Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Vor 75 Jahren: "Aktion Weichsel" in Polen
Die vergessene Vertreibung der Ukrainer

Erstaunlich wenig bekannt und erforscht: Unter dem Tarnnamen "Aktion Weichsel" begann am 28. April 1947 die Zwangsumsiedlung von etwa 150.000 Ukrainern, Lemken und Bojken innerhalb Polens. Für die stalinistischen Machthaber ging ihre brutale Assimilierungspolitik auf.

Von Doris Liebermann | 28.04.2022
Freilichtmuseum Sanok im Karapartenvorland: Ethnografischer Park mit Häusern in der traditionelllen  Bauweise  der Lemken und Bojken
In Polen nur noch musealisiert zu sehen: Traditionelle Häuser der Lemken und Bojken im Ethnografischen Park Sanok nahe Krakau (picture alliance / DUMONT Bildarchiv)
„Bei Morgendämmerung umstellte die Armee das ganze Dorf, sodass keiner fliehen konnte. In jeden Hof kamen zwei Soldaten. Wir hatten zwei Stunden, um zu packen. Sie sagten nicht, wohin sie uns bringen. Was konnte man schon mitnehmen? Vor allem Lebensmittel. Brot für den Weg. Außerdem Bettwäsche, Kleidung, Küchengeschirr, Geräte. Wir luden alles auf einen Leiterwagen. Wer kein Pferd hatte, spannte eine Kuh ein.“
Aus den Aufzeichnungen des ukrainischen Priesters Piotr Hojnak. Ohne jede Vorwarnung begann in den frühen Morgenstunden des 28. April 1947 die „Aktion Weichsel“, wie das Codewort lautete. 18.000 Soldaten, Geheimpolizei und Miliz drangen in das Siedlungsgebiet der Ukrainer im Südosten Polens vor und umstellten ihre Dörfer. Die Ukrainer und die zu den Ukrainern gezählten Volksstämme der Bojken und Lemken wurden enteignet, ihre Häuser und Höfe gingen in Staatsbesitz über. Bis zum Juli 1947 wurden mehr als 140.000 Ukrainer zwangsumgesiedelt und ins Unbekannte deportiert. „Ein Zug bestand aus fünf geschlossenen Wagen und sieben Kohlewaggons. Wir kamen in einen Kohlewaggon. Kein Dach über dem Kopf, nichts. Wir fuhren, ohne die Richtung zu kennen.“

Die Wurzeln des polnisch-ukrainischen Konflikts reichen bis in die Zeit der Habsburger

Die Ukrainer wurden in die ehemaligen deutschen Ostgebiete gebracht, aus denen zuvor die Deutschen vertrieben worden waren: nach Masuren, Pommern und Schlesien. Die Bevölkerung der neuen Wohnorte durfte nur zu zehn Prozent aus Ukrainern bestehen: Sie sollten von ihrer neuen polnischen Umgebung assimiliert werden.
Der polnisch-ukrainische Konflikt hat eine lange Vorgeschichte und reicht bis in die Zeit der Habsburger Monarchie und der Staatsgründung Polens 1918 zurück. Dazu der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej in einer Archivaufnahme:
"Erstens hat es eine Verhärtung der polnisch-ukrainischen Beziehungen schon in den 1930er-Jahren gegeben, wo ein Großteil der aktiven jungen intelligenten Ukrainer endlich sich von diesem polnischen Staat, dessen Staatsbürger sie ja waren, losgesagt hat.“

Massen-Vertreibungen und Ermordung von Polen durch ukrainische Nationalisten

"Während des Weltkrieges hat diese Ukrainische Nationale Organisation versucht und letztlich auch erfolgreich versucht, Hunderttausende Polen aus gemischt besiedelten Gebieten zu vertreiben, was ihr auch gelungen ist.“
Vor allem die UPA, die 1942 gegründete Ukrainische Aufständische Armee, eine Partisanenarmee, ging gegen polnische Zivilisten vor. 1943/44 wurden in Wolhynien 60 bis 100.000 polnische Zivilisten von ukrainischen Nationalisten ermordet. Und 1944, so Włodzimierz Borodziej, "kam noch hinzu ein bilateraler Vertrag zwischen der Ukrainischen Sozialistischen Republik und der Republik Polen, in dem Bevölkerungsaustausch vereinbart worden war. Und im Rahmen dieses Bevölkerungsaustausches, der läuft ab Herbst 44 bis 46, werden teils unter Zwang, teils freiwillig, etwa 800.000 Polen aus der Ukraine nach Polen umgesiedelt und knapp eine halbe Million Ukrainer, polnische Staatsbürger, muss in die Ukraine gehen.“

Mutmaßliche Unterstützer der UPA  wurden in ein Außenlager von Auschwitz deportiert

In der Ukraine kämpfte die Ukrainische Aufständische Armee für einen eigenen Nationalstaat – gegen das stalinistische Sowjetsystem. Da es auch unter den Ukrainern in Polen Unterstützer gab, sollte das Sympathisantennetz auf polnischer Seite liquidiert und Nachschubbasen von Waffen gekappt werden. Als im März 1947 ein angesehener kommunistischer polnischer General – vermutlich – durch die UPA ermordet wurde, beschloss das Politbüro die Zwangsumsiedlung der Ukrainer. Tatsächlich traf die Vergeltungsaktion „Weichsel“ vor allem Zivilpersonen. Menschen, die als Unterstützer der UPA galten, wurden in ein Außenlager von Auschwitz deportiert.
Die Assimilierungspolitik der kommunistischen Machthaber ging auf: Nach einer Volkszählung von 2003 gab es nur noch etwa 30.000 Ukrainer und mehrere Tausend Lemken in Polen. Über ihrer einstigen Heimat in Südostpolen liegt Melancholie. Auch heute noch lassen sich dort Reste verlassener Bergdörfer, verfallene Kirchen, Friedhöfe, Häuserruinen und verwilderte Obstgärten finden.