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Kampf gegen den IS
"Luftangriffe alleine bringen es nicht"

Bereits im vergangenen Jahr sei deutlich geworden, dass Luftangriffe den IS höchstens "weitere spektakuläre Fortschritte" kosten könnten, sagte Konfliktforscher Christian Hacke im Deutschlandfunk. "Aber in keiner Weise wird er zermürbt und schon gar nicht besiegt". Solange die Terrormiliz nicht geeint am Boden bekämpft werde, habe der IS die stärkeren Karten.

Christian Hacke im Gespräch mit Dirk Müller |
    Ein Kampfjet in der Luft
    Christian Hacke: "Die Ausweitung des Luftkrieges mit der Hilfe der Türkei gegen den IS ist für mich kein Signal, dass die Dinge sich zum Bessern wenden. Im Gegenteil, der IS ist stärker, aggressiver und selbstbewusster denn je." (picture alliance / dpa / Jason Bye)
    Dirk Müller: Die Angriffe der türkischen Luftwaffe gegen den IS – die weitaus meisten Politiker und Beobachter im Westen jedenfalls begrüßen das, wir haben es gehört, auch die Grünen, auch Cem Özdemir hat das getan. Unser Thema jetzt mit Konfliktforscher Professor Christian Hacke. Guten Tag!
    Christian Hacke: Seien Sie gegrüßt, Herr Müller!
    Müller: Herr Hacke, ist das eine Erleichterung darüber, dass der Krieg jetzt so richtig anfängt?
    Hacke: Das wird sich erst zeigen, Herr Müller, das ist gar nicht ausgemacht. Ich glaube, dass es nur eine nächste Etappe in diesem großen Transformationskrieg, den wir erleben, den der IS gegen die Kräfte im Nahen Osten führt und natürlich nun auch zunehmend gegenüber dem Westen, und vergessen wir nicht dass, was in der Türkei passiert ist, jetzt zum ersten Mal natürlich auch Aktivität des IS auf NATO-Territorium, das hat auch eine besondere Bedeutung.
    Müller: Gehen wir noch mal auf den Ausgangspunkt zurück – die Reaktionen jetzt der türkischen Luftwaffe. Längst überfällig?
    Hacke: Natürlich waren sie überfällig, aber nun wissen wir, dass Erdogan ja ganz opportunistisch handelt und natürlich zwei parallele Interessen hatte – zunächst die IS zu schonen, nämlich beide waren für den Sturz Assads und beide natürlich parallel in der Bekämpfung der Kurden. Das ist nun hinfällig, und was ich hier sehe, ist, dass dieser Angriff des IS oder diese neue Eskalation des IS innerhalb der Türkei nun natürlich sämtliche bisherigen Berechnungen auch Erdogans auf den Kopf stellt und nun natürlich die Türkei selbst zum Zielort der Angriffe wird. Und hier ist eine ganz enorme Transformation in Sicht, weil nun ganz neue Gruppierungen und neue Allianzen entstehen können.
    Erdogan: vom Gestalter zum Getriebenen
    Müller: Das war ja auch immer das Argument des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Erdogan, der da gesagt hat, wenn wir da mitmachen im Kampf gegen den IS, dann bekommen wir eigene Terroranschläge im Land. Das war ja nicht völlig falsch.
    Hacke: Das ist nicht völlig falsch, aber es geht ja hier um mehreres. Denn die Türkei hat ja, sagen wir mal, doch in vielerlei Hinsicht jetzt Rückschritte hinnehmen müssen. Einmal hat sich die AKP-Partei von einer, sagen wir mal, doch halbwegs demokratischen Partei zunehmend zu einem autoritären Erfolgs- oder Folgeinstrument oder, sagen wir mal, einem Instrument von Erdogans zunehmender autoritärer Politik entwickelt. Die Verschärfungen des autoritären Regimes im Inneren sind deutlich. Das hat alles auch seine Rolle im Nahen Osten, wo er gehofft hat, dass im Zuge des Arabischen Frühlings also auch die Türkei als ein Vorbild gelten könnte. Das ist alles ziemlich zerfallen. Also er ist vom Gestalter, sagen wir mal, zunehmend nun zum Getriebenen geworden, und das zeigte sich in den vergangenen Jahren in seiner Haltung gegenüber dem IS, die mehrheitsopportunistisch gewesen ist, und diese Rechnung ist nicht aufgegangen.
