
Das Dasein als solches ist voller Kränkungen, Zurückweisungen und Mühen. Einen Anspruch auf ein glückliches Leben gibt es nicht - auch wenn viele Menschen zu denken scheinen, sie hätten es verdient.
Es ist fast ein Reflex: Für erlittenes Unglück konstruiert das Gehirn im Handumdrehen eine Erklärung. Ein/e Schuldige/r muss her. Die Kausalkette hat jedoch meist einen blinden Fleck: die eigene Beteiligung. Und leider gibt es auch ohnehin kein Weltgericht, bei dem sich ein besseres Leben einfordern ließe.
Zufällig befinden sich die Schuldigen immer außerhalb der eigenen Bubble: Die Migranten sind schuld, dass die Krankenkassenbeiträge steigen; die Grünen daran, dass wir mehr Geld für erneuerbare Energien ausgeben sollten. Und im Zweifel steht der Arzt im Verdacht, uns krank machen zu wollen.
Was wäre gewonnen, wenn wir stattdessen selbst die Verantwortung übernähmen? Und wäre es nicht stilvoller, sich in seiner Wut zumindest auf die wirklich Mächtigen zu stürzen, statt immer auf diejenigen einzuprügeln, die nur die Nachricht übermitteln (zum Beispiel die Grünen) oder denen es gar noch schlechter geht (zum Beispiel die Geflüchteten)?
Es ist fast ein Reflex: Für erlittenes Unglück konstruiert das Gehirn im Handumdrehen eine Erklärung. Ein/e Schuldige/r muss her. Die Kausalkette hat jedoch meist einen blinden Fleck: die eigene Beteiligung. Und leider gibt es auch ohnehin kein Weltgericht, bei dem sich ein besseres Leben einfordern ließe.
Zufällig befinden sich die Schuldigen immer außerhalb der eigenen Bubble: Die Migranten sind schuld, dass die Krankenkassenbeiträge steigen; die Grünen daran, dass wir mehr Geld für erneuerbare Energien ausgeben sollten. Und im Zweifel steht der Arzt im Verdacht, uns krank machen zu wollen.
Was wäre gewonnen, wenn wir stattdessen selbst die Verantwortung übernähmen? Und wäre es nicht stilvoller, sich in seiner Wut zumindest auf die wirklich Mächtigen zu stürzen, statt immer auf diejenigen einzuprügeln, die nur die Nachricht übermitteln (zum Beispiel die Grünen) oder denen es gar noch schlechter geht (zum Beispiel die Geflüchteten)?
Tina Klopp, geboren in Hamburg, promovierte 2016 an der Hochschule für Bildende Künste (HFBK), hat Germanistik und Politik studiert und die Deutsche Journalistenschule besucht. Sie erhielt u.a. den Friedwart-Bruckhaus-Förderpreis, das Hörspiel-Stipendium des Deutschen Literaturfonds und das Hörspiel des Monats der Akademie der Darstellenden Künste. Sie arbeitet seit 2014 als Redakteurin beim DLF, wo sie 2024 das neue podcast-Format „und jetzt?!" erfand.
Später ist es mir immer ziemlich peinlich. Und viel später kann ich auch darüber lachen. (Überhaupt, man kann viel Schlechtes über mich behaupten, aber das mit dem Drüberlachen habe ich ganz gut raus.) In der Situation selbst jedoch bin ich einfach nur wütend.
Vorgeschichte: Aus irgendeinem Grund hatte ich mich morgens schon viel zu spät auf den Weg gemacht, vermutlich, weil Schlüssel oder Handy verschwunden waren, wie im Schnitt zehn Mal pro Tag, oder eine Whatsapp beantwortet werden musste, was irgendwie länger gedauert hatte, weil zwischenmenschlich hakelig.
Wenn ich hektisch werde, klappen viele Dinge nicht mehr so geschmeidig. In der halbfremden Stadt die richtige Taste auf dem Fahrkartenautomaten drücken, intuitiv in den richtigen Gang zur U-Bahn rennen, im Laufen das Ticket entwerten.
