Donnerstag, 28. März 2024

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"Club-of-Rome"-Bericht von 1972
Soziologe Welzer: "Das Gegenteil eines Lernprozesses"

Unsere Gesellschaft habe Mythen geschaffen, etwa dass man ohne Verzicht leben könne, ohne die Natur zu zerstören, sagte der Soziologe Harald Welzer im Dlf. Dabei habe der Club of Rome bereits vor 50 Jahren die Klimakatastrophe berechnet. Grenzenloses Wachstum in einer begrenzten Welt sei ein Ding der Unmöglichkeit.

Anja Reinhardt im Gespräch mit Harald Welzer | 02.01.2022
Das Braunkohlekraftwerk Jänschwalde der LEAG (Lausitz Energie Kraftwerke AG) und Stromleitungen in Brandenburg
Das Braunkohlekraftwerk Jänschwalde der LEAG (Lausitz Energie Kraftwerke AG) und Stromleitungen in Brandenburg (imago images/Jochen Eckel)
Vor fast genau 50 Jahren veröffentlichte der Club of Rome eine Studie mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“, welche anhand von Rechenmodellen erstaunlich klar voraussagte, was heute Realität ist. Trotz dieser Vorhersagen habe die Gesellschaft kaum Veränderungen akzeptieren wollen, sagte der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer im Dlf. "Erstmal neigen wir nicht zu Veränderungen, wenn wir nicht dazu gezwungen werden." Zum anderen sei der Wachstumskapitalismus ein "unglaubliches Erfolgsmodell", was für viele Menschen Wohlstand, Komfort und andere positive Errungenschaften mit sich gebracht habe.
Andererseits habe der Mensch "mythische Figuren" hervorgebracht, mit denen er sich einreden könne, dass man die Zerstörung der natürlichen Umwelt durch technischen Fortschritt aufhalten könne. Dabei handele es sich aber um eine Lebenslüge. "Aber Wachstum ist gesteigerter Verbrauch, und gesteigerter Verbrauch bedeutet mehr Extraktion von Materialien mit mehr Energieaufwand für mehr Produkte, die mehr Aufwand für die Entsorgung benötigen. Und damit kann man nie im Leben ökologische Probleme bekämpfen." Der Mensch müsse die Gesellschaft von Grund auf "anders denken".
Das Interview in voller Länge

Anja Reinhard: Haben wir etwas aus den Vorhersagen des "Club of Rome" gelernt?
Harald Welzer: Zunächst einmal ist das ganz deprimierend. Das wesentliche Argument der Studie damals war ja ein nichtkatastrophisches Argument und auch kein apokalyptisches. Sondern es war ja die Mitteilung, dass, wenn man – wir sprechen über das Jahr 1972 – mit der Art des wachstumsorientierten Wirtschaftens weitermacht, man zu Beginn des 21. Jahrhunderts massive Probleme bekommen wird, und das war recht gut begründet.
An einigen Stellen hat sich das als historisch falsch erwiesen, an anderen Stellen aber als richtig und in der Grundtendenz natürlich als absolut richtig, weil: Wir haben die Probleme jetzt. Und das Verrückte ist ja, dass – hätte man die Studie vor einem halben Jahrhundert ernst genommen – die Autos kleiner und nicht größer hätten werden müssen, die Wohnflächen geringer und nicht größer, die Welt-Expansionsreisen weniger und nicht mehr. Und alle Parameter sind in die gegenteilige Richtung gestellt worden, als es eigentlich nach Maßgabe der Studie hätte sein müssen.
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Anja Reinhard: Jetzt würde ich sie mal gezielt als Sozialpsychologen fragen. Vor 50 Jahren konnte man sich das vielleicht noch nicht vorstellen. Da war das vielleicht einfach auch noch einen Zeitraum, der ja entworfen wurde in dieser Studie, der zu groß war für das Vorstellungsvermögen eines gewöhnlichen Menschen. Man hätte aber doch nach 20, 30 Jahren eigentlich merken müssen, dass da schon was dran ist. Wieso hat sich immer noch nichts geändert?
Harald Welzer: „Weil das unschön ist. Also erstmal neigen wir nicht zu Veränderungen, wenn wir nicht dazu gezwungen werden. Zum anderen leben wir ja im Wachstumskapitalismus in einem unglaublichen Erfolgsmodell, was für viele Menschen Wohlstandsmehrung, Komfort und alles Mögliche positiv Empfundene mit sich gebracht hat. Wenn man jetzt sagt, das war zwar schön, aber das müssen wir verändern, will das natürlich eigentlich niemand.
