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Vor 75 Jahren uraufgeführt
Das Drama "Endstation Sehnsucht" - Immer noch aktuell

Tennessee Williams benannte sein Drama „A Streetcar Named Desire“ nach einer Straßenbahnlinie in New Orleans. Der deutsche Titel verfälschte es zu "Endstation Sehnsucht“. Dabei zertrümmert das Stück alle romantischen Erwartungen.

Von Cornelie Ueding | 03.12.2022
Die Schlussszene der ursprünglichen Broadway-Produktion von Tennessee Williams' Stück "A Streetcar Named Desire" am 17. Dezember 1947 in New York. Mit Marlon Brando als Stanley Kowalski, Kim Hunter als Stella und Jessica Tandy als Blanche.
Die Schluss-Szene von "Endstation Sehnsucht" 1947 am Broadway in New York, wo das Drama zwei Wochen zuvor uraufgeführt wurde. (picture alliance / AP)
„Wir alle leben in einem brennenden Haus, keine Feuerwehr, die wir rufen können; kein Ausweg, nur das Fenster im Obergeschoss, aus dem wir schauen können, während das Feuer das Haus niederbrennt und wir darin eingeschlossen sind.“
Ein böses Bild, das Tennessee Williams in einem seiner Aphorismen ausmalt – es beschreibt den Kern vieler seiner Erfolgsstücke und trifft in besonderem Maße auf das am 3. Dezember 1947 am Broadway uraufgeführte Stück „Endstation Sehnsucht“ zu: 855 mal wurde es en suite gespielt - viele weitere Neuinszenierungen und eine brillante Verfilmung durch den Regisseur Elia Kazan und seinen Star, den jungen Marlon Brando, folgten. Das Stück um den robusten, polnisch-stämmigen Stanley und die filigrane, etwas versponnene Südstaatlerin Blanche traf ganz offensichtlich den Nerv der fragilen Zeit nach dem Krieg. Hier ruppige Durchsetzungskraft ohne Rücksicht auf Verluste – (jedenfalls solange es andere betraf). Dort ein gezierter und verlorener Rückzug in eine Mischung aus kitschiger Sentimentalität und prüder Pose.

Die zwei Welten von Stella und Blanche

Als die zwei Töchter aus ehedem guten Hause sich nach Jahren in der miefigen kleinen Wohnung von Stella und „ihrem“ Mega-Macho Stanley wiedersehen, prallen Welten aufeinander: Blanche ist entsetzt:
„Erklär mir diese Umgebung hier! Was hast Du in so einer Umgebung zu suchen. … Niemals, nie, in meinen schlimmsten Träumen nicht, hätte ich mir vorstellen können …, dass Du in solchen Verhältnissen leben musst!

„So schlimm ist es doch gar nicht.“ 
Die mühsam retuschierte Hochglanzruine Blanche fantasiert noch immer von „Belle Rêve“, der längst unter den Hammer gekommenen Plantage ihrer Familie. Ihre Schwester Stella dagegen fühlt sich in ihrer „zwei Zimmer, Küche, Bad“-Bleibe an der Endstation einer Tramlinie mit dem schönen Namen „Desire“ eigentlich ganz wohl - zusammen mit ihrem Stanley, einem Typen, den Tennessee Williams als eine potente Proll-Ikone beschreibt:
„... Muskulös und kräftig gebaut, ... prächtig gefiederter Hahn unter Hennen. Er taxiert Frauen mit dem ersten Blick nach sexuellen Kategorien, ordinäre Fantasien schießen ihm durch den Kopf und bestimmen sein Lächeln für sie.“
Als Blanche dann auch noch Zeugin körperlicher Gewalt gegen ihre Schwester wird, bricht es aus ihr heraus:
„Er benimmt sich wie ein Tier! Isst wie ein Tier, redet wie ein Tier … Er hat wirklich etwas Unter-Menschliches … und da haben wir ihn nun - Stanley Kowalski, Überlebender der Steinzeit! … Und da bist du - und wartest auf ihn. Vielleicht schlägt er dich, vielleicht grunzt er auch nur …“

Kowalski - ein Held der Neuen Welt

Blanche hat in diesem Punkt recht: Stella wartet. Und verzeiht. Und versöhnt sich. Nach jeder Attacke neu. Nach Belieben. Versuche, sie da rauszuholen, scheitern an ihrer dumpfbackigen Hörigkeit. ­ Und natürlich an Stanley, diesem fragwürdigen und vor patriotischem Selbstbewusstsein strotzenden Helden der neuen Welt:
„Das hab‘ ich mir zur Regel gemacht. Wenn du in dieser Wettbewerbswelt die Nase vorn behalten willst, musst Du an dein Glück glauben …“ 
Schließlich sei er kein „Polacke“, sondern „hundertprozentiger Amerikaner“, aufgewachsen im größten Land der Erde und verdammt stolz darauf.

Blick in die Frühzeit des Raubtierkapitalismus

Elf Szenen lang bewegt sich das Stück auf die Katastrophe zu. Am Ende wird Stanley Blanche vergewaltigen - und Stella duldet auch das. Zurück bleibt eine völlig zerstörte Blanche. Doch es kommt noch schlimmer, wie die Schauspielerin Susanne Lothar, als sie die Rolle 2004 spielte, betonte:
„Viel schlimmer ist, dass sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird. Und in den 50er-Jahren sind in psychiatrischen Anstalten in Amerika mehr Menschen gestorben als in allen Kriegen und Bürgerkriegen, in denen Amerika jemals bis dato verwickelt war. Also das bedeutete eigentlich den sicheren Tod. Das finde ich das Brutale.“
So beleuchtet dieses Stück aus der Frühzeit des Raubtierkapitalismus auf frappierende Art ein Problemfeld von brennender Aktualität - auch und gerade unserer Zeit, in der sich alle Welt anschickt, nach US-Vorbild wieder „great“ zu werden. Wer aus dem System fällt, auffällig zu werden beginnt, wird schnörkellos und „professionell“ abgeschafft, abgeführt und eingewiesen. Stella schluchzt noch ein wenig, doch Stanley findet wie immer die richtigen Worte:
„Ist gut, Honey. Ist ja gut, Love. Ja, ist ja gut, Love … ist ja gut."