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Vor 50 Jahren
Willy Brandts historischer Kniefall in Warschau

Das diplomatische Protokoll hatte die bei Staatsbesuchen übliche Kranzniederlegung am Mahnmal für die jüdischen Aufständischen des Warschauer Ghettos vorgesehen. Doch Bundeskanzler Willy Brandt ging am 7. Dezember 1970 an dem Ort in die Knie. Die historische Geste erregte weltweit Respekt – und Empörung in Bonn.

Von Peter Hölzle | 07.12.2020
    Bundeskanzler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau, das den Helden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist.
    Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau 1970. Brandt legte damit den Grundstein für die deutsch-polnische Aussöhnung. (picture-alliance / dpa / Bildarchiv)
    "Wir sind … dahingeschritten, vor uns diese Mauer von Journalisten. Und plötzlich wurde es still, und einer drehte sich um und sagte: 'Er kniet'." Über den Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt bei der Kranzniederlegung vor dem Denkmal der jüdischen Aufständischen des Warschauer Ghettos am Morgen des 7. Dezember 1970 berichtet Egon Bahr, damals Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Vertrauter Brandts. Wohl nie hat das bei Staatsbesuchen übliche Routineritual einer Kranzniederlegung ein solch weltweites Echo gefunden.
    "Hab‘ empfunden, es reicht nicht, wenn ich mit dem Kopf nicke."
    Der im Protokoll nicht vorgesehene Kniefall machte es zum sichtbaren Eingeständnis schwerer deutscher Schuld am polnischen Volk und seinen Juden, das auch polnische Beobachter beeindruckte. So Marian Dobrosielski vom Planungsstab des polnischen Außenministeriums: "Der Kniefall, den habe ich als eine sehr emotionale menschliche Geste empfunden. Ich bin noch jetzt gerührt, und ich bin ein sehr harter Mann." So überrascht, ja gerührt polnische Zeitzeugen auf Brandts Kniefall reagierten, so überrascht reagierte auch Egon Bahr der ihn schon lange kannte: "Ich habe abends nicht gewagt, ihn darauf anzusprechen. Ich habe nur gesagt: 'Du, das war eine Überraschung.' Dem Sinne nach hat er gesagt: 'Ich hab' empfunden, es reicht nicht, wenn ich mit dem Kopf nicke.' Es war die Geste des Augenblicks, eingegeben von der Emotion des Augenblicks."
    Eine Illustration zeigt eine schwarze, zum Himmel erhobene Faust auf rosa Hintergrund.
    Kunsthistorikerin - "Wir wissen, dass man Bilder wie Waffen einsetzen kann"
    Längst bestimmen Bilder unser Denken und Handeln. Auch in der aktuellen Rassismus-Debatte übten sie mitunter eine große Macht aus, erklärte die Kunsthistorikerin Annekathrin Kohout im Dlf. Manche irritieren auch. So wie das zuletzt viel geteilte Schwarze Quadrat, das – ja, was eigentlich? – zeigt.
    Brandts historischer Kniefall war auch deshalb bemerkenswert, weil ein deutscher Kanzler ihn machte, der als Exilant kein Hitler-Sympathisant gewesen war, jetzt aber ein Volk repräsentierte, das in seiner übergroßen Mehrheit Hitler bis zum bitteren Ende gefolgt war. Im Rückblick meinte Willy Brandt: "Die Geste des Niederkniens … war ja nicht Ausdruck meines Empfindens, ich persönlich hätte für etwas um Nachsicht, Entschuldigung oder gar Gnade zu bitten, sondern ich hatte mich zu identifizieren mit dem Volk, zu dem ich gehöre und dem Staat, für den ich zu sprechen hatte."
    Staatsbesuch im Lichte der "neuen Ostpolitik"
    Nicht nur der Kniefall, auch die Ursache von Brandts Staatsbesuch in Warschau erregte Anstoß: Es galt den deutsch-polnischen Vertrag über "die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen" beider Länder zu unterzeichnen. Er war Teil der "neuen Ostpolitik", mit der die sozial-liberale Regierung das im Kalten Krieg erstarrte Verhältnis zu den Staaten des "Warschauer Paktes" auflockern wollte. Der Vertrag enthielt aber auch Sprengstoff, weil die Bundesregierung in ihm die von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs auf der Potsdamer Konferenz gezogene Oder-Neiße-Linie als westliche Staatsgrenze Polens zwar nicht anerkannte, aber doch "feststellte", will sagen bestätigte.
    Für den zur deutschen Delegation gehörenden Schriftsteller Günter Grass, einen gebürtigen Danziger, war die "Feststellung" schwer zu verkraften. "Für mich ist diese Reise nach Warschau keine fröhliche Reise …, genau wie der Vertrag keine fröhliche Angelegenheit ist. Er sollte bei uns Einsicht involvieren, sollte Trauer freisetzen. Und ich glaube, dass man die Geste und den Willen, von deutscher Seite den sehr späten Willen, verstehen wird."
    Die verklausulierte Hoffnung des Autors der "Blechtrommel", die Welt werde den "Warschauer Vertrag" und des Kanzlers Kniefall als Versöhnungszeichen des deutschen Volkes annehmen, wurde im eigenen Land nur von einer Minderheit geteilt. CDU und CSU lehnten den Vertrag zunächst in Bausch und Bogen ab. Erst im Mai 1972 fand sich im Bundestag eine Mehrheit für seine Ratifikation. Die Vertriebenenverbände blieben hingegen beim Nein, obgleich der Kanzler noch am Abend der Vertragsunterzeichnung in einer Fernsehansprache auch bei ihnen um Verständnis geworben hatte. "Dieser Vertrag bedeutet nicht, dass wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, dass wir Vertreibungen nachträglich legitimieren. Uns schmerzt das Verlorene, und das leidgeprüfte polnische Volk wird unseren Schmerz respektieren. Ich sage, das Ja zu diesem Vertrag, zur Aussöhnung, zum Frieden, ist ein Bekenntnis zur deutschen Gesamtgeschichte."