Porträt des Soziologen Harald Welzer, 2019
Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer hat sich in mehreren Publikationen mit den Themen Klima, Wachstum und Nachhaltigkeit beschäftigt. (picture alliance / dpa/ Horst Galuschka)
Und genau dieses, „Wir wollen das eigentlich nicht“, hat sich ja jetzt als Ergebnis von Politik niedergeschlagen. Und zwar indem man nicht darüber spricht, dass wir unsere Lebensstile verändern müssen, dass man sich umstellen muss, dass die fetten Jahre vorbei sind – sondern man hat ja ein Modell gefunden, wo man sagt, wir haben total tolle Technologien, wir haben super Ingenieurinnen. Und wir können jetzt einfach so weitermachen. Wir machen nur etwas ganz Tolles, und das heißt Dekarbonisierung, und damit retten wir die Welt.
Das heißt, man hat sich eigentlich dieses Problems entledigt, indem man, wie ich sagen würde, eine mythische Figur aufgebaut hat, weil die ganze Problematik der Ressourcenübernutzung und der Naturzerstörung mit dieser technischen Lösung überhaupt nicht behoben ist.
Anja Reinhardt: Das ist das, was sie „magisches Denken“ nennen. Und dazu würde wahrscheinlich auch gehören, so etwas wie European Green Deal Green Economy. Mittlerweile gibt es auch Green Culture. Also ist es letztlich „Greenwashing“?
Harald Welzer: Nicht immer. Ich möchte da auch nicht missverstanden werden. Ich finde, viele Ansätze haben einen richtigen Kern. Und natürlich ist, wenn man ein Konjunkturprogramm machen will, ist es dann gut, wenn es dann darauf ausgerichtet ist, nachhaltigere Produktionsweisen, nachhaltige Bauformen und sonstwas zu fördern, wie das auch bei diesem neuen Bauhaus auf europäischer Ebene zumindest mal formuliert ist. Das ist eigentlich richtiger als das, was man vorher gemacht hat. Wir erinnern uns an die Finanzkrise, wo man Verschrottungsprämien für funktionierende Autos gegeben hat und so was.
Aber grundsätzlich liegt die Lebenslüge und damit auch das Disfunktionieren der Strategien einfach darin, dass wir die ganze Zeit behaupten, man könne weiterhin wirtschaftlich wachsen und das Klima und die Umwelt schützen. Aber Wachstum ist gesteigerter Verbrauch, und gesteigerter Verbrauch bedeutet mehr Extraktion von Materialien mit mehr Energieaufwand für mehr Produkte, die mehr Aufwand für die Entsorgung benötigen. Und damit kann man nie im Leben ökologische Probleme bekämpfen.
Anja Reinhardt: Jetzt könnte man sagen, der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und das dauert eben, bis man sich an andere Realitäten vielleicht gewöhnt hat oder sie zumindest angenommen hat und verstanden hat, dass man etwas ändern muss. Allerdings können wir ja auch sagen, es gab 2020 im Frühjahr diesen großen Einschnitt mit dem ersten Lockdown. Und da haben wir alle vielfach gehört: Was für eine große Erleichterung das für viele Menschen war, plötzlich eben keine Termine mehr zu haben, nicht mehr die ganze Zeit mit dem Auto hin- und herzufahren. Also alles das, was sozusagen den Energieverbrauch antreibt. Es sieht ja aber so aus, als ob wir daraus gar nichts gelernt hätten.
Harald Welzer: Haben wir auch nicht. Und warum sollte man auch? Ich meine, die Menschen kriegen ja von morgens bis abends erzählt, dass es unheimlich gut ist, wenn sie mehr Produkte haben, wenn sie sich mehr durch die Welt bewegen, wenn sie noch weitere Reisen machen. Die Erzählung ist jetzt inzwischen die, dass wir unfassbar leiden, dass unser Bewegungsraum und unsere Tourismus-Möglichkeiten durch Corona eingeschränkt sind. Wir lesen den Wirtschaftsteil der Zeitung, da feiern sich alle dafür, dass trotz Corona es Wachstumsraten gibt, die Aussichten für die nächsten Jahre sind fantastisch, weil es eine riesige Aufholjagd geben wird und so was. Da ist sozusagen das Gegenteil eines lernen Lernprozesses zu verzeichnen.
Und dasselbe wird man in Bezug auf das nächste große Problem eben die realen Auswirkungen des Klimawandels. Das wird kleingeredet, es wird ignoriert. Denken Sie an das Ahrtal: Es ist auch eine total verrückte Geschichte, dass wir die Realität des Klimawandels in dieser Weise mit 200 Todesopfern vorgeführt bekommen. Und es ist nicht mal ein Thema im Wahlkampf gewesen.
Anja Reinhardt: Wir leben ja auch in einem System, in dem sich in den letzten Jahrzehnten der Staat eigentlich aus dem Prinzip Verantwortung immer mehr herausgehalten hat. Stattdessen muss das Individuum das übernehmen. Übrigens auch das konnte man im Ahrtal sehen. Muss sich das grundlegend ändern?
