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"Wir haben in Berlin eine gespaltene Kindheit"

Kommt nach dem Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung jetzt die Pflicht? Der Chef der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, will alle Kinder ab drei Jahren in die Kita schicken. Die Bildungserfolge der Kindertagesstätten seien messbar. Am Geld soll sein Vorstoß nicht scheitern.

Raed Saleh im Gespräch mit Manfred Götzke | 09.08.2013
    Manfred Götzke: Herr Saleh, trauen Sie Berliner Eltern die Erziehung ihrer Kinder nicht zu?

    Raed Saleh: Die Berliner Eltern wissen sehr wohl, was gut für ihre Kinder ist. Aber wir haben in Berlin eine andere Situation: In Berlin gehen nach wie vor zu viele Kinder zur Schule ohne Sprachkenntnisse und ohne auch richtiges soziales Verhalten mit anderen Kindern. Wir haben die Situation, dass es in manchen Gegenden in Berlin so ist, dass teilweise 20 Prozent, 25 Prozent der Erstklässler nicht über genügend Sprachkenntnisse verfügen, und das ist ein Zustand, der auf Dauer nicht geht. Wir verlieren viele Kinder in die Perspektivlosigkeit und wir wissen auch, dass ganz früh die Weichen gestellt werden im Leben eines Kindes. Und ich möchte kein Kind aufgeben, daher unser Vorstoß.

    Götzke: Hat jedes Kind mit Migrationshintergrund Leistungsdefizite, die von Kitas ausgeglichen werden müssen?

    Saleh: Es geht nicht um Migrationshintergrund, es geht um alle Kinder. Es gibt Kinder auch von anderen sozialen Strukturen, Milieus, wo sie zur Schule kommen ohne ausreichend Kenntnisse. Sie sind halt noch nicht schulreif. Das ist keine Frage von Migrationshintergrund, sondern eine soziale Frage, und ich möchte, dass in Berlin kein Kind verloren geht. Deswegen meine Meinung, wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder früh die Kompetenzen erlernen, die sie später im Leben brauchen. Wir können es uns auf Dauer nicht leisten in einer Stadt wie Berlin, und ich bin auch überzeugt, nirgendwo in Deutschland, in keiner Großstadt in Deutschland, dass sich die Situation, ob Erfolg oder kein Erfolg im späteren Leben, so früh manifestiert. Wir haben in Berlin eine gespaltene Kindheit.

    Götzke: Kann das alles denn tatsächlich die Kita lösen, also, ist die Kita eine Bildungseinrichtung, mit der Grundschule vergleichbar in Berlin?

    Saleh: Definitiv. Wir erleben ja jetzt schon, was für eine sehr gute Leistung die Kitas bringen. Sehr viele Eltern, über 90 Prozent, bringen bereits ihre Kinder zur Kita und die Erfolge sind messbar. Kein Journalist, kein Politiker, kein Elternteil zweifelt am Erfolg der Kita. Und deswegen sage ich, dass, was man sich selber gönnt, muss man allen Kindern gönnen, und notfalls am Willen der Eltern vorbei!

    Götzke: Nun kann ich das aber nicht so ganz bestätigen, derzeit wird ja sehr viel über mangelnde Qualität von Kinderbetreuung gesprochen, auch angesichts des Kita-Ausbaus. Wir haben ja seit dem 1. August den Rechtsanspruch für die unter Dreijährigen und es gibt auch in Berlin Massen-Kitas über Einkaufszentren. Können Sie da manche Eltern nicht verstehen, die sagen, ich betreue mein Kind lieber selbst zu Hause?

    Saleh: Auslöser der Diskussion ist eine Studie und die Studie belegt ganz klar, dass zwei Drittel aller Kinder, die nicht zur Kita gehen und dann zur Schule, über mangelnde Sprachkenntnisse bis kaum Sprachkenntnisse verfügen. Und von den Kindern, die in der Kita waren, sind es gerade mal 16 Prozent. Das heißt, die Erfolge sprechen für sich. Ich sage immer auch ganz klar, es ist immer ausbaufähig. Und wenn man auch Geld in die Hand nehmen muss in Berlin, um am Ende dafür zu sorgen, dass alle Dreijährigen zur Kita gehen, dann ist auch Geld erforderlich, so kommt auch Geld hinzu. Es soll am Ende nicht am Geld scheitern.

