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Zum Tod von Helmut Schmidt
"Er war eben nicht nur der Macher"

Helmut Schmidt gelte in den Augen der Öffentlichkeit als Macher, aber er habe auch viel über Grundsätzliches nachgedacht, sagte Albrecht Müller, Schmidts Planungschef im Kanzleramt. Er könne vor und nach ihm keinen Bundeskanzler finden, der mit solcher Überzeugung grundlegende Erwägungen propagiert hat. Dazu gehöre auch seine frühe Warnung vor der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche.

Albrecht Müller im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 10.11.2015
    Helmut Schmidt sitzt am Schreibtisch, links hinter ihm eine Bücherwand.
    Bundeskanzler Helmut Schmidt 1976 am Schreibtisch seines neuen Arbeitszimmers im Kanzleramt in Bonn. (dpa)
    Ann-Kathrin Büüsker: Über das politische Wirken und die Person Schmidt habe ich vor dieser Sendung mit einem Mann gesprochen, der über mehrere Jahre hinweg eng mit Schmidt zusammengearbeitet hat. Albrecht Müller war von 1973 bis 1982 Planungschef im Kanzleramt, erst unter Willy Brandt, dann unter Helmut Schmidt. Und ich habe ihn gefragt, wie er Helmut Schmidt erlebt hat.
    Albrecht Müller: Ich habe ihn als angenehm erlebt. Wir waren ja nicht immer gleicher Meinung. Das war ihm auch bekannt und mir bekannt. Als Willy Brandt ging, dann haben wir überlegt. Er hat überlegt, ob er mich behalten will, und ich habe überlegt, ob ich für ihn arbeiten will. Und dann war das eine ganz faire solide Basis.
    Büüsker: Wo waren sie denn unterschiedlicher Meinung?
    Müller: Im Umgang mit seiner Partei zum Beispiel. Er hatte ein unangenehmes Verhältnis zu denen, die sich Links nennen in der SPD, und ich habe ein vernünftiges Verhältnis zu allen gehabt. So denke ich zumindest. Und wir hatten da auch sozusagen strategische Unterschiede. Ich habe ihn sehr oft darauf aufmerksam gemacht, dass der Wahlerfolg zum Beispiel von Willy Brandt nur deshalb so groß war, weil er beide Elemente in der SPD, die eher konservativen als auch die eher progressiven, wahrnahm und ernstnahm, und nur in der Kombination Brandt-Schmidt kann die SPD erfolgreich sein, und das hat Helmut Schmidt nicht so ganz gesehen und eingesehen.
    Büüsker: War Schmidt denn ein echter Sozialdemokrat?
    Müller: Ich denke schon. Ich könnte Ihnen ein paar Beispiele nennen, an denen man das festmachen kann.
    Büüsker: Gerne!
    Müller: Zum Beispiel hat er die wirklich sozialdemokratisch geprägte Ostpolitik des sich Verständigens mit den Völkern Osteuropas und Mitteleuropas genauso ernstgenommen wie Willy Brandt. Er hat das fortgeführt, er hat das ausgebaut mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, und daraus wurde die OSZE, ganz wichtig. Und er hat ja bis zu seinem Tod immer wieder, wenn er sprechen konnte und wenn man ihm zugehört hat, gesagt, es macht keinen Sinn, diese Konfrontation neu aufleben zu lassen. So war das nicht geplant. Das sind jetzt meine Worte, aber dem Sinne nach hat er es so gesagt.
    Dann nehme ich ein anderes Beispiel. Es gibt ein schönes Wort von ihm. Er hat mal gesagt, die soziale Sicherheit ist das Vermögen der kleinen Leute, der kleinen Leute im übertragenen Sinne. Das wissen Sie, was das bedeutet: der Mehrheit der Menschen. Die haben kein großes Vermögen, und deshalb brauchen sie soziale Sicherheit, und deshalb ist es wichtig, dass wir ihnen das gewähren.
