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Vor 100 Jahren gestorben
Luise Zietz - die erste Frau im SPD-Vorstand

Als Luise Zietz am 27. Januar 1922 starb, war sie so berühmt wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg und zwar nicht nur in der Arbeiterbewegung. Und doch geriet die streitbare Frauenrechtlerin und linke Sozialdemokratin nahezu in Vergessenheit.

Von Regina Kusch | 27.01.2022
Glückwünsche an August Bebel zum 70 . Geburtstag am 22. Februar 1910 : Ausschnitt mit den Unterschriften von Clara Zetkin, Ottilie Baader und Louise Zietz "im Namen der sozialdemokratischer Frauen"
Brief an SPD-Urvater August Bebel zum 70. Geburtstag am 22. Februar 1910: Im Namen "der sozialdemokratischer Frauen" unterzeichnen Clara Zetkin, Ottilie Baader und Louise Zietz (Ausschnitt) (picture-alliance / akg-images)
„Das ist ihr Reichstagsausweis mit der Nummer 453. Der wurde ausgestellt am 17. Juni 1920, und sie gehörte mit zu einer der ersten Frauen im Reichstag.“

Sebastian Schütt verwaltet in dritter Generation den Privatnachlass von Luise Zietz, seiner Ururgroßtante. Sie war vor gut hundert Jahren eine der bedeutendsten Sozialdemokratinnen und deutschlandweit die erste Frau, die 1908 in einen Parteivorstand gewählt wurde. Unermüdlich stritt die Politikerin für die Einführung des Acht-Stunden-Tages, den Mutterschutz und das Verbot von Kinderarbeit. 1865 wurde sie als Luise Körner im holsteinischen Bargteheide geboren und wuchs als älteste von vier Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf, so Sebastian Schütt:
„Ihr Vater war Wollweber und hat sich dann gegen die aufstrebende Industrialisierung gestemmt. Und die Kinder, also Luise und ihre Geschwister, mussten viel und lange im väterlichen Betrieb mitarbeiten, und sie schreibt in einem Aufsatz auch darüber.“:
„Da hockten wir Stunde um Stunde auf dem niedrigen Stühlchen hinter dem Spulrad bei der entsetzlich eintönigen und ermüdenden Arbeit, immer nur spulen, spulen, spulen. Der Rücken schmerzte, der rechte Arm, der das Rad drehen musste, drohte zu erlahmen, die Finger der linken Hand wurden von den scharf gesponnen Fäden, die zur gleichmäßigen Verteilung auf die Spule geleitet werden mussten, blutig gerissen.“

Autodidaktin und Frauenrechtlerin

Ihre spärliche Freizeit verbrachte Luise Körner lesend in der Bibliothek der Dorfschule und träumte von einem besseren und gerechteren Leben:
„In mein Buch vertieft, vergaß ich alles um mich her. Da lebte ich in einer anderen Welt, die das Buch mir erschloss. Und oft habe ich mir vorgenommen, den Helden der Erzählungen, die mir besonders gefielen, nachzueifern.“

Rede-Debüt im Hamburger Hafenarbeiterstreik

Mit vierzehn ging sie nach Hamburg und arbeitete dort als Dienstmädchen, später in einer Tabakfabrik. Auch dort nutzte sie jede freie Minute zur Lektüre, bildete sich im Selbststudium weiter, und schließlich gelang es ihr, eine Ausbildung zur Kindergärtnerin abzuschließen. Nach ihrer Heirat mit dem sozialdemokratischen Hafenarbeiter Carl Zietz engagierte sie sich im Fabrikarbeiterverband für Frauenrechte. Beeindruckt von August Bebels Werk „Die Frau und der Sozialismus“, versuchte sie Arbeiterinnen für die Partei zu gewinnen. Während des Hamburger Hafenarbeiterstreiks 1896 hielt sie ihre erste öffentliche Rede:
„Lasst uns unseren Männern beistehen, dass sie auch ferner die Fahne hochhalten, dass sie nicht zum Streikbrecher werden. Halten Sie ihre Männer nie von dem Besuch der Veranstaltungen ab. Sie selbst müssen sich mit ihrem Mann das Aufpassen der Kinder teilen und selbst zur Versammlung gehen. Wird niemand Streikbrecher, dann wird der Sieg bald unser sein.“

"Der weibliche Bebel"

Bald trug sie in Arbeiterkreisen den Beinamen „der weibliche Bebel“. Mit Clara Zetkin arbeitete sie für die sozialdemokratische Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“. Luise Zietz war keine große Theoretikerin und hielt ihre Vorträge in der einfachen Sprache der Arbeiterschicht. Sie berücksichtigte die Alltagsumstände werktätiger Mütter, indem sie z.B. an Waschtagen keine Versammlungen einberief. Ihre eigene Ehe blieb kinderlos und wurde später geschieden. 1911 schließlich habe sie das erste Mal den Internationalen Frauentag in Deutschland organisiert, so Sebastian Schütt:
Und sie hat ja sehr viele Reden gehalten, deutschlandweit. Zur damaligen Zeit war Reisen auch noch beschwerlicher als heute. Und ich habe gelesen, dass sie es tatsächlich auf 200 Reden in einem Jahr gebracht hat.“

Mitbegründerin der USPD

Während des Ersten Weltkriegs sprach sich Luise Zietz als Pazifistin gegen die Bewilligung von Kriegskrediten aus und wurde aus dem SPD-Parteivorstand geworfen. 1917 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der USPD, die sie bis zu ihrem Tod als Abgeordnete im Reichstag vertrat. Nach einer Rede brach sie dort zusammen und starb einen Tag später am 27. Januar 1922 mit 56 Jahren. Ihr alter Parteifreund Wilhelm Dittmann sagte an ihrem Grab:
„Wenn einst unsere Enkel der großen Vorkämpfer des Sozialismus aus unserer Zeit gedenken werden, dann werden sie unter den ersten Namen auch den unserer Luise Zietz nennen.“
Mit dieser Prognose irrte Dittmann. Auch wenn Luise Zietz zu Lebzeiten so berühmt war wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg, kennt sie heute kaum jemand mehr. Weder Sozialdemokraten noch Kommunisten haben die eigenwillige Frauenrechtlerin als eine der Ihren in Ehren gehalten.