Ich sah sie einsteigen und wusste sofort - es ist aus. Der Fahrkartenentwerter hatte nicht richtig zugeschnappt. Ich war trotzdem in den Zug gejumpt, wollte nicht auf die nächste Bahn warten. In besseren Momenten nenne ich das: No risk, no fun.
Am Ende dauerte das ganze Prozedere ewig: Aussteigen, Personalien aufnehmen, Belehrt werden, uneinsichtig Grummeln, auf die nächste Bahn warten.
In der zeitgenössischen Battle darum, wer von allen am gelassensten ist, sei es als Elternteil, das es nicht schlimm findet, wenn das Kind sich regelmäßig bis zum Darminfarkt mit Süßigkeiten vollstopft oder 10 von 14 Wachstunden vor Bildschirmen verbringt; oder auch in Sachen Klimawandel, der meiner Meinung nach das Leben eher schon in 10 und nicht erst in 100 Jahren ungemütlich machen wird auf unserem Planeten; oder: Stichwort Arbeitsorganisation, geht doch alles gut und fair zu, die besten Ideen setzen sich durch - neenee, ich kann da oft nicht chillen, wie gerne ich diese Überlegenheitspunkte auch mal für mich einstreichen würde.
Aber so schlimm bin ich eben wieder auch nicht. Wenn ich Leute sehe, die mit wutverzerrter Miene vor geplatzten Einkaufstüten toben, neben trödelnden Kindern rumbrüllen oder im Straßenverkehr einen Anfall bekommen, nur weil der frühvergreiste Autofahrer vor ihnen den olivmetallenen SUV nicht mal bei Manöver 15 in die vier Meter Parklücke bekommt - da sehe ich problemlos das Lächerliche an ihrer Wut. Hätte man sich ja vorher überlegen können. Weniger in die Tüte packen zum Beispiel, anständig verhüten, mit den Öffis fahren. Wenn ich so richtige Wutmenschen sehe, beruhigt mich das eher: So schlimm bin ich nicht.
Aber als ich mich vom Bahnhof aus endlich zum Flughafen, dann durch die Sicherheitskontrollen bis zum Gate vorgekämpft hatte und langsam in mein Gehirn einsickerte, dass das Boarding für Flug M097 nach Paris tatsächlich und forever abgeschlossen war, stampfte ich auf wie ein kleines Kind und schrie einmal kurz, aber richtig laut auf: unfair!
Die ganze Hektik umsonst! Der neue Flug erst in sechs Stunden! Das neue Ticket dreimal so teuer und ja on top zu bezahlen. Und vor allem - ich wollte doch zu einem Jobinterview. Mir wurde in dem Moment klar, es wäre der Job meines Lebens gewesen.
Wenn mich so eine Wutwelle überspült, fahnde ich in meinem Kopf händeringend nach Schuldigen. Die Sätze funktionieren häufig nach dem Schema: Wenn der bescheuerte X nicht ausgerechnet dann Y getan/gesagt oder in diesem Fall: eine Whatsapp geschrieben hätte, dann wäre auch Z niemals passiert. Immer diese doofen Xe! Die immer Y schreiben! Wäre X doch endlich weg und Z niemals passiert!
