Polen und Bulgarien hat Russland den Gashahn bereits zugedreht. Nun droht der Kreml weiteren Ländern mit der Einstellung der Gaslieferungen, sollten sie sich weigern, ihre Rechnungen wie gefordert in Rubel zu bezahlen. Was bedeutet das für Deutschland? Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte bei der Vorstellung der Konjunkturprognose am 27. April, die Bundesregierung halte sich an die zwischen der EU und Russland vereinbarten Zahlungsmodalitäten und der Gasfluss aus Russland sei weiterhin stabil. Er sehe daher keinen Anlass, die nächste Stufe des Notfallplans Gas auszurufen. Sollte es unerwartet zu einem Lieferstopp kommen, greifen die verschiedenem Stufen dieses Notfallplans.
Gleichzeitig versucht die Bundesregierung ohnehin, sich so schnell wie möglich unabhängig von russischen Energielieferungen zu machen. Damit kommt sie nach Habecks Einschätzung auch gut voran. Das EU-Kohlembargo könne man ab August mittragen, die Unabhängigkeit von russischem Öl sei innerhalb kürzester Zeit erreichbar. Beim Gas habe man die Importquote von 55 und zuletzt 40 auf jetzt 35 Prozent senken können. Bis zum Jahr 2024 werde es aber noch dauern, komplett vom russischen Gas wegzukommen.
Weil sie einen Rückgang der Wirtschaftsleistung befürchtet, will die Bundesregierung vorerst nicht komplett auf Gas-Importe aus Russland verzichten. „Ein Abriss der Gaslieferungen zum jetzigen Zeitpunkt würde die deutsche Wirtschaft in eine Rezession treiben“, betonte Habeck. Insbesondere die Grundstoffindustrie, die Gas direkt verarbeitet, befürchtet schwere wirtschaftliche Schäden und Entlassungen - beispielsweise in der Chemieindustrie.
Studien dazu unterscheiden sich allerdings in der Einschätzung der Schwere der Folgen und es gibt neben Stimmen aus der Politik auch solche aus der Wissenschaft, die ein sofortiges Gas-Embargo gegen Russland empfehlen. Die Ökonomin Veronika Grimm etwa, Mitglied der Wirtschaftsweisen, hält ein schnelles Energie-Embargo für sinnvoll. Die ökonomischen und energiewirtschaftlichen Analysen zu dem Thema kämen alle zu dem Ergebnis, dass ein Embargo zu einer Rezession, nicht aber zu einer Katastrophe führen würde, weil man sich vorbereiten und die Folgen abmildern könne, sagte sie in einem Interview mit dem Magazin "Capital".
Eine weitere Möglichkeit hat ifo-Präsident Clemens Fuest ins Spiel gebracht: Er spricht sich in einem Aufsatz für den ifo-Schnelldienst für den Aufbau von Parallelstrukturen zum russischen Gas aus, um Importe aus Russland künftig im Krisenfall „schnell und zu tragbaren Kosten“ unterbrechen zu können. Dies sei einem vollständigen Ausstieg aus russischem Gas vorzuziehen - unabhängig davon, ob die Importe aktuell während des Krieges unterbrochen werden. Denn ein dauerhafter Abbruch der Gasimporte beende zwar die Abhängigkeit der EU von den Importen, es entfalle aber auch die Möglichkeit, auf Russland Druck auszuüben. Ob Russland bereit wäre, sich in diese einseitige Abhängigkeit zu begeben, sei allerdings eine offene Frage, räumt Fuest ein.
Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein kurzfristiges Gas-Embargo?
Econtribute-Studie: Gasembargo-Auswirkungen wären handhabbar
Der Studie der Econtribute-Initiative der Universitäten Bonn und Köln zufolge wären die wirtschaftlichen Auswirkungen eines möglichen Stopps russischer Energieimporte auf die deutsche Wirtschaft wahrscheinlich substanziell, aber handhabbar. Kurzfristig würde es demnach zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 0,5 und 3 Prozent kommen. Zum Vergleich: Der BIP-Rückgang im Jahr 2020 aufgrund der Pandemie betrug 4,5 Prozent.
