Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Vor 50 Jahren gestorben
Paul Grüninger - Polizist, Passfälscher, Judenretter

Der St. Gallener Polizeikommandant Paul Grüninger war ein unbescholtener Grenzbeamter, bis er im Herbst 1938 Hunderten österreichischen Juden zur Flucht in die Schweiz verhalf. Deswegen wurde er entlassen. Rehabilitiert wurde er erst Jahrzehnte nach seinem Tod - heute vor 50 Jahren.

Von Matthias Bertsch | 22.02.2022
Die 2017 eingeweihte Paul Gruninger Straße in Rischon LeZion nahe Tel Aviv, gewidmet Paul Grüninger in den 1930er-Jahren Schweizer Grenzpolizist
Die 2017 eingeweihte Paul Gruninger Straße in Rischon LeZion nahe Tel Aviv, gewidmet Paul Grüninger in den 1930er-Jahren Schweizer Grenzpolizist (picture alliance Keystone)
Wien im März 1938: Unter Jubel meldet Adolf Hitler, "vor der deutschen Geschichte", nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich." Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich kommt es überall im Land zu antisemitischen Ausschreitungen. Viele Juden fliehen in die benachbarte Schweiz, aber auch hier wachsen die Vorbehalte gegen die Flüchtlinge, und so beschließt die Regierung in Bern zunächst eine Visumspflicht und dann ein Einreiseverbot für Juden. Doch die Fluchtbewegung hört damit nicht auf. Jede Nacht kommen einige illegal über den Rhein, ohne Geld und Wertgegenstände, aber dafür mit einem Namen im Kopf, von dem es heißt, er würde ihnen helfen: Paul Grüninger.
"Viele Flüchtlinge wurden bis nach St. Gallen geschleust, von Schleppern. Die saßen dann in seinem Polizeiposten oder in der israelitischen Flüchtlingshilfe, und er musste über ihr Schicksal entscheiden. Er hat sich nicht abgeschottet. Viele andere haben sich ja abgeschottet von diesen Fällen, oder das ist ein Wesen der Bürokratie, dass man sich dann je höher man ist, umso mehr abschottet von den konkreten Elendsfällen. Er hat das nie gemacht, er hat sich dem ausgesetzt."

Vordatierte Einreisevisa retteten Hunderte

So der Historiker Stefan Keller, Autor einer Monografie über Paul Grüninger: Der Polizeihauptmann von Sankt Gallen fuhr regelmäßig an die Grenze. Was der sonst unpolitische Beamte dort erlebte, ließ ihm keine Wahl. Er konnte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, die Menschen zurückzuschicken. Menschen wie die damals junge Sara Seifert, die sich noch Jahrzehnte später an die Begegnung mit Grüninger erinnerte:
„Und dann luagt er mich an und seid: ‚So, Kopf hoch, Maidli, jetzt bist du in der freien Schweiz.‘ Und die Augen von dem Mann, wie er mich agluaget hat, ich kann das nie vergessen, solange ich leb.“

Wie Grüninger aufflog

Indem er ihre Einreisevisa vordatierte oder andere Dokumente fälschen ließ, ermöglichte Grüninger - mit Wissen seines Vorgesetzten - mehreren hundert bis wenigen tausend Juden die Flucht in die Schweiz. Auch wenn die meisten bei Freunden oder in Flüchtlingslagern unterkamen, blieben die Neuankömmlinge im Kanton Sankt Gallen nicht unbemerkt, sagt Stefan Keller:
„Da fällt es halt auf, wenn plötzlich immer mehr Leute, die wienerisch sprechen, die städtisch angezogen sind, die nach Flüchtlingen riechen, wenn da immer mehr davon auftauchen, das ließ sich nicht verbergen. Und irgendwann wurden sie dann in Bern ein bisschen aufsässig und haben angefangen, nachzufragen, und in dem Moment hat eben sein Vorgesetzter, der Polizeiminister von Sankt Gallen, ihn dann fallenlassen und hat dann die ganze Schuld ihm zugeschoben.“

Entlassen und verurteilt

Im Frühjahr 1939 wurde der Polizeikommandant vom Dienst suspendiert und dann fristlos entlassen, ein Jahr später wegen Amtspflichtverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Schwerer traf ihn die Tatsache, dass er von nun an vorbestraft war. 30 Jahre lang hielt Paul Grüninger sich und seine Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Erst 1968, als mit der Niederschlagung des Prager Frühlings tschechische Flüchtlinge in die Schweiz kamen, erinnerte ein Lokaljournalist an die vergessenen Taten des Polizeihauptmanns. Dazu Stefan Keller:
"Dieser Artikel ging zuerst durch die Schweizer Presse, war in verschiedenen anderen Zeitungen abgedruckt, und sprang dann über den Atlantik und kam in jüdischen Zeitungen in Amerika. Es gab dann Initiativen zu seiner Rehabilitierung zum Beispiel von jüdischen Kriegsveteranen in den USA, es gab sonstige Ehrungen, Yad Vashem hat ihn kurz vor seinem Tod, 1971, ausgezeichnet, und er war eigentlich am Schluss wieder bekannt, nachdem man ihn lange vergessen hatte.“

Erst posthum politisch und juristisch rehabilitiert

Aus dieser Zeit stammt auch eine der wenigen Fernsehaufnahmen von Paul Grüninger. Hier wurde er gefragt, ob er trotz alldem, was er und seine Familie durchgemacht hätten, "in derselben Situation genauso handeln würde?" - Grüninger antwortete: "Ja, selbstverständlich, ich würde genau das gleiche wieder tun und gleich wieder handeln.“

Vorbild für Zivilen Ungehorsam

Am 22. Februar 1972 starb der 80-jährige Paul Grüninger in Sankt Gallen, doch es sollte weitere zwei Jahrzehnte dauern, bis er in den 90er-Jahren zunächst politisch und dann juristisch rehabilitiert wurde - auch auf Grundlage der Recherchen von Stefan Keller. Für den Journalisten und Historiker ist Grüninger bis heute ein Vorbild an Zivilcourage.
"Ich habe natürlich etwas Mühe mit dem Wort Held, aber letztlich war er so ein stiller Held, einer, der einfach das tut, was er für richtig hält, eigensinnig human bleibt, auch wenn es sehr schwierig ist, und damit beweist, dass man etwas machen kann. Man hat später oft behauptet, man hätte damals nichts machen können, und Grüninger beweist eigentlich das Gegenteil: doch, man konnte etwas machen.“