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"Stammbaumforschung"
Polizei-Praktiken in Stuttgart bleiben heftig umstritten

Dass die Polizei nach den Krawallen in Stuttart auch die Abstammung der Verdächtigen in den Blick nehmen möchte, hatte zu massiver Kritik geführt. Der Sprecher des Innenministeriums hat das Vorgehen verteidigt: Es sei "polizeiliches Standardvorgehen" auch das soziologische Umfeld zu untersuchen.

Von Gudula Geuther |
Ein beschädigtes Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts nach den schweren Ausschreitungen in Stuttgart.
Die Politik streitet darüber, ob der familiäre Hintergrund der Täter bei den Ermittlungen eine Rolle spielen darf (picture alliance/dpa/Silas Stein)
Es gibt das Vorgehen der Stuttgarter Polizei, und es gibt einen Begriff dafür, den es zuerst aus dem Weg zu räumen gilt: Anders als zuerst in manchen Medien berichtet, hat der Polizeipräsident der Stadt Franz Lutz den Begriff der "Stammbaumforschung" offenbar nicht verwendet als er dem Stadtrat von der Daten-Abfrage bei Standesämtern berichtete.
"Wer immer den auch jetzt in die Arena geworfen hat, dieser Begriff verbietet sich in diesem Zusammenhang. Das ist ein historisch belastetes und nicht angebrachtes Wort", so distanzierte sich Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittag
Was bleibt, sind die Fakten. Die drehen sich um den Versuch, die Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt am 20. und 21. Juni aufzuarbeiten. Dazu gehört die Aufklärung der Lebens- und Familienverhältnisse von Verdächtigen, wie die Ermittler betonen. Und dazu – so zumindest berichtete Polizeipräsident Lutz selbst dem Gemeinderat bereits am Donnerstagabend – gehöre teilweise auch die Abfrage der Nationalität der Eltern. Bei elf deutschen Tatverdächtigen sei nicht geklärt, ob sie einen Migrationshintergrund hätten.
Deutlicher Widerspruch von Grünen und Linken
Noch in der Sitzung gab es daraufhin Widerspruch, wie inzwischen berichtet wird. Bundesweiter Protest regte sich später. "Das verstört mich nachhaltig", twitterte die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken. Der Co-Vorsitzende der Linkspartei Bernd Riexinger fragte rhetorisch: "Eine Straftat ist nur dann eine Straftat, wenn der Täter Migrant ist oder warum braucht es eine Stammbaumforschung?" Und Cem Özdemir, Ex-Grünen Parteichef und Bundestagsabgeordneter mit dem Wahlkreis Stuttgart forderte den Polizeipräsidenten auf, den Vorschlag zurückzuziehen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Stuttgarter Gemeinderat, Martin Körner, hatte schon zuvor das Kriterium des Migrationshintergrunds hinterfragt, das hätten in dieser Altersklasse 60 Prozent der Jugendlichen in der Stadt. Und auch sein Parteifreund, Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius, rückte die Frage in die Nähe des so genannten Racial Profiling.
Verteidigung des Vorgehens von der CDU
Dagegen griff der CDU-Innenexperte Armin Schuster die Kritiker scharf an, sprach von andauernden rhetorischen Tritten linker Politiker gegen die Polizei und bot als Erklärung für die Abfrage an, polizeiliche Täteranalysen seien nach solchen "Exzessen" polizeilicher Standard. In einer Pressemitteilung hatte die Stuttgarter Polizei gestern betont, die Verdächtigen seien überwiegend Jugendliche oder Heranwachsende, also unter 21. Da bedürfe es für die Präventionsarbeit maßgeschneiderter Konzepte und Kenntnis über die Lebensumstände. Heute machte sich das der Sprecher des Bundesinnenministeriums zu eigen. Steve Alter ergänzte:
"Insofern ist es ein polizeiliches Standardvorgehen, dass auch das soziologische Umfeld im Rahmen der Erforschung des Sachverhalts mit eingeschlossen wird, und das schließt selbstverständlich auch die Eltern mit ein."
Und konkret:
"Da kann ich mir schon vorstellen, dass es eine Rolle spielt, ob möglicherweise eine gesellschaftliche Bindung noch gar nicht eintreten konnte, weil jemand erst wenige Tage oder wenige Wochen im Land ist."
Konfliktforscher - "Dehumanisierung spielt eine sehr große Rolle"
Andreas Zick glaubt, die Randalierer in Stuttgart hätten sich im Sinne eines "Wir gegen die Polizei" zusammengefunden. Das entspreche dem Zeitgeist, der zunehmend Gewalt billige, erklärte Zick im Dlf.
Ähnlich auch Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl. Allerdings ergibt sich die Lebensdauer in Deutschland nicht aus der Nationalität der Eltern. Auch deshalb sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein in Deutschlandfunk Nova, im Einzelfall könne der Migrationshintergrund zwar eine Rolle spielen, "aber dieses Kriterium systematisch zu erheben, dass gibt die Regelung meines Erachtens nicht her."
Es müssten die Lebensumstände aufgeklärt werden: Alter, Entwicklung, Bildungshintergrund, aber dafür müsse man mit den Personen und ihrem Umfeld sprechen. Der Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink kann vorläufig keine gesetzliche Grundlage für die Abfrage erkennen, habe aber, wie er sagte, auch noch keine nähere Begründung von der Polizei erhalten.