"Die Reaktionen in der Schweiz sind tatsächlich so, dass wir hier anscheinend in ein Wespennest gestochen haben. Also die Erwartung der Schweizer ist: Wir sind Nummer eins und zwar weltweit und mit großem Abstand."
Über Platz 14 sind die Schweizer sauer und der Politikwissenschaftler Marc Bühlmann, Leiter des Schweizerischen Jahrbuchs für Politik an der Universität Bern, hat es gerade im eigenen Land nicht leicht. Die Liste ist augenblicklich das Ergebnis des auf zwölf Jahre vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Forschungsprojektes "Demokratiebarometer". Marc Bühlmann und Professor Wolfgang Merkel, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, leiten es seit vier Jahren. Eine Schönheitsliste mit beleidigten Verlierern und hämischen Gewinnern war nicht das Ziel. Im Gegenteil. Gesucht wurde ein Instrument für einen sehr differenzierten Vergleich der 30 vorbildlichen Demokratien der Welt. Neu ist dabei, dass die Zahlen, aus denen sich am Ende - eben auch - ein Ranking stricken lässt, nicht auf Experteneinschätzungen beruhen, sondern auf objektiven statistischen Daten.
"Wir sind zunächst davon ausgegangen, dass es drei elementaren Prinzipien der Demokratie gibt, nämlich politische Gleichheit, Freiheit, aber auch Kontrolle. Und dann haben wir gesagt: Aus diesen drei Prinzipien folgen neun Funktionen, die unbedingt von den Demokratien gut erfüllt werden müssen - so etwas wie Transparenz, politische Beteiligung, rechtstaatliche Garantien, individuelle Freiheiten und so weiter. Und das haben wir runtergebrochen - und jetzt geht es in die Tiefe - auf letztlich 100 empirische Indikatoren. Und mit denen messen wir, wie gut eine Demokratie diese neuen Funktionen erfüllt, und da konnten wir erhebliche Unterschiede feststellen."
Allein die Auswahl aussagekräftiger Messgrößen hat drei Jahre gedauert. Intensive theoretische Diskussionen und viele statistische Überprüfungen waren nötig: Wie misst man etwa die politische Beteiligung, die im Demokratiebarometer die Funktion hat, "politische Gleichheit" zu ermöglichen. Welche Daten nimmt man dafür? Welche nicht? Die Höhe der Wahlbeteiligung in einem Land fiel zum Beispiel aus der Datengrundlage heraus.
"Aber wir haben dahinter nachgesehen, wer beteiligt sich an den Wahlen! Wenn Frauen immer weniger wählen als Männer oder wenn jüngere Leute weniger wählen als alte Menschen in einer Gesellschaft, dann hat das eine Schieflage. Das Volk als solches nimmt nicht insgesamt teil, sondern nur besondere Gruppen, und das ist eine der Erkenntnisse, die wir auch gefunden haben: Die Demokratie ist heute nicht schlechter als vor 30 Jahren - weiß Gott nicht -, aber sie wird sozial ausgrenzender, und man kann sagen, das untere Drittel partizipiert weniger und weniger und weniger. Das scheint mir die große Herausforderung der Demokratie in den nächsten Jahren, dass sie nicht zu einer 50-Prozent- oder Zweidrittel-Demokratie degeneriert."
Die statistischen Daten darüber, wer sich an Wahlen beteiligt, gehören zu den 100 Indikatoren. Die Komplexität des Unternehmens ist hoch, aber einsehbar und nachzuvollziehen. Auf der Webseite www.democracybarometer.org kann jeder die Daten in die Tiefe verfolgen und seine eigenen Vergleiche anstellen. Interessant ist das in erster Linie für die Wissenschaft, aber auch für die interessierte Öffentlichkeit. Bühlmann:
"Ganz konkret: Wenn sie Deutschland, Österreich und die Schweiz sich betrachten, dann sieht man, dass in Deutschland und Österreich vor allem Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenkontrolle und Repräsentation relativ gut ausfällt - immer im Vergleich mit allen anderen 30 etablierten Demokratien -, hingegen Öffentlichkeit, Wettbewerb und Regierungsfähigkeit eher Schwächen sind von Deutschland und Österreich. Das ist in der Schweiz ein bisschen anders. In der Schweiz sieht es so aus, dass die Kontrolle quasi eher von unten geschieht. Also hier haben wir eine relativ schlechte - im Vergleich wieder - Gewaltenkontrolle, nicht so gute Transparenz, dafür ist aber die Regierungsfähigkeit, der Wettbewerb und die Öffentlichkeit, also diese drei Funktionen sind im Vergleich zu dem relativ hoch."
