ein, bevor er 1854 nach Deutschland zurückkehrte, um eine Stelle beim Geographischen Verlag Justus Perthes in Gotha anzutreten. Ein Jahr später gründete er „Petermanns Geographische Mitteilungen“, eine Fachzeitschrift für Geografie, die ihm weltweiten Ruhm einbrachte. Die Ergebnisse von Expeditionen in alle Welt wurden in dem Journal veröffentlicht und sorgfältig mit Karten illustriert.

Nordpol-Expedition endete in einem Fiasko

Auch Petermanns Arbeit an modernen Atlanten hatte nachhaltige Wirkung. Er hätte als hoch angesehener und hoch dekorierter Wissenschaftler in die Geschichte der Geografie eingehen können, hätte er sich nicht in seine Theorie vom eisfreien Nordpol verrannt. Er hielt Vorträge, sammelte Spenden - und schaffte es tatsächlich, eine deutsche Nordpol-Expedition zu organisieren. Sie endete in einem Fiasko: Schon nach kurzer Zeit steckte der Kapitän Carl Koldewey in einem Meer aus Eisschollen fest, aus dem er sich nur mit Mühe wieder befreien konnte. 1869 folgte ein zweiter Versuch, mit dem Schiff bis zum Nordpol vorzudringen.
„Ich glaube kaum, dass diese große Aufgabe ohne Aufopferung von Menschenleben und Schiffen zur vollständigsten Leistung gelangt. Und warum sollten nur in inhumanen Kriegen tausende edler Menschenleben geschlachtet werden? Ist eine solche große Sache nicht auch ein paar Menschenleben wert? Machen Sie mein, unser Vertrauen, das Vertrauen ganz Deutschlands nicht zu Schanden!“, schrieb Petermann vor der Abfahrt an Kapitän Koldewey.
Auch diese Mission scheiterte. Eine dritte Nordpolarfahrt sollte unter amerikanischer Flagge starten. Mitten in die Vorbereitungen platzte am 25. September 1878 die Nachricht von Petermanns Freitod; er hatte sich eine Kugel in den Kopf geschossen. Der Grund kann eine depressive Veranlagung gewesen sein. Doch vieles spricht auch dafür, dass August Petermann die Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen konnte, dass sein Glaube an eine eisfreie, schiffbare Zone rund um den Nordpol ein verhängnisvoller Irrtum gewesen war.