Sonntag, 28. April 2024

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Sturmflut von 1962
Die Nacht, als Hamburgs Deiche brachen

Hamburg schläft, als das Orkantief "Vincinette" in der Nacht auf den 17. Februar 1962 mit großer Wucht auf die deutsche Nordseeküste trifft und Deiche aufreißt. Allein im Gebiet der Hansestadt fordert die Sturmflut 315 Tote.

Von Martin Tschechne | 16.02.2022
Der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg gesehen von einem Bundeswehr-Hubschrauber aus am Tag nach der Sturmflut vom 17. Februar 1962
Der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, gesehen von einem Bundeswehr-Hubschrauber aus am Tag nach der Sturmflut vom 17. Februar 1962 (picture alliance / dpa)
"Kommando von 104 Peter kommen." - "Ja, sprechen Sie." - "Wir sind seit drei Uhr hier eingesetzt. Bei unserem Eintreffen wurden in den Kolonien hier mehrere Hilferufe gehört von uns. Wir konnten jedoch nicht eingreifen, da das Wasser schon zu hoch war. Es ist zu vermuten, dass hier mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Ende."

Eine Flut, die alle Vorstellungen überstieg

Wer in dieser Nacht in Hamburg den Funkverkehr von Polizei oder Feuerwehr verfolgte, der wurde Zeuge einer Katastrophe, wie sie das Land an der Küste bis tief hinein in die Flussmündungen seit Jahrhunderten immer wieder heimgesucht hatten. Die norddeutschen Küstenschützer wussten also um die drohende Gefahr und bauten ihre Deiche noch fester, noch ein Stück höher. Diesmal aber überstieg die Orkanflut in ihrer gnadenlosen Heftigkeit alle Vorstellungen. Hubschrauber Michel 342 meldet:
"Brauchen dringend, dringend Schlauchboote, äußerste Gefahr hier." - "Ja, 82, bitte angeben: wo sind Sie?"- "Niedernfelde, Niedernfelde, zwanzig bis dreißig Menschen in höchster Lebensgefahr. Kleine Kinder dabei" - "Ja." - "Wir warten und warten und warten.“
Ihren Ausgang nahm die Katastrophe am Freitag, den 16. Februar 1962. Am Abend spielte der NDR „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn. „Rollend in schäumenden Wellen bewegt sich ungestüm das Meer“, heißt es in dem Oratorium, beinahe prophetisch. Bis um 20.33 Uhr der Gesang ausgeblendet wurde:
"Meine Damen und Herren, wir unterbrechen unser Programm für eine wichtige Durchsage des Hamburger Seewetteramtes. Für die gesamte Nordseeküste besteht die Gefahr einer sehr schweren Sturmflut.“

Am Morgen brachen Strom- und Telefonnetz zusammen

Der Rettungshubschrauber über Hamburg Neuenfelde, meldet achtfachen Deichbruch. Die Bewohner von Wilhelmsburg und Finkenwerder lagen im Schlaf, als die Sturmflut die Deiche brach. Am Morgen um kurz nach drei erreichte der Pegel bei St. Pauli 4,03 Meter über dem mittleren Hochwasser, 5,73 Meter über Normalnull. Rathaus und Rödingsmarkt in der Innenstadt standen unter Wasser.
Um vier waren 120 Quadratkilometer überflutet, ein Sechstel des Hamburger Stadtgebiets. Zur gleichen Zeit brach die Stromversorgung zusammen, fast in der ganzen Stadt, später auch das Telefonnetz. Und jede Stunde zählte. Es ging um Hunderte von Menschenleben. Schon am nächsten Tag hatte der junge Innensenator Helmut Schmidt aber auch jede Möglichkeit genutzt, um Hilfe zu organisieren:
"Die Bundeswehr wird gemeinsam mit amerikanischen Fliegern morgen in vermehrtem Maße für diesen Zweck Hubschrauber einsetzen. Außerdem sind über die große Zahl von Schlauchbooten hinaus, die am heutigen Tag für diesen Zweck eingesetzt worden sind, weitere Schlauchboote und auch Sturmboote der Bundeswehr im Anmarsch auf Hamburg, ebenso Schlauchboote der Polizeikräfte und des Bundesgrenzschutzes aus umliegenden Gebieten, mit deren zusätzlichen Einsatz für diesen Zweck – Bergung von Menschen aus isolierten Häusern – im Laufe des Vormittags gerechnet werden kann.“
Sturmflut in Norddeutschland Februar 1962: Eine Frau wird mit einem Schlauchboot in Sicherheit gebracht.
Sturmflut in Norddeutschland Februar 1962: Eine Frau wird mit einem Schlauchboot in Sicherheit gebracht. (picture-alliance / Gerd Herold)

Werden die Nordsee-Deiche künftig halten?

315 Menschen kamen in dieser Nacht in Hamburg ums Leben, 20.000 mussten aus ihren Häusern gerettet werden, hunderte verloren ihr Heim. Das Orkantief „Vincinette“, die Siegreiche, traf die gesamte deutsche Nordseeküste mit voller Wucht. Es war nicht die letzte Sturmflut seither, es folgten sogar noch höhere – aber die Deiche hielten. Wir haben dazugelernt, sagt der Klimaforscher Ralf Weisse vom Helmholtz Zentrum in Geesthacht an der Elbe. Nur: irgendwann werden Deiche nicht mehr ausreichen.
"Wir erwarten zum Ende des Jahrhunderts etwa 30 Zentimeter bis einen Meter Meeresspiegel-Anstieg an unseren Küsten, und die Unsicherheiten sind im Wesentlichen darauf zurückzuführen, wie wir uns mit den Treibhausgasemissionen weiter verhalten und wie insbesondere das Schmelzverhalten der Antarktis sich ändern wird.“
Es habe sich etwas geändert seit damals, sagt der Forscher: Flutkatastrophen werden heute von Menschen gemacht.