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Vor 20 Jahren ermordet
Wie der Rechtspopulist Pim Fortuyn die Niederlande spaltete

Extravagante Auftritte und provokante Aussagen: Der Politiker Pim Fortuyn spaltete die niederländische Gesellschaft mit seinen Warnungen über Integration und kulturelle Entfremdung. Er sah sich schon als nächster Premierminister des Landes – wurde am 6. Mai 2002 jedoch erschossen. Sein Tod veränderte das Land.

Von Kerstin Schweighöfer | 06.05.2022
Ein Anhänger des ermordeten niederländischen Rechtspopulisten Pim Fortuyn legt am 6.5.2003 bei einer Gedenkfeier in Hilversum eine Blume nieder.
Nach einem Radiointerview wurde der Politiker Pim Fortuyn auf seinem Weg zum Auto erschossen (picture-alliance / dpa | epa anp Antonisse)
“Pim Fortuyn ist tot!” verkündet der Nachrichtensprecher am 6. Mai 2002 um acht Uhr abends im niederländischen Fernsehen. Rund zwei Stunden zuvor wurde der rechtspopulistische Politiker nach einem Radio-Interview in Hilversum von mehreren Schüssen getroffen. Der Täter, ein fanatischer Umwelt- und Tierschützer, kann kurz darauf festgenommen werden.
Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ist in den Niederlanden ein Politiker wegen seiner Auffassungen ermordet worden. Mitten im Wahlkampf. Neun Tage vor den Parlamentswahlen.
Der Fortuyn-Attentäter Volkert van der Graaf (l) wird am 15.4.2003 in einem Polizeiauto zum Gericht in Amsterdam gefahren.
Der Täter, ein fanatischer Umwelt- und Tierschützer, konnte kurz nach der Tat festgenommen werden. (picture-alliance / dpa/dpaweb | epa anp Marcel Antonisse)
“Die Niederlande sind seit heute nicht mehr die Niederlande”, sagt der Spitzenkandidat der liberalen D66-Demokraten Thom de Graaf. Pim Fortuyn hatte sich bereits als nächster Ministerpräsident der Niederlande gesehen. Das rief der 54-Jährige kurz vor seinem Tod selbstsicher aus seinem Bentley heraus.

Parteien und Medien verunsichert durch exzentrischen Politiker

Die etablierten Parteien und auch die Medien wussten nicht, wie sie mit dem exzentrischen Politiker umgehen sollten. Der Soziologieprofessor hatte sich stets offen zu seiner Homosexualität bekannt und präsentierte sich gerne als Dandy in Maßanzügen mit Chauffeur, Butler und zwei Schosshündchen. Fortuyn scheute sich nicht, in der auf Konsens bedachten niederländischen Gesellschaft zu polarisieren. Im Wahlkampf warnte er vor einem Europa, das in seinen Augen zu schnell wuchs. Und er wollte der Bürokratie den Kampf ansagen.
Der damals unverbindliche niederländische Integrationspolitiker wagte es als erster, ihre Schattenseiten anzuprangern. Damit brach er ein längst fälliges Tabu, so der Groninger Professor für niederländische Politik Gerrit Voerman:
„Fortuyn war ein Wendepunkt in der niederländischen Politik, er brachte die Unzufriedenheit eines Teils der Wähler zum Ausdruck, die die etablierten Parteien ignoriert hatten – Unzufriedenheit über die Einwanderungspolitik und die europäische Integration. Fortuyn sorgte dafür, dass beides auf der politischen Tagesordnung landete. Er markiert den Beginn des Rechtspopulismus in den Niederlanden.“

Fortuyns Partei gewann nach seinem Tod viele Stimmen

“Integration unter Beibehaltung der eigenen Kultur” – so hatte bis dahin das Motto gelautet. Die Bildung von Parallelgesellschaften war die Folge - in Stadtvierteln, die durch Armut und Arbeitslosigkeit ohnehin schon unter Druck standen. So wie in Rotterdam. Dort begann die “Fortuynsche Revolte”, wie sie heute genannt wird: Bei den Kommunalwahlen im März 2002 wurde Fortuyns Lokalpartei Leefbaar Rotterdam – lebenswertes Rotterdam – aus dem Stand zweitstärkste Kraft.
Zwei Monate später war Pim Fortuyn tot. Seine Anhänger zogen aufgebracht durch die Straßen, im ganzen Land rumorte es. Der sozialdemokratische Premierminister Wim Kok mahnte zu Besonnenheit und Ruhe.
Zahlreiche Menschen legen am 8.5.2002 vor dem Rathaus von Rotterdam Blumen nieder.
Nach dem Tod Fortuyns rumorte es im Land (picture-alliance / dpa/dpaweb | epa Anja Niedringhaus)
Bei den Parlamentswahlen neun Tage später wurde Fortuyns nationale Partei LPF, die „Liste Pim Fortuyn“, ebenfalls aus dem Stand zweitgrößte Fraktion. Christdemokraten und Rechtsliberale gingen das Wagnis einer Koalition mit ihr ein. Sie hielt noch nicht einmal ein Jahr. 2008 wurde die LPF aufgelöst. 
Das entstandene Vakuum am rechten Parteienrand wird von inzwischen drei rechtspopulistischen Parteien gefüllt, darunter die „Partei für die Freiheit“ von Geert Wilders, der einen Zuwanderungsstopp aus islamischen Ländern fordert und den EU-Austritt der Niederlande.  
Wilders gilt als radikal rechts, sein größter Konkurrent Thierry Baudet zuweilen sogar als extrem rechts, also antidemokratisch. Verglichen mit ihnen mutet vieles, was Fortuyn vor 20 Jahren forderte, harmlos an.

Mittlerweile viele Europa-Skeptiker in den Niederlanden

„Aus heutiger Sicht ist Fortuyn ein gemäßigt radikaler Rechtspopulist. Denn der Rechtspopulismus in den Niederlanden hat sich seit 2002 radikalisiert.“
Heute gehören die Niederlande zu den Ländern mit den strengsten Immigrations- und Integrationsgesetzen Europas. Und aus den einstigen Mustereuropäern sind Europa-Skeptiker geworden.