Dienstag, 16. April 2024

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Türkei
Roth: Erdogan "spaltet das Land"

Die Sprache Erdogans gegenüber seinen politischen Gegnern sei gefährlich, sagte Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) im DLF. Die EU-Beitrittsverhandlungen sollten aber weitergeführt werden, denn man dürfe nicht die Tür für diejenigen verschließen, die nicht Erdogan gewählt hätten.

Claudia Roth im Gespräch mit Silvia Engels | 31.03.2014
    Silvia Engels: Am Telefon ist Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, von Bündnis 90/Die Grünen und jahrelang in der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Guten Tag, Frau Roth!
    Claudia Roth: Guten Tag, Frau Engels.
    Engels: Sind Sie enttäuscht?
    Roth: Ja, ich bin enttäuscht, weil dieses Ergebnis ist zum einen ernüchternd, aber auch sehr beunruhigend. Vor allem beunruhigend sind ja die offenen Drohungen, die Erdogan ausgesprochen hat. Er spricht von Feinden, die fliehen müssen. Er spricht von Feinden, die er aus der Höhle treiben will. Und er nimmt dieses Wahlergebnis als Ermutigung, als Bestätigung für seine Politik der massiven Repression. Ich erinnere an Twitter, an YouTube, an den Gezi-Park, wo er faktisch Krieg gegen einen Teil seiner Bevölkerung kommandiert hat. Und er sagt ja auch, dieses Wahlergebnis heißt, es gibt überhaupt keinen Grund mehr, sich über Korruption Gedanken zu machen, das ist jetzt alles vom Tisch. Und das ist natürlich gefährlich, weil diese Sprache, die er benutzt, dieses "Die Feinde sind die anderen", "Wir und die anderen", er grenzt aus, er spaltet das Land. Und diese Spaltung und diese tiefen Brüche in der Gesellschaft in der Türkei wirken sich auch auf die Migranten aus der Türkei hier bei uns aus.
    Engels: Ähnlich wie Sie hat auch die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Akgün heute Früh im Deutschlandfunk reagiert. Sie hat aber auch schon eine Konsequenz verlangt, nämlich die, dass mit der gegenwärtigen Regierung in der Türkei nicht mehr über einen EU-Beitritt zu verhandeln sei. Schließen Sie sich an?
    Roth: Das halte ich für falsch, muss ich ehrlich sagen. Ich glaube, wir haben es mit dieser Regierung zu tun. Und die Europäische Union darf jetzt nicht die Tür vor all denen zuschließen, die Erdogan nicht gewählt haben. Es gibt ja gute Ergebnisse der CHP in Istanbul, leider hat es nicht gereicht, es gibt die Information, dass es möglicherweise zu Manipulationen in Ankara gekommen sei, aber immerhin 50 Prozent haben ihn nicht gewählt. Und es ist in unserem eigenen Interesse jetzt, dass im Rahmen der Europäischen Union, aber auch in der deutsch-türkischen Beziehung Zivilgesellschaft unterstützt wird. Zehntausend Menschen waren freiwillig Wahlbeobachter. Sie wollen nicht, dass diese Wahl als Freibrief für autoritäre Herrschaft gilt. Und deswegen soll die Union, die Europäische Union sagen, Erdogan und die AKP ist die noch regierende Macht in der Türkei, jetzt wird aber konsequent an den Punkten verhandelt, um die es gehen muss: um Demokratie, um die Innenpolitik, um die Pressefreiheit, um die Meinungsfreiheit, um die Kunstfreiheit, um die Freiheit von Bürgerrechten auch in der digitalen Welt. Zu sagen, mit denen kann man nicht verhandeln, heißt, man schwächt all diejenigen, die den Weg nach Europa wollen und auch in der Türkei eine andere Politik.
    Engels: Ist das nicht für Erdogan das Signal, dass auch er Business as usual betreiben kann, was die Repressionsmaßnahmen angeht?
    Roth: Wenn man das anders angeht. Ich meine, wenn man sagt, Erdogan, jetzt wird das Kapitel eröffnet, wo es um Innenpolitik, wo es um Bürgerrechte geht. Und wo man auch übrigens im Zusammenhang mit einer humanitären Katastrophe, einer politischen Katastrophe und Krise in Syrien muss es doch unser Interesse sein, sich Erdogan, den Außenminister vorzunehmen – ich sage das sehr friedlich – und zu sagen, was sind das für Informationen, dass die Türkei ganz offensichtlich auf eine Militarisierung des Konflikts in Syrien setzt.
    Engels: Da kommen wir gleich noch drauf zu sprechen. Lassen Sie mich hier aber noch einmal einhaken. Was erwarten Sie denn von der Bundesregierung, falls Erdogan tatsächlich diese ja recht unverhohlene Drohung wahr macht, gegen politische Gegner noch ganz anders vorzugehen als bisher?
