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Vor 110 Jahren uraufgeführt
Gustav Mahlers "Das Lied von der Erde"

Als im November des Jahres 1911 das "Lied von der Erde" zum ersten Mal erklang, war sein Komponist Gustav Mahler wenige Monate zuvor gestorben. Mahler wusste, dass er bald sterben würde und verarbeitete das kompositorisch - vor allem im "Lied von der Erde" gelang ihm das in beeindruckender Weise.

Von Stefan Zednik | 20.11.2021
Gustav Mahler sitzt auf einem Stuhl. Das Foto ist in schwarz-weiß.
Als Gustav Mahler am "Lied von der Erde" arbeitete, wusste er von seinem baldigen Tod. (imago/Leemage)
„Ich war sehr fleißig, (...) weiß es selbst nicht zu sagen, wie das Ganze benamst werden könnte. (…) Mir war eine schöne Zeit beschieden, und ich glaube, dass es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe.“ Das berichtet Gustav Mahler seinem engsten Mitarbeiter Bruno Walter über die Kompositionsarbeit am "Lied von der Erde" im Spätsommer des Jahres 1908. Eine schöne Zeit?
Im vorangegangenen Jahr war die vierjährige Tochter Maria Anna an Diphterie gestorben, die Ehe mit der fast 20 Jahre jüngeren Alma stand unter keinem guten Stern und lag praktisch in Scherben, zudem war bei Mahler eine unheilbare Herzkrankheit diagnostiziert worden. Mahler scheint all dies aufnehmen und in dem Werk verarbeiten zu wollen.

Die "Mahlerischste" von allen Kompositionen

Als die "Mahlerischste" von allen Kompositionen wird Bruno Walter das "Lied von der Erde" in seinen Erinnerungen bezeichnen: „Ich studierte es und erlebte eine Zeit der furchtbarsten Ergriffenheit mit diesem einzig leidenschaftlichen, bitteren, entsagungsvollen und segnenden Laut des Abschieds und Entschwebens, diesem letzten Bekenntnis eines vom Tode Berührten.“
Das "Lied von der Erde" ist ein vertonter Zyklus auf der Basis von sechs Gedichten, Nachschöpfungen chinesischer Lyrik des Dichters Hans Bethge. Fernöstliche Lyrik und Dramatik waren damals in Mode, häufig - so auch beim "Lied von der Erde" - sind es Übersetzungen von Übersetzungen, Chinoiserien aus zweiter und dritter Hand. Mahler fühlt sich durch die Ambivalenz der Stimmungen angesprochen, depressiv-melancholische Farben wechseln ohne Vorwarnung mit scheinbar lebensbejahender Fröhlichkeit ab.


Die Stücke sind für eine Männer- und eine Frauenstimme geschrieben, werden in der Regel mit Tenor oder Bariton und Alt besetzt. Mahler wählt dafür nicht die kleine Form, etwa Lieder mit Klavierbegleitung, sondern das große Orchester. Von manchen wird der Zyklus daher beinahe als Symphonie - es wäre seine neunte - betrachtet.

Der Grund des Lebens

Es ist, als solle noch einmal, ein letztes Mal, die Vielgestaltigkeit der Welt, das ganze Spektrum menschlicher Empfindung, das radikale Up And Down des Lebens eingefangen werden. Die Altistin Renée Morloc hat das "Lied von der Erde" oft gesungen. Sie sagt: „Das ist das Leben, das ist genau das, der Mahler kommt auf den Grund des Lebens mit dem ‚Lied von der Erde‘ .“
Seinen Höhe- und Schlusspunkt setzt der Zyklus mit dem sechsten und letzten Lied, dem "Abschied". Hier hat Mahler wie nirgendwo sonst seine Not, seine Sehnsüchte, seine Verzweiflung künstlerisch gestaltet. Nur in der späteren unvollendeten 10. Symphonie wird er die Aussichtslosigkeit, die geliebte Alma noch erreichen zu können, mit vergleichbarer Deutlichkeit ausdrücken. Mahler schrieb: „Der Teufel tanzt es mit mir. Wahnsinn, fass mich an, Verfluchten! Vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin! Dass ich aufhöre, zu sein ... für dich leben! für dich sterben! Almschi!“
Von Bruno Walter ist überliefert: „Alle Werke bis dahin waren aus dem Gefühl des Lebens entstanden; im Wissen aber um die schwere Herzkrankheit, die ihn befallen, hatte er begonnen, sich von der Sphäre des Lebens seelisch zu lösen. Als ich ihm die Partitur zurückbrachte, fast unfähig, ein Wort darüber zu sprechen, schlug er den ‚Abschied‘ auf und sagte: ‚Was glauben Sie? Ist das überhaupt zum Aushalten? Werden sich die Menschen nicht darnach umbringen?‘“
„Mit dem ‚Herbststück‘ und sowieso mit dem ‚Abschied‘, (..) man versteht es erst gar nicht, aber irgendwann kommt es alles“, so Renée Morloc: „Plötzlich ist das so klar, ich hab gar keine Worte dafür, das trifft vielmehr meine Emotionalität als meinen Intellekt.“
"Das Lied von der Erde" wird zu Lebzeiten Mahlers, der im Mai 1911 stirbt, nicht mehr zur Aufführung gelangen. Am 20. November, sechs Monate nach seinem Tod, erklingt das Werk, dirigiert von Bruno Walter, in München zum ersten Mal. Es zählt nicht nur zu den bedeutendsten Werken Mahlers, sondern zu den populärsten Liederzyklen überhaupt.