Es geht um eine Balance zwischen unterschiedlichen Funktionen, die sich, wie Marc Bühlmann sagt, auch gegenseitig "beißen" können. Wer den Ausgleich am besten schafft, landet - wenn man denn alles in eine Zahl rechnet - oben auf der Liste. Das ist vor allem in den skandinavischen Ländern der Fall. Dänemark führt das Ranking an. Auch Belgien hat es auf den zweiten Platz geschafft. Das verwundert, bricht das Land doch derzeit alle Rekorde, weil es seit April 2010 keine Regierung zustande bringt. Die statistischen Daten des Demokratiebarometers reichen jedoch nicht bis in die Gegenwart heran, sondern nur bis 2005. Die Lücke, die noch kleiner werden soll, erklärt sich aus der Verfügbarkeit der Daten. Umfragen zur Wahlbeteiligung etwa gibt es nur alle paar Jahre. Überraschend fiel auch die Auswertung für die Länder Frankreich und Großbritannien aus. Sie befinden sich am unteren Ende der Liste. Merkel:
"Großbritannien hat mich eigentlich noch mehr überrascht. Die soziale Selektion - noch mal: die große Malaise der gegenwärtigen Demokratie: sehr ausgeprägt. Dann gibt es weitere Punkte, die in England zu einer Dominanz der Exekutive führen, und es gibt keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die etwa die Rechtmäßigkeit des Regierungshandels kontrollieren würde. Es gab in den letzten zehn Jahren, insbesondere nach den Terrorattacken in New York, Elfter September., eine flächendeckende Überziehung mit Beobachtungsmonitoren der Gesellschaft. Das muss aus einer demokratietheoretischen Sicht als kritisch betrachtet werden."
Aber der Fingerzeig auf Schwächen in den besten Demokratien ist auch nicht das ganze Ziel:
"Was bedeutet es, wenn ein Staat Rechtsstaatschwächen hat? Welche anderen Funktionen werden infiziert? Werden betroffen? Werden geschwächt? Oder gar gestärkt? Also dieser Ausgleich, oder wie man Englisch sagt "trade offs", zwischen den einzelnen Funktionen ist uns viel, viel wichtiger als diese zum Schluss Schönheitszahl, die dann zu der Schönheitsliste der besten, wahrsten Demokratien führt."
Bühlmann:
"Die Idee war, dass man im Vergleich zeigen kann, wo liegen denn die Stärken und wo liegen die Schwächen eines Landes. Um nachher dann zu entscheiden: Sollen Schwächen verbessert werden oder Stärken quasi noch verstärkt werden? Das ist dann eine genuin politische Frage - muss ein politische und insbesondere eine gesellschaftliche Frage sein! Und wir liefern hier ein mögliches Instrument für argumentativ basierte Diskussionen."
Über Platz 14 sind die Schweizer sauer und der Politikwissenschaftler Marc Bühlmann, Leiter des Schweizerischen Jahrbuchs für Politik an der Universität Bern, hat es gerade im eigenen Land nicht leicht. Die Liste ist augenblicklich das Ergebnis des auf zwölf Jahre vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Forschungsprojektes "Demokratiebarometer". Marc Bühlmann und Professor Wolfgang Merkel, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, leiten es seit vier Jahren. Eine Schönheitsliste mit beleidigten Verlierern und hämischen Gewinnern war nicht das Ziel. Im Gegenteil. Gesucht wurde ein Instrument für einen sehr differenzierten Vergleich der 30 vorbildlichen Demokratien der Welt. Neu ist dabei, dass die Zahlen, aus denen sich am Ende - eben auch - ein Ranking stricken lässt, nicht auf Experteneinschätzungen beruhen, sondern auf objektiven statistischen Daten.
"Wir sind zunächst davon ausgegangen, dass es drei elementaren Prinzipien der Demokratie gibt, nämlich politische Gleichheit, Freiheit, aber auch Kontrolle. Und dann haben wir gesagt: Aus diesen drei Prinzipien folgen neun Funktionen, die unbedingt von den Demokratien gut erfüllt werden müssen - so etwas wie Transparenz, politische Beteiligung, rechtstaatliche Garantien, individuelle Freiheiten und so weiter. Und das haben wir runtergebrochen - und jetzt geht es in die Tiefe - auf letztlich 100 empirische Indikatoren. Und mit denen messen wir, wie gut eine Demokratie diese neuen Funktionen erfüllt, und da konnten wir erhebliche Unterschiede feststellen."
Allein die Auswahl aussagekräftiger Messgrößen hat drei Jahre gedauert. Intensive theoretische Diskussionen und viele statistische Überprüfungen waren nötig: Wie misst man etwa die politische Beteiligung, die im Demokratiebarometer die Funktion hat, "politische Gleichheit" zu ermöglichen. Welche Daten nimmt man dafür? Welche nicht? Die Höhe der Wahlbeteiligung in einem Land fiel zum Beispiel aus der Datengrundlage heraus.