    Roth: Ich erwarte ganz klare Kritik. Ich erwarte ganz klares Demarchieren, ich erwarte ganz klar, dass die Europäische Union und die entsprechende Kommission innerhalb der Europäischen Union, dass die EU-Kommission klar macht, jetzt setzen wir uns an einen Tisch und jetzt geht es darum, zu definieren, was heißt eigentlich Pressefreiheit. Warum sind in der Türkei die meisten Journalisten auf der ganzen Welt im Schnitt im Gefängnis, über 100 Journalisten? Was heißt das? Kann ein Land, das in Beitrittsverhandlungen sich befindet, einfach digitale Repression ausüben?
    Engels: Im bilateralen Verhältnis erwarten Sie keine Konsequenzen, sehe ich das richtig?
    Roth: Ich glaube, man muss sich immer fragen, wem hilft ein Ende von Dialog, wem hilft ein Ende von Beziehungen? Nur dürften dann bestimmte Visumsfragen, Visumserleichterungen, dass das auch im Interesse der Türkei ist, das kann man dann durchaus mit politischen Forderungen verknüpfen. Und die Bundesregierung kann und sollte die Zivilgesellschaft in der Türkei unterstützen, also die Journalistenverbände, die Gewerkschaften. Da gibt es sehr, sehr viele. Wir könnten in Deutschland und sollten ausnutzen, dass es über 80 Städtepartnerschaften hat. Es hat sich im letzten Jahr eine Zivilgesellschaft in der Türkei herausgebildet, die muss man unterstützen, die muss man auch in Schutz nehmen vor einer möglichen Drohung oder vor möglichen Konsequenzen, die Erdogan angekündigt hat, wenn er von Verhaftungswelle spricht.
    Engels: Kommen wir auf einen Aspekt zu sprechen, den Sie eben schon angerissen haben. Es ist ja nun so, dass auf YouTube – das war der Grund für die Sperrung – ein Mitschnitt aufgetaucht ist, der wohl auch einiges Wahre enthält. Da geht es darum, dass der türkische Geheimdienst in vertraulichen Gesprächen mit der Regierung offenbar Szenarien für eine Provokation mit Syrien ausgetüftelt hat. Das könnte einen Krieg auslösen. Muss die NATO auf dieses mögliche Verhalten, muss man ja sagen, auf dieses mögliche Verhalten eines ihrer Mitglieder reagieren?
    Über Claudia Roth:
    Geboren 1955 in Ulm, Baden-Württemberg. Die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen studierte zunächst Theaterwissenschaften, Geschichte und Germanistik in München. Nach dem Abbruch des Studiums war sie als Dramaturgie-Assistentin an den Städtischen Bühnen Dortmund tätig und managte später die Politrockband "Ton Steine Scherben" und auch Rio Reiser. Seit 1987 ist Roth Mitglied bei den Grünen. Zwischen 1989 und 1989 war sie Abgeordnete im Europäischen Parlament, seit 1998 ist sie Mitglied im Bundestag. In Partei und Fraktion übernahm sie seitdem verschiedene Funktionen, zuletzt als eine der beiden Parteivorsitzenden bis 2013. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe des Bundestages.
    Roth: Ja! Auf jeden Fall nachfragen, was da dran ist an diesen Gerüchten. Ich meine, seit geraumer Zeit hat sich Erdogan als einer der Großführer der Sunniten dargestellt, was übrigens auch zu einer weiteren Spaltung innerhalb der Türkei führt, denn in der Türkei gibt es ja nicht nur eine sunnitische Bevölkerung, sondern mindestens 15 Millionen Aleviten. Es gibt Christen, es gibt Juden. Und er ist der große Führer der Sunniten und in klarer Konfrontation zu Assad. Allerdings diese Drohung, möglicherweise zu provozieren, dass es dann zu einem militärischen Eingreifen kommt, das kann ja nun nicht das Ziel sein, das die NATO unterstützt. Und deswegen muss auch im Rahmen der NATO ganz klar festgelegt werden, was die Rolle der NATO ist und des NATO-Mitglieds Türkei in dieser sehr, sehr, sehr gefährlichen Krise.
    Engels: Reicht denn da Nachfragen oder muss man nicht von der NATO aus selbst eine tiefergehende Untersuchung anordnen?
    Roth: Die NATO muss sich– es sind ja wichtige Sitzungen, es wird ja auch einen neuen Vorsitzenden geben im Rahmen der NATO -, dass die NATO ganz klar sagt, dass es nicht darum gehen kann, dass militärisch in Syrien interveniert wird. Und was anderes hatte das ja gar nicht zum Ziel, wenn gesagt wird, es wird von Syrien aus provoziert, um dann ein Argument zu haben, es wird einmarschiert oder es wird angegriffen. Das ist eine Kamikaze-Strategie und wenn das ein NATO-Mitgliedsland tut, dann muss auch da eine klare Grenze gesetzt werden. Also nicht nur darüber reden, sondern eine klare Haltung der NATO zu diesen Gerüchten und zu diesen offensichtlichen Ideen, mit einem militärischen Eingreifen den Konflikt in Syrien weiter anzuheizen.
    Engels: Claudia Roth war das, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und jahrelang in der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Wir sprachen mit ihr über den Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei. Vielen Dank für das Gespräch.
    Roth: Vielen Dank, Frau Engels.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.