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Tribunal vor 150 Jahren
Warum die Sozialdemokratie vom Leipziger Hochverratsprozess profitierte

Ab dem 11. März 1872 mussten sich die Arbeiterführer Wilhelm Liebknecht und August Bebel in Leipzig wegen vermeintlichen Hochverrats verantworten. Ihr Nein zum deutsch-französischen Krieg brachte sie auf die Anklagebank - die sie als Tribüne zu nutzen wussten.

Von Bernd Ulrich | 11.03.2022
 Leipziger Hochverratsprozess- Wilhelm Liebknecht (stehend) Rudolf Hepner und August Bebel 1872 vor dem Schwurgerichtf
Leipziger Hochverratsprozess - Wilhelm Liebknecht (stehend) Rudolf Hepner und August Bebel 1872 vor dem Schwurgericht (picture alliance / akg-images)
Beinahe hätte es an diesem Abend im späten Juli des Jahres 1870 Wilhelm Liebknechts ältesten Sohn getroffen:
Ehe wir zur Stelle sein konnten, waren von den Angreifern verschiedene Fensterscheiben mit schweren Steinen zertrümmert, von denen einer meinem ältesten Sohn, damals ein Säugling, um ein Haar den Kopf zerschmettert hätte."

Bei der Abstimmung über die Kriegskredite enthalten

So beschrieb Liebknecht den Angriff auf seine Wohnung. Die Behausung seines Freundes August Bebel blieb nur deshalb verschont, weil sie schwer zugänglich in einem Leipziger Hinterhof lag. Vorausgegangen war diesen Ereignissen die Kriegserklärung Frankreichs an den Norddeutschen Bund unter Führung Preußens wenige Tage zuvor. Die beiden Arbeiterführer waren nur aus einem Grund zur Zielscheibe patriotisch entflammter Randalierer geworden: Als einzige Abgeordnete der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Norddeutschen Reichstag hatten sie es gewagt, gegen alle Mehrheiten zu handeln. Bei der Abstimmung über die beantragten Kriegskredite in Höhe von 120 Millionen Taler enthielten sie sich der Stimme. Die Kernsätze ihrer schriftlichen Begründung vom 21. Juli 1870 lauteten:
"Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft und alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung.

"Welche Szenen der Wut!" im Reichstag

Am 26. November 1870 verweigerten die beiden neuerlich die Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten. Darüber hinaus forderten sie den Verzicht auf jede Annexion französischer Gebiete. Nun gab es kein Halten mehr. Wilhelm Liebknecht:
"Wenn wir im Reichstag das Wort ergriffen – welche Szenen der Wut! Wie oft wurden wir von ‚drohenden‘ Kollegen umringt; wie oft ballten sich die Fäuste. Ein Wunder, dass es nicht zur Schlägerei kam.“

Abstimmungsverhalten als Landesverrat ausgelegt

Den beiden Arbeiterführern wurde unterstellt, sie hätten mit ihrer Stimmenthaltung die Sicherheit des Landes geschwächt, also Landesverrat begangen. Am Morgen des 17. Dezember 1870 erfolgte ihre Verhaftung, zusammen mit Adolf Hepner, einem Redakteur der SDAP-Zeitung „Der Volksstaat“. Streng isoliert blieben sie bis zum 28. März 1871 in Untersuchungshaft. Doch, so Liebknecht rückblickend:

"Das Hetzen und Drängen dauerte fort. Und so gelang es denn, in fast einjähriger emsiger Arbeit, den verdunsteten Landesverrat in einen nebligen Hochverrat umzuwandeln, besser: in eine Vorbereitung zum Hochverrat."

Dürftige Beweislage

Am Montag, den 11. März 1872, begann vor dem Leipziger Schwurgericht unter reger öffentlicher Beteiligung der Prozess. Für den Straftatbestand der "Vorbereitung zum Hochverrat", mithin für die Vorbereitung eines inneren Umsturzes, konnten keine überzeugenden Belege gefunden werden. Stattdessen, so August Bebel:

"Das Anklagematerial bildete unsere gesamte agitatorische Tätigkeit in Vereinen, Versammlungen, Artikeln und Broschüren ab. Außerdem wurde auch fast die ganze bis dahin in deutscher Sprache erschienene sozialistische Broschürenliteratur als belastend herangezogen, auch wenn wir an deren Verfasserschaft und Verbreitung gar nicht beteiligt waren, wie zum Beispiel bei dem Kommunistischen Manifest.“

Doch kein Abgrund von Landesverrat

Der Prozess bot vor allem eins: eine hervorragende Bühne für Bebel und Liebknecht. Sie sahen ihre Erwartungen noch übertroffen, wie Liebknecht schrieb:

"Der Leipziger Hochverratsprozess, der unsere Partei vernichten sollte, gab ihr einen mächtigen Aufschwung. Die Gegner müssen uns eben wider Willen stets in die Hände arbeiten. Das ist die Rolle, zu der das neckische Schicksal sie verdammt hat.“
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Am 26. März 1872 sprach das Schwurgericht sein Urteil. Der Redakteur Hepner wurde mangels Beweisen  freigesprochen, Liebknecht und Bebel erhielten je zwei Jahre Festungshaft. Als Bebel am 8. Juli seine Haft im nordsächsisch gelegenen Schloss Hubertusburg –– antrat, in dem Liebknecht schon einsaß, hatte er 31 Monate Haft vor sich. Er war mittlerweile noch wegen Majestätsbeleidigung verurteilt worden. Beide nutzten die Zeit für das ausgiebige Studium philosophischer und historischer Literatur. Bebel schrieb zu Beginn seiner Haft an seine Anhänger:
"Seid versichert, die erhaltenen Strafen machen mich nicht mürbe. Die Gesellschaft, die zu solchen Methoden der Belehrung greifen muss verdient, dass sie aufhört zu existieren.“