    Müller: Herr Hacke, schauen wir noch einmal auf dieses Szenario, jetzt im Moment konkret. Es wurde ja immer tunlichst vermieden, jedenfalls von türkischer Seite, auch von rhetorischer türkischer Seite aus, zu sagen, Irak und Syrien, das Territorium, das ist für uns heilig, da machen wir nichts. Jetzt gibt es ganz explizit diese Angriffe auf die Stellungen, es wird ja vermutlich so weitergehen – Nordirak und eben auch syrisches Territorium betroffen. Wenn wir das politisch betrachten – politisch legitim?
    Hacke: Die Frage ist nicht, ob politisch legitim, sondern die Frage ist, ob es effektiv ist und ich sehe in dieser nächsten Stufe – wie ich gesagt habe, diesen Transformationskrieg – eigentlich den IS in der Vorderhand. Allein durch Luftangriffe, das hat das letzte Jahr, das ging ja im letzten Oktober los, hat das gezeigt, dass höchstens der IS an weiteren spektakulären Fortschritten teilweise gehindert werden kann, aber in keiner Weise wird er zermürbt und schon gar nicht besiegt. Und das gilt solange der Westen oder solange überhaupt auch tatkräftige Unternehmungen nicht stattfinden am Boden. Das wird am Boden entschieden.
    "Aber wer soll am Boden dem IS Einhalt geben?"
    Müller: Also auch wenn die Türken jetzt mitbombardieren, es bringt nicht viel, sagen Sie.
    Hacke: Nein. Also Luftangriffe alleine bringen es nicht. Aber wer soll am Boden dem IS Einhalt geben? Wir sehen ja jetzt, die Amerikaner versuchen es mit 3.500 Soldaten, die nun dort die irakische Armee verstärkt wieder aufbauen sollen, das ist ja eine der letzten Entscheidungen gewesen. Das muss man jetzt abwarten. Also da sieht man eigentlich keine großen Fortschritte. Der Kampf um Ramadi, der jetzt also die Rückgewinnung, die soll ja jetzt ausstehen, da wird sich einiges zeigen. In Syrien sehen wir auch den Konflikt zwischen der Türkei und dem Westen und den USA, nämlich natürlich möchte Erdogan, dass das Regime Assad gestürzt wird, das ist aber nicht mehr das Ziel der Vereinigten Staaten, also hier ist auch eine Kluft. Dann ist die zweite Kluft natürlich mit der Frage der Behandlung der PKK, die nun vom Westen, die Peschmerga natürlich auch zum Teil militärisch unterstützt werden, das liegt überhaupt nicht im Interesse Erdogans. Also es gibt genügend Bruchlinien auch innerhalb dieser Allianz jetzt zwischen der Türkei und dem Westen.
    Müller: Erinnert mich, ganz kurz, daran – sorry für diese Zäsur beziehungsweise für diesen Einschub –, dass Sie vor gut zweieinhalb Jahren hier bei uns im Deutschlandfunk auch im Gespräch in unserer Mittagssendung gesagt haben, aus Sicht der Amerikaner, aus realpolitischer Sicht, gibt es viel, viel Schlimmeres als Baschar al-Assad. Ein bisschen ist es ja so gekommen. Der Mann wird aus Washington jetzt wieder in welcher Form auch immer direkt oder indirekt gestützt, das haben sie jetzt auch, oder geschont zumindest – lassen wir es so formulieren –, aber um da noch einmal auf die realpolitische Ebene zurückzukommen – Sie sagen, es bringt alles nicht viel, man kann vielleicht den Vormarsch, die Offensiven eindämmen. Wenn Sie jetzt NATO-Berater wären, Herr Hacke, würden Sie ganz klar sagen – oder auch Präsidentenberater im Weißen Haus –, würden Sie sagen, wir brauchen die Intervention?
    Hacke: Das ist ganz schwierig zu beurteilen, denn natürlich haben wir bisher schon in den vergangenen zehn Jahren durch unsere Intervention oder sagen wir mal, die Intervention des Westens, einmal der USA – Irak, Afghanistan, muss ich nicht sagen, und dann natürlich auch Libyen –, und dann jetzt die problematische Situation in Syrien, also ich wäre sehr vorsichtig, jetzt mit militärischen Mitteln allein zu operieren. Aber Tatsache ist – und das zeigt sich hier auch in diesen letzten Tagen –, diese Aktion vom Islamischen Staat in der Türkei ist Ausdruck einer neuen Stärke, und das Motiv des IS hier sehe ich in einer Verschärfung der Spannungen innerhalb der Türkei, also noch mehr Unruhe und Chaos zu stiften, die sunnitischen Muslime dort zu radikalisieren, also den Konflikt zwischen säkularen und muslimischen Gruppen in der Türkei zu radikalisieren. Also das ist Ausdruck von Aggressivität und Selbstbewusstsein des IS und der hier auch mit Blick auf Türkei dann in Kauf nimmt, und sogar eine taktische Kooperation mit den Kurden, das glaube ich auch. Also das Ganze ist jetzt keine Wende hin, dass eine verstärkte militärische Überlegenheit des Westens stattfindet durch die Türkei, sondern auf der anderen Seite sehe ich eine neue Aggressivität des IS, und das ist jetzt an allen Fronten, und jetzt mit Blick auf Türkei ist das ein ganz neues dramatisches Signal.