„Natürlich“ ist ein weiterer, wichtiger Baustein dieser Sätze: „Natürlich passiert das wieder mir.“ „Natürlich funktionieren Fahrkartenentwertungs-Automaten seit ihrer Erbauung im Jahr 1960 reibungslos, bis zu diesem einen Tag, an dem Tina Klopp zum wichtigsten Jobinterview ihres Lebens fährt, dann natürlich gibt die Mechanik ihren Geist auf.“ Darin enthalten auch schon der nächste, wiederkehrende Wutbaustein: Übertreibung. Sie macht nicht nur anschaulich, sie findet auch: „Immer auf die Kleinen, immer auf mich!“ Zwischen Raserei und Selbstmitleid ist dann kein Platz für das Engelchen, das mir ins Ohr sagt: „Aber schau doch mal, du hattest doch auch schon so viel Glück in deinem Leben! Denk doch nur an die Autofahrt, Sommer 1982, als ihr die Dänemarkfähre noch bekommen habt, obwohl ihr erst um 6.30 aus Pinneberg losgefahren seid.“ Oder, sowieso immer richtig: „Denk doch mal daran, wie privilegiert du bist! Während andere im Krieg sterben, sitzt du hier sicher und im Trockenen.“ Der Teufel jedoch brüllt viel lauter, feuert mich an: „Sei wütend! Tobe! Rase! Das ist alles sooo unfair!“ Außerdem: „Die Gefühle müssen doch irgendwo hin, lass sie raus, sonst fressen sie dich auf von Innen! Wenn du jemanden von ganzem Herzen dafür hassen kannst, dann geht es dir besser. Los, wüte!“
Und selbst wenn die Katharsis-Theorie längst widerlegt ist und schlechte Laune in der Regel nur noch schlechtere Laune gebiert - am Ende sind wir Menschen doch auch alle ein wenig süchtig nach Gefühlen. Da hat der Teufel recht. Irgendwas in mir genießt das Drama auch, fühlt sich lebendig. Der Teufel sagt: „Gechillt kannst du noch lange genug sein, wenn du erst mal im Sarg liegst.“
Aus dem Wutknäuel formt sich ein diffuser Gegner zusammen, der dann zum Beispiel aus den Fahrkartenentwertungs-Automaten-Konstrukteuren, den Fahrkarten-Kontrolleurdienst-Disponenten und den Chefinnen sowie allen Nutzerinnen und Nutzern des Whatsapp-Konzerns besteht. Und ich verurteile auch diese unbekannte, allgemeine Weltinstanz, die eigentlich für Fairness sorgen müsste. Sie alle haben sich gegen mich verschworen. „Die wollen mich doch fertig machen.“
Meistens werden die Ausbrüche gekrönt von irgendeiner hirnrissigen Resolution. Ich bin die Meisterin der Resolution, auch wenn es ums weniger essen, Steuererklärung rechtzeitig abgeben und nie wieder Fluchen geht. „Ich fahre nie wieder mit der Bahn!“ „Ich schreibe nie wieder eine Whatsapp!“ „Ich bewerbe mich nie wieder!“ „Ich gehe nie wieder aus dem Haus!“
Das haben die dann davon.
Natürlich ist das lächerlich, eines Menschens mit Gehirn unwürdig, aber ich erkenne das (wie das meiste) erst mit dem nötigen Abstand. Zwischen dem zweiten Cappuccino und dem neuen Buch von Miranda July, zu dessen Lektüre ich nun endlich komme, in diesem herrlichen Flughafencafé mit der attraktiven Oligopol‑Preispolitik, stellt sich die erste Relativierung ein. Der Ton im dritten Handy‑Telefonat, bei dem ich immerhin meinen Freundinnen bessere Laune dadurch verschaffen kann, dass ich von meinem Pech berichte - ein Mechanismus, der bei mir umgekehrt stets sehr zuverlässig funktioniert - ist nicht mehr ganz so empört. Dann tritt endlich die Humorphase ein, wichtigstes Weltbewältigungstool ever.
Okay, warum ist es überhaupt so wichtig, eine Schuldige oder einen Schuldigen zu finden? Und was daran ist so geil und so scheiße zugleich?
Darum soll es hier gehen. Und um die AfD.
Über den Rechtsruck und den Klimawandel kann man ja leider gar nicht genug nachdenken. Wem etwas einfiele, was nachhaltig gegen die beiden größten Weltübel hälfe, ich wäre dafür, er bekäme mindestens: Nobelpreis, Oscar, olympisches Gold, lebenslanges Wohnrecht in der besten Wohnung seines Lieblingsstadtteils plus eine Flatrate für alle Liefer-, Daten- und Thai-Massage-Dienste der Welt.
Ich habe mal in einem Buch über Gefühle gelesen, dass Gefühle eigentlich nur Impulse sind, die ihren Besitzer:innen helfen sollen, auf eine veränderte Situation zu reagieren. Also eine Zelle schwappt in der Ursuppe auf eine andere Zelle zu und manchmal kann es sinnvoll sein, dann die Flucht zu ergreifen oder zum Angriff über zu gehen.
