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Vor 100 Jahren
Als Wilhelm Furtwängler Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wurde

Am 20. März 1922 übernahm Wilhelm Furtwängler, längst international gefeierter Dirigent, die Leitung der Berliner Philharmoniker. Damit begann ein neues Kapitel im Leben des in seinem Inneren künstlerisch wie politisch höchst dissonanten Musikers.

Von Wolfgang Schreiber | 20.03.2022
Der Dirigent Wilhelm Furtwängler während seiner Arbeit – aufgenommen um 1950
Der Dirigent Wilhelm Furtwängler während seiner Arbeit – aufgenommen um 1950* (picture alliance / akg-images)
Wilhelm Furtwängler dirigiert Gioacchino Rossini. Da arbeitet die künstlerische Ungeduld eines jungen Kapellmeisters, der gerade Chef der Berliner Philharmoniker geworden ist. Viel später erst wird er der Prophet Beethovens, Bruckners, Wagners. Als Furtwängler am 20. März 1922 in Berlin den Vertrag mit Deutschlands wichtigstem Orchester unterzeichnet, ist er noch der rastlos Umtriebige, sich selbst Suchende - Nachfolger des legendären Arthur Nikisch, dessen Tod plötzlich eine jahrzehntelange Berliner Karriere beendet hat.

Der charismatische Aufsteiger des Jahrzehnts

Der lustige "Barbier von Sevilla“ war in den "Goldenen Zwanzigern“ offenbar kein Fremdkörper in der Berliner Philharmonie des jungen Wilhelm Furtwängler. In Berlin 1886 geboren, in München als Sohn eines prominenten Archäologieprofessors in die hohe Geisteswelt aufgenommen, hatte Furtwängler als ernster Komponist begonnen, er wurde Dirigent, bekam eine Stellung in Straßburg und Lübeck, danach am Nationaltheater zu Mannheim, dirigierte schon in Frankfurt, Wien, Amsterdam, gastierte in New York. Furtwängler war der charismatische Aufsteiger des Jahrzehnts. Der Publizist Carl Krebs stellte den Dreiunddreißigjährigen seinen Lesern als Ausdruckskünstler vor - 1919 in dem Buch "Meister des Taktstocks".
"Ein Dirigent von größter Zartheit und Innigkeit ist Wilhelm Furtwängler, der auch im Konzertsaal das Publikum zu erwärmen und zu fesseln versteht. Er liebkost förmlich das Orchester und weiß es gleichzeitig geistig zu durchdringen, kann es heftig aufflammen lassen.“

Der frühe Furtwängler als Avantgardist

Dem jungen Furtwängler ist die Wiener Klassik, zumal Beethoven, noch nicht das Dringlichste. In den Konzerten seiner frühen Berliner Jahre glänzen die Novitäten, Furtwängler dirigiert Ravel und Debussy, Skrjabin und Strawinsky, Bartók und Hindemith, er leitet 1928 die Uraufführung der sperrigen Orchestervariationen Arnold Schönbergs. Furtwänglers frühe Konzerte verbreiten den Glauben an den musikalischen Fortschritt, sie verunsichern das ältere und begeistern das junge philharmonische Publikum. Und die Wiener Philharmoniker laden ihn ans Pult, doch Furtwängler bleibt Berlin treu, die Wiener gewinnen dauerhaft seine Partnerschaft.

Zerrissen zwischen dem Dirigieren und Komponieren

Furtwänglers im Zweiten Weltkrieg komponierte zweite Symphonie dröhnt dunkel. Der Dirigent fühlte sich stets als Komponist zu eigener Musik berufen. Da tönte sein tiefer künstlerischer Zwiespalt. Den konnten auch die Triumphe am Dirigentenpult nicht aufheben. Die Folge - eine Art innerer Dissonanz.
"Meine Dirigentenkarriere ist ernsthafter Erwähnung nicht wert. In Wirklichkeit war das Dirigieren das Dach, unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im Begriff war, als Komponist zu Grunde zu gehen."

Zwischen Opportunismus und Resignation

Furtwänglers Brief an den Lehrer Ludwig Curtius macht eine tragische Zerrissenheit sichtbar. Vollends ins Wanken geriet sein Leben im NS-Deutschland, als er, die Symbolgestalt deutscher Musikkultur, die Emigration verweigerte, Amerika hatte eingeladen. Gegen Kriegsende wählt er die Flucht in die Schweiz. Furtwänglers politische Haltung zwischen Opportunismus und Resignation bleibt deutungsoffen. Wenige Jahre vor dem Tod 1954 heben die alliierten Siegermächte das Dirigierverbot auf, die Berliner Philharmoniker holen ihn zurück. Dokumentiert ist ein Beethoven-Konzert mit Stockholms Philharmonikern 1948. Die Orchester-Probe der Leonoren-Ouvertüre zeigt ungebrochen Furtwänglers Energie der Spannung des Augenblicks.
*Das Foto wurde nachträglich ausgetauscht.