Montag, 29. April 2024

Archiv

Vor 100 Jahren
Als die "Semana de Arte Moderna" Brasiliens moderne Kunst gebar

Vor 100 Jahren begann mit der "Woche der Modernen Kunst'" in São Paulo der Aufbruch der brasilianischen Kunst in die Moderne. Er wird derzeit mit landesweiten Aktivitäten als Akt des Widerstands gegen die kulturfeindliche Regierungspolitik gefeiert.

Von Peter B. Schumann | 13.02.2022
Sao Paulos Kultur-Sekretär Sergio Sa, 2021 bei der Präsentation der millionenschweren Feiern zum Gedenken der Semana de Arte Moderna vor hundert Jahren
Sao Paulos Kultur-Sekretär Sergio Sa, 2021 bei der Präsentation der millionenschweren Feiern zum Gedenken der "Semana de Arte Moderna" von 1922 (picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Von Johann Sebastian Bach inspiriert und mit Elementen der brasilianischen Folklore des Nordostens versetzt sind die Bachianas Brasileiras genannten Suiten von Heitor Villa-Lobos. Diese Form der Aneignung fremder Kultur und ihre Verschmelzung mit der eigenen Tradition zu etwas Neuem, Selbständigem, das wollte die "Semana de Arte Moderna", die "Woche der modernen Kunst", demonstrieren. Am 13. Februar 1922 wurde sie im Teatro Municipal von São Paulo eröffnet. Und damit begann der Aufbruch der brasilianischen Kultur in die Moderne. Was bedeutet das? Für Henry Thorau, einer der besten Kenner Brasiliens:
„Das bedeutet, wir sind Brasilianer. Dazu kam dieses berühmte Diktum Tupí oder not Tupí that is the question. Und Tupí ist eine indigene Sprache. Das heißt, Hinwendung zu den brasilianischen Wurzeln. Das alles fand statt im Teatro Municipal. Das ist ein der Opéra Garnier nachempfundener Musik- und Operntempel, ein neobarockes Gebäude. Es waren die jungen Wilden, die diese alte Kultur stürmten, das waren im Grunde Bilderstürmer, Theaterstürmer, Literaturstürmer.."

Französischer Kulturimperialismus?

Die alte Kultur wie dieser Musentempel, so meinten sie, hätte so gar nichts mit Brasilien zu tun. Sie wäre Ausdruck der wohlhabenden, bürgerlichen Schicht, die sich am Ausland, zumeist an Paris, orientierte. In diesen Kreisen wurde gern Französisch parliert und bevorzugt französische Literatur, Musik und Kunst goutiert. So fühlte man sich als Teil dieser großen Kulturnation. Sogar die brasilianische Akademie der Künste wurde von einem Franzosen gegründet.

Mehr zum Thema Brasilien:


Mit deren dogmatischem Akademismus, überhaupt dem angestaubten Kulturkonservatismus, brach eine junge Generation von Künstlerinnen und Künstlern wie Tarsila do Amaral oder Di Cavalcanti, von Schriftstellern wie Oswald und Mário de Andrade oder von Komponisten wie Heitor Villa-Lobos. Als ihre erste, gemeinsame Protestaktion veranstalteten sie die Semana de Arte Moderna.

Kubistische Menschenfresser

Auch sie bekamen ihre ersten Anregungen aus Frankreich, allerdings von der Avantgarde, den Kubisten, die sie bei Aufenthalten in Paris kennengelernt hatten. Dazu Henry Thorau:
Oswald de Andrade hat gesagt: ‚In Paris habe ich Brasilien entdeckt.‘ Er hat den Kubismus gesehen, die afrikanischen Hintergründe, hat sich das anverwandelt, nach Brasilien übertragen, die Form mit brasilianischen Themen gefüllt. Auf dem berühmten Bild von Tarsila do Amaral Abaporu, "Der Menschenfresser", sieht man deutlich die Einflüsse des Kubismus, anverwandelt in der brasilianischen Kunst.“

Tropicalismo als Fortsetzung der Avantgarde mit anderen Mitteln

Der Anschlag auf den kulturellen Status quo traf auf heftige Ablehnung. Doch trotz massiver Anfeindungen setzte sich die kulturelle Avantgarde allmählich in den 1920er- und 30er-Jahren durch. Und sie fand in den 60er- und 70er-Jahren, inmitten der Militärdiktatur, im sogenannten Tropicalismo, ihre Fortsetzung, sozusagen in einem zweiten Aufbruch, so Henry Thorau:
„Der Tropicalismo verbindet die E-Gitarre eines Jimi Hendrix mit der schwarzen Kultur in Brasilien. Dieses Thema der Schwarzen gab es in den 20er-Jahren nicht, die waren ignoriert worden. Das ist jetzt neu. Damals war es mehr die indigene Kultur. Insofern fand eine Veränderung statt. Es ist aber ein Wiederaufflammen dessen, was es in den 20er-Jahren gab, unter neuen Vorzeichen, inhaltlich und formal."

Und dann kam Bolsonaro

Seither wird die Originalität der brasilianischen Kultur, die sich damals herauskristallisierte, weltweit geschätzt. Nur der rechtsextreme Präsident Bolsonaro verleugnet dies und gefährdet besonders die Existenz der progressiven Ausdrucksformen durch den Abbau vieler Fördermaßnahmen und durch Zensur.