Wenn aber morgen der Nachbar von Paul Watzlawick bei mir klingelt und sich einen Hammer von mir leihen möchte, ist es eher weird, davon auszugehen, dass er mir damit auf den Kopf schlagen will. Überhaupt haben sich seit der Ursuppenzeit ein paar wesentliche Lebensumstände geändert. Das Gehirn ist (zumindest bei einigen Menschen) zu einem leistungskräftigen Tool ausgewachsen und so konnte sich bei einem Teil der Bevölkerung die verdammt schlaue Idee herumsprechen, dass Kooperation allen nützt und Frieden weniger anstrengend ist als Krieg.
Fahrkartenautomaten und Kontrolleure sind in diesem Sinne sinnvolle Dienstleister, die alle Bahnfahrerinnen ans Kooperieren erinnern, falls sie das mal kurz vergessen sollten, denn Kontrolleure sorgen dafür, dass die, die ein gemeinsames Gut nutzen, dafür auch bezahlen. Geschlossenen Gates zu entgehen ist in der Regel super einfach - indem man rechtzeitig genug aufsteht. Und seine Nachrichten erst beantwortet, wenn man dann viel zu früh am Gate rumsitzt und wartet. Was sich in der Regel auch positiv auf die Antwortqualität auswirkt.
Wer nun könnte diese lebensverbessernden Maßnahmen in die Wege leiten?
Ich.
Und wer ist schuld, wenn er zu spät zum Flug kommt?
Noch mal ich, ich ganz allein.
Was wäre der Vorteil daran, das zu kapieren?
Tja, das ist tatsächlich die spannende Frage.
Denn natürlich wäre es erst mal auch ein bisschen frustrierend für mein kleines, um Selbstliebe ringendes Ich, wenn es einsehen müsste, dass es unter dem ganzen Schlamassel nicht nur zu leiden hat, sondern - Variante A - auch noch selbst dafür mitverantwortlich ist. Oder Variante B - nicht viel besser - dass es einfach gar keinen tieferen Grund und gar keine Verantwortlichen für die meisten Schlamassel gibt - ich nenne dieses Grundprinzip allen Lebens: Scheiße passiert.
Das zu akzeptieren stellt die meisten Menschen vor enorme Herausforderungen. Ich weiß nicht, ob das schon immer so war oder ob es schlimmer geworden ist und wenn ja, woran das liegen könnte, aber vielleicht fällt das ja auch nur mir auf: Viele Menschen haben in einem unrealistischen Ausmaß den Anspruch, dass die Dinge gut gehen müssen in ihrem Leben und dass ihnen ein gewisses Maß an Belohnung und Aufmerksamkeit und Wohlergehen ganz automatisch zustünde, also sogar ganz ohne dass sie sich dafür sonderlich anstrengen müssten, als wäre der Staat oder das Universum oder irgendeine andere, übergeordnete Instanz dafür zuständig. (Ich nenne diese Sichtweise immer meine „innere FDP“, es ist mir ultrawichtig, das zu unterscheiden: Das ist meine persönliche Haltung mir selbst gegenüber, eher geprägt von einer gewissen Härte, wer nichts tut, der darf halt auch nicht rumjammern - aber auf dem gesellschaftlichen Level bin ich links und wünsche mir, dass alle Leute gut versorgt werden, auch die, die vermeintlich eher faul oder doof oder gar gemein sind. Zumal ich sowieso davon überzeugt bin, dafür wäre problemlos genug Kohle da, man müsste halt nur endlich mal schlauer umverteilen.)