"Aber wir haben dahinter nachgesehen, wer beteiligt sich an den Wahlen! Wenn Frauen immer weniger wählen als Männer oder wenn jüngere Leute weniger wählen als alte Menschen in einer Gesellschaft, dann hat das eine Schieflage. Das Volk als solches nimmt nicht insgesamt teil, sondern nur besondere Gruppen, und das ist eine der Erkenntnisse, die wir auch gefunden haben: Die Demokratie ist heute nicht schlechter als vor 30 Jahren - weiß Gott nicht -, aber sie wird sozial ausgrenzender, und man kann sagen, das untere Drittel partizipiert weniger und weniger und weniger. Das scheint mir die große Herausforderung der Demokratie in den nächsten Jahren, dass sie nicht zu einer 50-Prozent- oder Zweidrittel-Demokratie degeneriert."
Die statistischen Daten darüber, wer sich an Wahlen beteiligt, gehören zu den 100 Indikatoren. Die Komplexität des Unternehmens ist hoch, aber einsehbar und nachzuvollziehen. Auf der Webseite www.democracybarometer.org kann jeder die Daten in die Tiefe verfolgen und seine eigenen Vergleiche anstellen. Interessant ist das in erster Linie für die Wissenschaft, aber auch für die interessierte Öffentlichkeit. Bühlmann:
"Ganz konkret: Wenn sie Deutschland, Österreich und die Schweiz sich betrachten, dann sieht man, dass in Deutschland und Österreich vor allem Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenkontrolle und Repräsentation relativ gut ausfällt - immer im Vergleich mit allen anderen 30 etablierten Demokratien -, hingegen Öffentlichkeit, Wettbewerb und Regierungsfähigkeit eher Schwächen sind von Deutschland und Österreich. Das ist in der Schweiz ein bisschen anders. In der Schweiz sieht es so aus, dass die Kontrolle quasi eher von unten geschieht. Also hier haben wir eine relativ schlechte - im Vergleich wieder - Gewaltenkontrolle, nicht so gute Transparenz, dafür ist aber die Regierungsfähigkeit, der Wettbewerb und die Öffentlichkeit, also diese drei Funktionen sind im Vergleich zu dem relativ hoch."
Es geht um eine Balance zwischen unterschiedlichen Funktionen, die sich, wie Marc Bühlmann sagt, auch gegenseitig "beißen" können. Wer den Ausgleich am besten schafft, landet - wenn man denn alles in eine Zahl rechnet - oben auf der Liste. Das ist vor allem in den skandinavischen Ländern der Fall. Dänemark führt das Ranking an. Auch Belgien hat es auf den zweiten Platz geschafft. Das verwundert, bricht das Land doch derzeit alle Rekorde, weil es seit April 2010 keine Regierung zustande bringt. Die statistischen Daten des Demokratiebarometers reichen jedoch nicht bis in die Gegenwart heran, sondern nur bis 2005. Die Lücke, die noch kleiner werden soll, erklärt sich aus der Verfügbarkeit der Daten. Umfragen zur Wahlbeteiligung etwa gibt es nur alle paar Jahre. Überraschend fiel auch die Auswertung für die Länder Frankreich und Großbritannien aus. Sie befinden sich am unteren Ende der Liste. Merkel:
"Großbritannien hat mich eigentlich noch mehr überrascht. Die soziale Selektion - noch mal: die große Malaise der gegenwärtigen Demokratie: sehr ausgeprägt. Dann gibt es weitere Punkte, die in England zu einer Dominanz der Exekutive führen, und es gibt keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die etwa die Rechtmäßigkeit des Regierungshandels kontrollieren würde. Es gab in den letzten zehn Jahren, insbesondere nach den Terrorattacken in New York, Elfter September., eine flächendeckende Überziehung mit Beobachtungsmonitoren der Gesellschaft. Das muss aus einer demokratietheoretischen Sicht als kritisch betrachtet werden."
Aber der Fingerzeig auf Schwächen in den besten Demokratien ist auch nicht das ganze Ziel:
"Was bedeutet es, wenn ein Staat Rechtsstaatschwächen hat? Welche anderen Funktionen werden infiziert? Werden betroffen? Werden geschwächt? Oder gar gestärkt? Also dieser Ausgleich, oder wie man Englisch sagt "trade offs", zwischen den einzelnen Funktionen ist uns viel, viel wichtiger als diese zum Schluss Schönheitszahl, die dann zu der Schönheitsliste der besten, wahrsten Demokratien führt."
Bühlmann:
"Die Idee war, dass man im Vergleich zeigen kann, wo liegen denn die Stärken und wo liegen die Schwächen eines Landes. Um nachher dann zu entscheiden: Sollen Schwächen verbessert werden oder Stärken quasi noch verstärkt werden? Das ist dann eine genuin politische Frage - muss ein politische und insbesondere eine gesellschaftliche Frage sein! Und wir liefern hier ein mögliches Instrument für argumentativ basierte Diskussionen."