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Vor 90 Jahren
Als der Fall des Lindbergh-Babys Amerika erschütterte

Vom "Verbrechen des Jahrhunderts" war die Rede, als am 12. Mai 1932 die Leiche des entführten Sohnes von Flugpionier Charles Lindbergh gefunden wurde. Die teils hysterische Suche nach dem Baby und die Täter-Jagd markierten eine Zäsur in der Geschichte von Kriminalistik und Massenmedien.

Von Andrea Westhoff | 12.05.2022
Charles A. Lindbergh Junior. Der 20 Monate alte Säugling wurde  im März 1932 in New Jersey aus seinem Kinderbettchen entführt und am 12. Mai 1932 tot aufgefunden.
Charles A. Lindbergh Jr. im November 1931. Am 1. März 1932 wurde das Baby aus seinem Kinderbettchen entführt (picture-alliance / dpa)
"Vermutlich nirgendwo auf der Welt und zu keinem Zeitpunkt der Geschichte war ein Kind Gegenstand eines so großen öffentlichen Interesses“,


schrieb die "New York Times" am 22. Juni 1930 zur Geburt des ersten Sohnes von Charles Lindbergh, der durch seinen Non-Stop-Flug über den Atlantik von den Amerikanern als moderner Held verehrt wurde.
"Um 15 Uhr wurde die Neuigkeit verkündet; das Lindbergh-Baby blinzelte ins helle Sommersonnenlicht und die Kunde ging blitzartig um die Welt. Radiostationen unterbrachen ihre Sendungen."
Alle kannten, liebten, „Lindy‘s Baby“ – umso größer der Schock, als das Kind knapp zwei Jahre später erneut die Schlagzeilen bestimmte:
"2. März 1932, Hopewell, New Jersey: Charles Augustus Lindbergh Jr., der 20 Monate alte Sohn von Colonel und Mrs. Charles A. Lindbergh, wurde letzte Nacht aus seiner Wiege im Kinderzimmer im zweiten Stock des Hauses seiner Eltern entführt."

19.000 Polizisten ermitteln

Ganz in der Nähe fand man eine zusammensteckbare Holzleiter mit gebrochener Sprosse und im Kinderzimmer die Lösegeldforderung von 50.000 Dollar. Da der oder die Täter noch in New York oder Umgebung vermutet wurden, begann der größte Polizeieinsatz in der Geschichte der Stadt, schrieb die Times:
"Jeder der gesamten, 19.000 Mann starken Polizeitruppe wurde angewiesen, an dem Fall zu arbeiten, egal ob im Dienst oder in seiner Freizeit, und notfalls auf Schlaf zu verzichten."

Trittbrettfahrer fordern Lösegeld

Überall in den Straßen waren „Wanted“-Plakate aufgehängt mit zwei Fotos des kleinen Charles und einer genauen Beschreibung: „Gewicht: 12 – 13 kg, Größe: 73 cm, Haare: blond, lockig, Augen: dunkelblau, Teint: hell.“
Immer wieder wurden Babys aus Kinderwagen gerissen – blonde, aber auch dunkelhäutige – und die verzweifelten Eltern mussten dann beweisen, dass es sich um ihren eigenen Nachwuchs handelt. Es gingen viele, teilweise auch absichtlich falsche Hinweise und Lösegeldforderungen von Trittbrettfahrern bei den Lindberghs ein, bis es schließlich einem Vermittler gelang, Kontakt zu den wirklichen Entführern herzustellen. Es kam auch tatsächlich zur Lösegeldübergabe, nachts auf einem Friedhof, aber das Kind blieb verschwunden. Und dann die schreckliche Gewissheit.

Leiche "teilweise begraben und stark verwest"

„Lindbergh Baby found dead." titelte die "New York Times" am 13. Mai 1932. In den FBI-Akten heißt es genauer: "Am 12. Mai 1932 wurde die Leiche des entführten Babys zufällig gefunden, teilweise begraben und stark verwest."Trotzdem identifizierte sie der herbeigeholte Lindbergh sofort als seinen Sohn.
Der Untersuchung des Gerichtsmediziners zufolge war das Kind etwa zwei Monate zuvor, durch einen "Schlag auf den Kopf" getötet worden. Entgegen der ersten Vermutung, dass das Kind schon bei der Entführung, beim Sturz des Täters von der Leiter, zu Tode gekommen sei. Im späteren Prozess favorisierte die Staatsanwaltschaft die These, dass es brutal erschlagen wurde.
Die aufgebrachte Öffentlichkeit forderte unterdessen, das „Verbrechen des Jahrhunderts“ endlich aufzuklären. Präsident Roosevelt brachte eilig ein Bundesgesetz auf den Weg, mit dem das FBI in Fällen von Menschenraub zuständig wurde. Es ging später als „Lindbergh Kidnap Act“ in die US-Rechtsgeschichte ein. Aber erst im September 1934 waren die Ermittler erfolgreich:

Bis heute viele Zweifel am Todesurteil

Sie verhafteten den vorbestraften, illegal in die USA eingewanderten Deutschen Bruno Richard Hauptmann und stellten einen Teil der markierten Banknoten aus dem Lösegeld bei ihm sicher. Der Indizienprozess, das Todesurteil und die Hinrichtung Hauptmanns auf dem elektrischen Stuhl werden bis heute von vielen Juristen kritisch gesehen, weil der Druck der Öffentlichkeit und der Medien auf alle Beteiligten so immens war. Auch Amerikas tragisches Traumpaar hielt diesen Druck nicht aus. Im Dezember 1935 verließen Charles und Anne Lindbergh heimlich die USA.
Und bald wurden verschiedene Verschwörungstheorien um den Tod des Lindbergh-Babys gesponnen, auch weil der Vater veranlasst hatte, den Leichnam direkt nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung einzuäschern. So tauchten zum Beispiel seit den 1950er-Jahren immer wieder Menschen auf, die behaupteten, der einst entführte Charles Lindbergh junior zu sein.