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Vor 100 Jahren geboren
Carl Amery - ein bayerischer Moralist

Als Mitglied der Gruppe 47 und Mitbegründer der Grünen bewegte sich der Essayist und Romanautor Carl Amery zwischen Literatur und Aktivismus – und forderte von den Kirchen eine klare Haltung zur ökologischen Menschheitsfrage. Vor 100 Jahren wurde er in München geboren.

Von Florian Ehrich | 09.04.2022
Der Schriftsteller, Naturschützer und Zeitkritiker Carl Amery
Der Schriftsteller, Naturschützer und Zeitkritiker Carl Amery war auch ein überaus kritischer Kirchgänger (imago stock&people)
„Stellen wir uns vor, was Tieck, was Eichendorff, was Stifter vom Zustand unserer Wälder zu künden hätten. Was Jean Paul an und in unseren Wiesen vorfinden würde. Was Goethe, Platen, Heine über den Tod des Mittelmeeres, der Delfine und Nereiden mitzuteilen hätten.“ - Carl Amery in seinem Vortrag „Vom Ende der Natur“: Mit einem Rückgriff auf deutsche Klassiker verdeutlicht der Redner sein Entsetzen über die Zerstörung der Natur durch den Menschen.
Stets ein scharfsinniger Beobachter seiner Zeit, war der am 9. April 1922 in München als Christian Anton Mayer Geborene einer der wenigen deutschen Autoren, die sich grundlegend in die Umweltproblematik einarbeiteten: „Ich seh' mich selber in einer etwas vielleicht altmodischen Rolle als Schriftsteller, die in Frankreich einmal Moralist hieß. Moralist ist jemand, der die Gesittung der Gesellschaft kritisch begleitet.“

Befreundet mit Grass und Böll

Carl Amery wuchs in bayrischen Bischofsstädten wie Freising und Passau auf und wurde nach dem Abitur 1940 zum Kriegsdienst einberufen. Nach US-amerikanischer Gefangenschaft studierte er in München und Washington Neuphilologie und Literaturwissenschaft.
Als junger Autor stieß er in den 50er-Jahren zur Gruppe 47, wo er in Heinrich Böll und Günter Grass Freunde fand: „Aber der Witz ist, dass für mich die Gruppe 47 eigentlich ein mehr menschliches Erlebnis war. Die Dosierung des Umgangs mit anderen Literaten war bei der Gruppe 47 ideal: Man hat sie ein paar Tage gehabt, hat sich dann gut mit ihnen verstanden. Dazu kam, dass man die großen Kritiker beisammenhatte.“

"Das Königsprojekt" - katholische Geschichtsmanipulation

In der Gruppe 47 reüssierte er mit seiner 1958 erschienenen Wirtschaftswundersatire „Die große deutsche Tour“. Als Romancier ebenso geistreich wie unterhaltsam, wagte er sich auch auf das Gebiet der Science-Fiction vor: Im Roman „Das Königsprojekt“ geht es um eine katholische Geheimorganisation, die per Zeitmaschine Agenten in die Vergangenheit schickt mit dem Auftrag, die Geschichte nachträglich zugunsten Roms zu verändern - etwa durch einen Mordanschlag auf Martin Luther in der Wartburg.
Denn, so Amery: „Wenn ich Belletristik schreib', dann zieh ich die komische Weltsicht vor, weil sie mir die umfassendere zu sein scheint. Ich habe eben auch viel gelernt von angelsächsischen Autoren, die mir von vorneherein besser lagen als die übliche feierliche Pose der deutschen Belletristik.“

Kritik am "real existierenden Katholizismus“

An seiner Konfession arbeitete sich der kritische Kirchgänger immer wieder ab. Historisch-theologisch hochgebildet, zeigte sich Amery mit seinem Essay „Die Kapitulation oder Der real existierende Katholizismus“ als einer der wortmächtigsten Kritiker der Nachkriegszeit.

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Als durch die Berichte des Club of Rome der Umweltschutz eine immer größere Rolle im öffentlichen Diskurs einnahm, forderte Amery auch von seiner Kirche eine klare Haltung zur ökologischen Menschheitsfrage und machte den biblisch begründeten Allmachtsanspruch des Menschen über die Natur für die Misere mitverantwortlich: "Jedem möglichen Zweifel über diese absolute und totale Überlegenheit steht Gottes Auftrag entgegen. Es ist der ausdrückliche Auftrag der totalen Herrschaft. Sonne und Mond sind Beleuchtungskörper, sonst nichts; Rohstoffe, Flora, Fauna sind ein Arsenal, über das er frei verfügt, sind Jagdterrain und Ernteacker.“

Abkehr von der "ökonomistischen" SPD

Für Amery jedoch sind menschengemachte Systeme, vor allem die Ökonomie, von der Biosphäre abhängig und ihr grundsätzlich untergeordnet. Nur wenn das begriffen und daraus Konsequenzen gezogen werden, sei das Überleben der Menschheit möglich. Aus der SPD trat der Bayer enttäuscht aus, als Helmut Schmidt Bundeskanzler wurde und die ökologische Herausforderung ignorierte: „Indem sich die regierenden Sozialdemokraten unter dem starken Kanzler zu einer ökonomistischen Politik des Krisenmanagements entschlossen, schufen sie die Voraussetzungen für den Abfall der Grünen. Der Rest ist bekannt.“
Amery wurde ein intellektueller Vordenker der neuen Umweltpartei und warb eindringlich für eine Umkehr menschlichen Handelns zugunsten der Schöpfung: "Ja, ich seh‘ das Ganze als eine Art Reifeprüfung für die Spezies. Wenn er das schafft, sich selber nachhaltiger zu machen, als ihm eigentlich von seiner natürlichen Ausrüstung hergegeben ist, dann ist das eine Reifeprüfung von nicht geringen Graden, und das interessiert mich wirklich.“

Mit Carl Amery starb im Mai 2005 ein bayrischer Intellektueller und Weltbürger. Sein Lebensthema einer ökologischen Lebensform der Menschheit ist heute wichtiger denn je.