Archiv

"Zeit"-Interview mit Nadja Benaissa und die Folgen
Der negative Sound des Boulevards

In der „Zeit“ spricht No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa lange über ihr Leben. Doch bei der Auswertung des Interviews fokussieren sich „Bild“ und Co. auf die negativen Aspekte. Dabei müsse der Boulevard nicht skandalisieren, meint Samira El Ouassil.

Von Samira El Ouassil |
Nadja Benaissa von den No Angels auf einer Bühne
Nadja Benaissa: Seit 2000 als Sängerin der Band No Angels bekannt. (IMAGO / Bernd Alfanz / IMAGO / Bernd Alfanz)
In der letzten Ausgabe der „Zeit“ findet man ein bemerkenswertes Gespräch mit der Sängerin Nadja Benaissa, welches von den Journalisten Laura Sophia Jung und Hannes Leitlein geführt wurde. Im Interview spricht Benaissa offen über den Prozess ihrer Selbstfindung und ihre Spiritualität, die ihr eine Erdung geben.
Es ist ein reflektierter und nachdenklicher Austausch über persönliches Wachstum. Man liest mit Bewunderung über ihre beeindruckende Lebensgeschichte und Resilienz, insbesondere in den besonders heftigen Phasen ihres Lebens. Ihre Worte machen Mut. Und nach Ende der Lektüre musste ich als Erstes an den Satz "Per aspera ad astra" denken – durch das Raue zu den Sternen.

Die Kritik: Boulevardmedien verfremden und verändern

Erstaunlich ist, was nun Boulevardmedien aus diesem Interview gemacht haben, die es zusammenfassen und daraus eigene Artikel generieren, was an sich schon als Praxis eine eigene Kolumne erforderlich machen würde. Die „Gala“ titelte beispielsweise: "Ich flüchtete mich in Alkohol und Drogen, um irgendwie zurecht zu kommen". Die „Bild“-Zeitung macht aus einem existentialistischen Interview über das Beten und Finden der inneren Mitte: "Drogen! Alkohol! ‚Ich war völlig verzweifelt‘".
Diese und weitere Beispiele listete die „Zeit“-Interviewerin Laura Sophia Jung auf Twitter auf und kritisierte, wie stark Boulevardmedien das Gespräch mit Nadja Benaissa verfremden und verändern. Sie schreibt: “Dass daraus eine dramatische ("gefallener Engel") Skandalgeschichte ("Drogen! Alkohol!”) gemacht wird, finde ich krass schade. Genau das ist es nicht.”

Von der Essenz bleibt kaum etwas übrig

Obwohl nachvollziehbar ist, dass Boulevardmedien einen anderen Sound anklingen lassen als ein Wochenmagazin wie die „Zeit“, und ihre Diktion und Headlines andere Zwecke verfolgen, ist es doch erschreckend, dass ein Stück derart umgedeutet wurde, dass kaum etwas von seiner Essenz übrigbleibt.
Und klar, dass der Boulevard nicht ohne seine Lieblingsnachrichtenwerte “Negativität” und “Sensationalismus” auskommt und Skandalisierungen immer noch verkaufsfördernd sind, das sind keine neuen Erkenntnisse, und es bleibt damit problematisch.
Die Schweizer Tageszeitung „Blick“ titelt mit "Über das Schattenleben im Scheinwerferlicht", die österreichische „Kronenzeitung“ benutzt mit "War überfordert mit meinem Leben" ein verkürztes Zitat aus dem Interview als Titel, RTL-News mit "Ich war überfordert mit meinem ganzen Leben“ ebenso .
Porträt von Samira El Ouassil.
Samira El Ouassil kommentiert seit 2019 bei @mediasres aktuelle Medien-Diskussionen (Quirin Leppert)
Das wird der interviewten Person und den Journalist:innen nicht gerecht. Und es stellt sich die Frage, wie öffentliche Selbstreflektion möglich sein soll, wenn die Erzählung einer Selbstwerdung und Emanzipation für die Auflage medial derart missbraucht wird, dass sie berichterstatterisch in eine reine Absturzgeschichte verkehrt wird.

Boulevard muss nicht skandalisieren

Boulevard muss dieses skandalsierende Framing nicht zwangsläufig bedienen. Glückliche Headlines über Babybäuche, Hochzeiten oder das Liebesglück prominenter Menschen belegen, dass es nicht nur am standardmäßig heimeligen Tragödien-Sound der Klatschblätter liegt, die nicht aus ihrer gedruckten oder digitalen Haut heraus können, sondern auch an einer bewussten Geschäftsentscheidung – die hier zum Nachteil des Journalismus und seiner Protagonist:innen erfolgt.

Mehr zum Thema Boulevardjournalismus:

Vielleicht sollten all die Blattmachenden das Interview erst mal lesen und von Nadja Benaissa lernen, wie man sich weiterentwickelt. Auch für journalistisches Arbeiten gilt: Per aspera ad astra – über raue Pfade gelangt man zu den Sternen.