    Dann könnte ich noch nennen - da habe ich keinen Bundeskanzler vorher und hinterher gefunden, der zum Beispiel eingesehen hat und das auch selber als seine Überzeugung verteidigt hat und propagiert hat, dass eine Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und insbesondere des Fernsehens und des Hörfunks nicht gut ist für unser Land, nicht gut ist für die Menschen, und er hat sich damit beschäftigt, was das für die Familien bedeutet, was das für die Kinder bedeutet und so weiter. Deshalb hat er mal ein Plädoyer geschrieben, ein Plädoyer für einen fernsehfreien Tag. Da war der fernsehfreie Tag, diese Forderung oder diese Erwägung war ja nur der Hebel, um den Leuten verständlich zu machen, wie wichtig es ist, dass sie überlegen, ob sie nicht besser nicht ertrinken in der Kommunikation nur noch mit dem Fernsehschirm oder mit dem Computer, sondern dass sie auch Freiraum haben für das Miteinander mit anderen Menschen. Dass ein Bundeskanzler solche Erwägungen anstellt, ist meines Erachtens völlig richtig, aber das passiert natürlich ganz selten.
    Büüsker: Wenn Sie das politische Wirken von Helmut Schmidt auf einige Kernpunkte zusammenfassen müssten, welche wären das? Wofür stand er politisch?
    "Schmidt war ein Kanzler der Einheit Europas"
    Müller: Er stand politisch für die erwähnte Fortsetzung des sich Vertragens mit anderen Völkern. Er stand politisch für die Zusammenarbeit in Europa in vielfältiger Weise, mit Frankreich und anderen. Er war auch ganz auf der Linie Willy Brandts, dass wir ein Volk der guten Nachbarn sein sollen gegenüber allen anderen. Er stand für eine gute Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik und die Sache mit der Sozialpolitik habe ich schon erwähnt.
    Allerdings muss man auch wirklich sagen, dass er manchmal etwas wankte. Ich will ja hier das nicht beschönigen. Er wankte in der Sozialpolitik. Er steht auch zum Beispiel für die Operation 82, so hieß das. Das waren erste einschneidende Maßnahmen im sozialen Netz. Das widerspricht sich ein bisschen zu dem, was ich vorhin gesagt habe.
    Und bei einem anderen Phänomen, nämlich bei der Frage der Nachrüstung, stand er natürlich für Nachrüstung, und das ist er auch in den Augen vieler Menschen noch. Da sehe ich ihn aber ganz anders, weil ich erlebt habe, dass er die Fortsetzung der Entspannungspolitik durchgekämpft hat im Jahre 1979/80, als nämlich die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte und Strauß ausrief, so, das ist das Ende der Entspannungspolitik, und auch Herr Genscher, der ja immer noch als Entspannungspolitiker gilt, weil er auch wieder zurückgekehrt ist, sagte, nein, das müssen wir jetzt abdrehen und so weiter, und schon mit Kohl damals, obwohl er noch in der sozialliberalen Koalition war, im April 1980 darüber sprach, ob man nicht eine schwarz-gelbe Koalition machen könne. Helmut Schmidt hat das durchgehalten, Fortsetzung des Dialogs, trotz dieses Einmarsches in Afghanistan, und das war völlig richtig, weil andernfalls nämlich diese Entspannungspolitik abgebrochen wäre. Deshalb sage ich, dass Helmut Schmidt letztlich auch ein Kanzler der deutschen Einheit ist, wenn Sie so wollen, ein Kanzler der Einheit Europas.
    Büüsker: Schmidt galt ja allgemein als Macher, als Pragmatiker. Fehlen solche Personen wie er heute in der Politik?
    Müller: Als Macher könnte man auch Frau Merkel bezeichnen. Er war eben nicht nur der Macher. Er war ja auch der, der nachdachte, und Willy Brandt war nicht nur der, der nachdachte oder träumte, sondern war auch ein Macher. Da wird viel vernebelt und viel falsch gesehen. Richtig ist natürlich, dass man Leute braucht, die etwas umsetzen, aber heute bräuchte man viel mehr Leute, die nachdenken. Zum Beispiel, wie wir Griechenland behandelt haben, oder mit welcher Selbstverständlichkeit wir jede Bank gerettet haben, auch solche, die man nicht hätte retten müssen und wo man dem Steuerzahler viel Geld hätte ersparen können, da hätte man manchmal sehr, sehr viel nachdenken müssen und nicht nur machen. Herr Schäuble macht mir viel zu viel. Es wäre ganz gut, er würde mal über ökonomische Politik nachdenken.
    Büüsker: Albrecht Müller war das, Planungschef im Kanzleramt unter Helmut Schmidt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.