Im Falle eines Embargos auf russisches Gas könnten Gas aus anderen Ländern und der Einsatz von Kohle und Kernenergie zur Stromerzeugung statt Gas das entstehende Defizit reduzieren. Der Studie zufolge würde es aber immer noch bei 30 Prozent des aktuellen Gasverbrauchs liegen. Deshalb müssten so schnell wie möglich Anreize zur Einsparung von Gas geschaffen werden, fordern die Autorinnen und Autoren der Studie. „Falls ein aktives Embargo politisch gewollt ist, sollte es so früh wie möglich beginnen, damit die Wirtschaftsakteure den Sommer zur Anpassung nutzen können“, heißt es in dem Papier.
Studienautor Rüdiger Bachmann erklärte im Podcast „Sicherheitshalber“ vom 9. April, bei einem Lieferstopp komme es nicht zu einem sofortigen Kollaps der Gasversorgung. Vielmehr habe die Industrie mindestens noch ein halbes Jahr Zeit, um Anpassungen vorzunehmen. Aus Norwegen und den Niederlanden komme weiterhin Gas nach Deutschland. Damit komme die Industrie in den kommenden Monaten „locker“ aus, weil der Gasverbrauch insgesamt in den Sommermonaten nicht so hoch sei. Entscheidend sei aber, dass die Gasspeicher wieder aufgefüllt würden. Daran arbeite der Wirtschaftsminister.
Bachmann und seine Mitautoren empfehlen, die Anreize zur Substitution und Einsparung fossiler Energien so schnell wie möglich zu erhöhen, auch wenn ein Embargo nicht unmittelbar bevorsteht. Ein sofortiges Handeln vermeide noch härtere Anpassungen in diesem oder kommenden Jahr, falls es „hart auf hart“ komme. Bachmann betont, dass Russlands Präsident Wladimir Putin Deutschland jederzeit den Gashahn zudrehen könne. „Wenn er diese Waffe zieht, dann zieht er sie im Herbst“, so der Ökonom. Darauf müsse Deutschland vorbereitet sein.
Gestützt wird das Ergebnis der Econtribute-Studie von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sie kommt in einer Stellungnahme zu dem Schluss, „dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre“. Durch die unmittelbare Umsetzung eines Maßnahmenpakets könnten Engpässe vermieden und ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen abgefedert werden.
DIW-Studie: Verzicht auf russisches Gas noch in diesem Jahr möglich
Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin hat Szenarien entwickelt, wie Deutschland sich kurzfristig von russischen Gasimporten unabhängig machen kann. Es sieht neben der Kompensation des russischen Gases durch Lieferungen aus anderen Ländern ein kurzfristiges Einsparpotenzial von 19 bis 26 Prozent der bisherigen Energienachfrage. Wenn Einsparpotenziale maximal genutzt und gleichzeitig die Lieferungen aus anderen Erdgaslieferländern so weit wie technisch möglich ausgeweitet würden, sei die deutsche Versorgung mit Erdgas auch ohne russische Importe im laufenden Jahr und im kommenden Winter 2022/23 gesichert, heißt es in der Veröffentlichung zur Energieversorgung vom 8. April.
Auch das DIW betont aber, Einsparungen in der Industrie gingen mit einem Produktionsrückgang einher. Die besonders betroffenen Branchen sollten daher entschädigt werden. Diese Programme sollten darauf abzielen, den Erdgasverbrauch strukturell zu reduzieren und die Umstellung auf treibhausgasarme Produktionstechnologien voranzutreiben. Auch für die privaten Haushalten seien Energiesparkampagnen und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz angezeigt.
IMK-Studie: Bei Energieembargo droht tiefe Rezession
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) dagegen erwartet im Fall eines kurzfristigen Lieferstopps für russisches Gas gravierende Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Eine abrupte Unterbrechung von Energielieferungen aus Russland würde in diesem Jahr eine tiefe Rezession verursachen, heißt es in der IMK-Prognose zur wirtschaftlichen Entwicklung von Ende März. Nach Berechnungen der Studien-Autoren würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt um sechs Prozent sinken.
Quellen: Nina Voigt, Nadine Lindner, IMK, DIW, Econtribute