Harald Welzer: Naja, also, wenn man über Regierungshandeln spricht, dann ist es natürlich, glaube ich, erforderlich, dass wir eine Idee von einer Gesellschaft mit großen ökologischen Problemen entwickeln müssen. Also wenn wir zum Beispiel nur das Wort Klimakrise nehmen, dann suggeriert ja schon allein dieses Wort, dass wir es mit etwas Vorübergehendem zu tun haben: Irgendwann wird diese Krise vorbei sein, sonst wäre sie keine Krise. Das ist ja Quatsch. Wir werden mit dem Klimawandel und seinen Folgen leben, und zwar noch sehr, sehr lange, übrigens auch deswegen, weil es bislang noch null Prozent Emissionsreduktion im globalen Maßstab gegeben hat.
Also werden diese Probleme anhalten, die damit verbundenen sekundären Probleme, verstärkte Flüchtlingsbewegungen, größere Schäden durch Extremwetterereignisse – alles das wird Realität sein. Das heißt, wir müssen unsere Gesellschaft anders denken. Wir müssen sie als eine denken, die auf der einen Seite die massivsten ökologischen Probleme inklusive Klimawandel viel radikaler bekämpft, als es bislang der Fall ist. Und sie muss gleichzeitig eine sein, die sich darauf einstellt, dass wir eine Gesellschaft sein müssen, die resilienter ist, robuster, widerstandsfähiger, vielleicht auch offener für andere Personengruppen, die notwendigerweise zu uns kommen werden. Es heißt, es ist eine ganz neue Gesellschaftsvorstellung gefordert.
Und Politik müsste eigentlich sagen, wer wollen wir denn eigentlich sein im 21. Jahrhundert? Was für eine Gesellschaft wollen wir denn sein? Und diese Perspektive wird ja nicht eröffnet, weil es ist eigentlich die Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die man voraussetzt, die es aber so nie wieder geben wird.
Anja Reinhardt: Hat das möglicherweise etwas damit zu tun, dass es sozusagen dieses protestantische Prinzip des schlechten Gewissens gibt in Bezug auf die Zukunft, die ja oft auch als Apokalypse, Klima-Apokalypse imaginiert wird?
Harald Welzer: Nein, das glaube ich gar nicht. Die Falle liegt einfach darin, dass wir ein Erfolgsmodell haben: Den meisten Menschen geht es sehr gut. Den Menschen in den sogenannten nachrückenden Gesellschaften geht es auch besser, als es ihnen vor zehn oder 20 Jahren gegangen ist. Und das ist ein Ergebnis dieser Form der Wachstumswirtschaft.
Das Problem bei der ganzen Geschichte ist eben nur, und jetzt kommen wir zu den Grenzen des Wachstums zurück, das eben ein grenzenloses Wachstum in einer begrenzten Welt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und wir sind jetzt in einem Stadium angekommen, wo wir die Voraussetzungen für gutes Gelingen des Lebens konsumiert haben. Diese ganze Geschichte fällt uns eben gerade auf die Füße. Die Situation ist so ein bisschen so, als wenn man sich ein paar Jahrzehnte als gesunder Mensch gefühlt hat, und irgendwann sitzt man im Sprechzimmer des Arztes und der sagt, es gibt da ein Problem, sie müssen ihr Leben verändern. Und an genau derselben Stelle befinden wir uns gesellschaftlich, und die Weigerung der Gesellschaft, das zu tun, ist ungefähr genauso wie beim Individuum, der sagt: Aber doch nicht ich, aber das ist doch wahrscheinlich ein Irrtum, ach, das kann doch gar nicht sein, so schlimm wird es schon nicht werden. Also mobilisiert man alle Strategien, um sozusagen den Tatbestand, die traurige Wahrheit zu ignorieren und so lange weiterzumachen, wie es nur irgendwie geht.
Anja Reinhardt: Ich habe das auch deswegen gefragt, weil sie sich für eine Methodik des Aufhörens einsetzen und wir aber eigentlich immer noch so ein bisschen in dieser fast schon nachkriegshaften Erzählung leben, dass man sich etwas aufbauen muss?
Harald Welzer: Ja, da haben Sie natürlich völlig Recht und auch die Vorstellung, dass Aufhören oder Vermeiden oder Dinge seien zu lassen oder gar nichts zu tun, etwas ganz Schreckliches ist – während das immer weitermachen, das immer weiter sich steigern, das lebenslange Lernen, das Aufbauen von Vermögen, das ist was ganz Tolles. Und das haben wir dann natürlich kulturell völlig verinnerlicht. Das lernen Kinder ja auch schon heutzutage in Kindertagesstätten, dass sie besser sein müssen als andere und sich vervollkommnen und so. Und diese Vorstellung ist eine, die passt einfach nicht in eine ökologisch gefährdete Welt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.