    Götzke: Sie haben gerade angesprochen, dass es am Geld nicht scheitern soll. Bis 2005 gab es in Berlin ja schulvorbereitende Klassen, die an den Schulen angesiedelt waren, die wurden von der SPD abgeschafft. Wie es heißt, aus Finanzgründen.

    "Die Kita ist für mich keine Verwahrungseinrichtung"
    Saleh: Das war ein großer Fehler, mir ist es egal, wie es heißt. Ich möchte, dass die Kinder früh lernen, und ich möchte ganz klar sagen, die Kita ist für mich keine Verwahrungseinrichtung und keine Bewahrungseinrichtung und auch keine Fürsorgeeinrichtung. Ich betrachte die Kita ganz klar als eine Bildungseinrichtung. Und daher sage ich auch: Wie man es am Ende nennt, ist mir wurscht, mir ist wichtig, dass die Kinder früh zusammenkommen, dass die Kinder früh Kompetenzen erlernen, und dass die Kinder früh Sprache erlernen. Zu viele Kinder in Berlin verbringen ihre Kindheit vorm Bildschirm!

    Götzke: Vielleicht ist es dem Bundesverfassungsgericht nicht wurscht, wie es heißt, es gibt ja auch erhebliche rechtliche Hürden, die gegen diese Pflicht sprechen. Artikel sechs des Grundgesetzes überantwortet den Eltern Pflege und Erziehung der Kinder, eine Kita-Pflicht würde dieses Grundrecht vermutlich verletzen!

    Saleh: Ich habe sehr hohen Respekt vor der Rechtsprechung von 98. Sie wissen aber auch, dass es im Laufe von vielen Jahren auch Entwicklungen gibt. So bin ich froh darüber, dass wir in vielen Fragen, die mal auch anders vom Verfassungsgericht bewertet wurden, heute auch eine neue Auffassung haben. Das heißt, oft setzt sich auch ein richtiger Gedanke in Gerichten und Parlamenten fort. Im Übrigen bin ich ja der Meinung, dass eine Kita-Einrichtung, anders als vom Verfassungsgericht 98 bescheinigt, keine Fürsorgeeinrichtung ist, sondern eine Bildungseinrichtung. Und eine Bildungseinrichtung ist ganz klar in den Händen der Länder und Aufgabe der Länder und im Übrigen eine Schulpflicht, wie Sie es genannt haben, eine Art Vorschule. Das heißt, eine Zeit vor der Schule ist auch ganz deutlich Ländersache.

    Götzke: Die Forderung ist ja nicht ganz neu, Kita-Pflicht. Ihre Partei regiert in Berlin seit zwölf Jahren, warum haben Sie das nicht längst eingeführt?

    Saleh: Mein Kreisverband hat den Antrag 2008 an einem Parteitag bei uns in Berlin eingebracht und hat auch dafür eine große Mehrheit gefunden. Und ich bin froh, dass jetzt die breite Mehrheit meiner Partei diese Forderung unterstützt.

    Götzke: Es gibt viele Hürden, über die wir heute gesprochen haben, seit August gilt aber jetzt erst mal das Betreuungsgeld. Mit welchem Argument locken Sie die Eltern freiwillig, ihre Kinder in die Kita zu geben?

    Saleh: Allen Eltern muss bewusst sein, dass man die Kita nicht mehr vergleichen darf mit der Kita vor vielen Jahren. Die Kita ist mittlerweile auch in ihrer Entwicklung viel weiter. Und ich bin überzeugt davon, dass die Elternhäuser wertvolle Arbeit machen zu Hause und dass auch alle Eltern, Hartz-IV-Eltern, alle Eltern in der Stadt das Beste für ihre Kinder wollen. Mir ist aber wichtig, dass man auch klar sagt, wer das Beste für sein Kind will, muss aber auch die Rahmenbedingungen, die es dazu gibt, auch nutzen. Und dazu gehört auch ein Besuch in der Kita. Ich sage, ab drei Jahren, denn das ist die Zeit, wo die Weichen gelegt werden bei einem Kind. Und ich sage ganz deutlich, alles spricht dafür, je früher das Kind zur Kita geht, umso bessere Chancen hat es dann später im Leben. Und noch mal: Wir können in Berlin, auch in keiner anderen Stadt in Deutschland ein Kind zurücklassen, das können wir uns einfach nicht leisten!

    Götzke: Herr Saleh, ganz herzlichen Dank für das Interview!

    Saleh: Ich danke Ihnen!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.