    "Der IS hat nach wie vor die stärkeren Karten"
    Müller: Jetzt müssen Sie mir bei der nächsten These helfen, mit der Interpretation, mit der Auslegung, wenn ich die so formulieren darf: Wenn der IS ein Staat ist, was er ja behauptet, und greift die Türkei an in einem Anschlag, Terroranschlag, wie auch immer definiert – ist das ein Angriff auf das Bündnis, ist das ein Angriff auf die NATO?
    Hacke: Das ist alles opportunistisches Kalkül. Wenn der Westen es so interpretieren will oder die NATO, könnten sie es vielleicht, aber keiner ist im Moment bereit innerhalb des Westens. Schauen Sie sich doch unsere Gesamtlage des Westens an: Europa – organisierte Trostlosigkeit, Amerika – Obamas Selbstüberschätzung jetzt natürlich auch mit Blick auf Nahost, der Atomdeal mit dem Iran, und die Reaktion der Kleriker, der klerikalen Kräfte in Teheran zeigen ja, dass dort damit kein Wandel im iranischen Selbstverständnis, in der Politik stattfindet. Kurz und klein: Der Westen ist so schwach, dass er jetzt nicht eine neue Front aufmachen will, abgesehen davon, dass die Europäer jetzt genügend zu tun haben mit ihrer Eurokrise beziehungsweise der Griechenland-Krise. Nein, nein, wir sind in einer ganz schweren Situation, und jetzt diese neue Eskalation ist gar kein Grund, die Dinge jetzt selbstsicherer zu sehen, sondern ist eine neue Stufe, dieses großen Transformationskriegs im Nahen Osten, und der IS hat nach wie vor die stärkeren Karten, solange wir nicht geeint und auch entschlossen und militärisch ihn bekämpfen.
    Müller: Das hört sich so an, als sei ganz, ganz vieles schon verloren und vielleicht gar nicht mehr zurückzudrehen.
    Hacke: Schauen Sie sich das an in Palmyra, wenn Sie dort das antike Erbe sehen, und wenn der Westen oder insgesamt auch dort die Anrainer nicht mehr in der Lage sind, die Schätze und die eigene Identität vor dem Islam zu bewahren, dann ist das mehr als Ausdruck von Schwäche, das ist wirklich schon sehr bedenklich, und dann kann man daraus Verschiedenes ableiten.
    Müller: Aber ich habe Sie ja auch gefragt, haben Sie gesagt, klar, schwierig ist die Situation, Intervention würde jetzt auch nicht mehr helfen, vielleicht nicht helfen oder sehr schwierig zu entscheiden, weil alle anderen Interventionen, an die wir jetzt denken, Sie haben Ihr Beispiel ja genannt – Afghanistan, auch Libyen beispielsweise –, hat im Grunde alles nicht so viel gebracht.
    Hacke: Ja. Also ich würde gerne einen Ratschlag geben. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, es ist ganz furchtbar schwierig. Der Westen hat sich selbst auch in eine schwierige Situation manövriert, aber jetzt die Ausweitung des Luftkrieges mit der Hilfe der Türkei gegen den IS ist für mich kein Signal, dass die Dinge sich zum Bessern wenden. Im Gegenteil, der IS ist stärker, aggressiver und selbstbewusster denn je, dass er nun auch seine Aktivitäten auf die Türkei ausdehnt, die ihn bisher ja nur Vorteile gebracht hat. Und wenn der IS sich entscheidet, das nicht mehr benutzen zu wollen, sondern nun die Türkei direkt anzugreifen, dann strotzen die vor Selbstbewusstsein. Ob sie sich überheben, das ist eine andere Frage, das können wir nur hoffen.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Konfliktforscher Professor Christian Hacke. Danke für das Gespräch! Ihnen trotzdem noch ein schönes Wochenende!
    Hacke: Ich danke Ihnen auch, Herr Müller!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.