Bei mir jedenfalls sickerte die Einsicht, dass Scheiße einfach so passiert im Leben und das auch noch ohne tieferen Sinn, so um die Pubertät herum ein, nach der Lektüre meines persönlichen Schlüsselromans: Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Kernerkenntnis danach: Religionen oder andere Ausrede- und Trostgedanken wie zum Beispiel Liebe oder die Psychoanalyse (oder, neueste Mode: Intergenerationalität, also: Uromas Kriegserfahrungen von vor 100 Jahren sind schuld an meinen aktuellen Partnerschaftsproblemen) wurden primär erfunden, damit das Elend eben doch einen tieferen Sinn bekäme und zugleich aus der eigenen Verantwortung weiter weggerückt werden könnte.
Mit Hilfe konstruierter Letztbegründungen kann der Mensch sich vor der Wucht der Erkenntnis, dass am Ende wirklich alles komplett sinnlos ist, wir keinerlei Mission auf Erden haben und niemand sich wirklich für einen interessiert, ein wenig wegducken. Der andere Weg damit umzugehen, sollte auch erwähnt werden: Buddhismus, also die Idee, nichts mehr wollen zu wollen, um dann auch nicht mehr enttäuscht zu werden - wegatmen. Laut Camus bedürfe es allerdings der Tapferkeit, die Sinnlosigkeit des Lebens zu akzeptieren und ich würde hinzufügen, und auch das ist mir ultrawichtig: dabei trotzdem ein netter Mensch zu bleiben. Auch das ohne Letztbegründung, eher, weil es Stil hat und Kooperation das schlauere Konzept ist. Wenn alle mitmachen, profitieren nämlich auch alle.
An genau diesem Schmerzpunkt liegt auch die Erklärung für die Erfolge der AfD: Die Unfähigkeit vieler Menschen, mit der Sinnlosigkeit oder gar eigenen Verstricktheit in die Probleme der Welt umzugehen, seien es nun Klimakollaps, Jobverlust, Stress, Schulversagen, der Abstieg des Lieblingsvereins, Fahrraddiebstahl, Verlassen werden, eine zu kleine Wohnung oder auch nur die diffuse Angst davor, nicht genug wertgeschätzt zu werden. Das Leben steckt ja voller potentieller Mangelsituationen, und das Belohnungssystem rund um den Botenstoff Dopamin ist zudem so gebaut, dass man immer weiter - und vor allem immer neu um ein wenig Spaß kämpfen muss. Glück nutzt sich ab, der Lieblingssong ist nach 20-mal hören spätestens verbraucht, der neue Partner fängt eines Morgens garantiert an zu nerven, die zehnte Praline schmeckt nicht mehr so gut wie die erste, nach der Bezirksliga kommt der Wunsch auf nach dem nächsten Schritt und so weiter.
Daher müssen Sündenböcke her. Sie entlasten, - seien es nun die globalen Eliten, die Ausländer oder die eigene Kernfamilie, um mal drei der vermutlich aktuell beliebtesten Sündenböcke zu nennen.
Es kommt noch ein zweites interessantes Phänomen hinzu, die blinden Flecken.
Unlängst rief mich eine Mutter am Wochenende zu Hause an, um mir zu sagen, ich hätte etwas zu ihrem Sohn gesagt, was sie als unreflektiert und - das sagte sie tatsächlich zu mir - unreif empfunden hätte. Die Mutter ist Lehrerin und Sozialpädagogin, also vom Fach und daher mit großer Wahrscheinlichkeit im Recht. Ich hatte nämlich zu ihrem Sohn gesagt, als billige Retourkutsche auf die Maßregelung meines eigenen Sohnes durch ihren, er sei doch selbst ein Angeber. Dabei wurde mir klar, dass ich die dahinterliegende Situation komplett anders interpretiert hatte als sie. Denn nicht nur tendiere ich dazu, die oft fantasievollen Ausführungen des eigenen Kindes fälschlicherweise für bare Münze zu halten, während ich die der anderen Kinder leichter Hand als Ausreden und selbstmitleidtriefende Märchen entlarve. (- Gut, generell fällt es mir schwer, fremde Kinder spontan ins Herz zu schließen, während das Mögen beim eigenen Kind glücklicherweise auf Anhieb geklappt hat.) Vor allem gibt es interessante Studien dazu, in welchem Ausmaß man seinen Gegenübern stets größere blinde Flecken unterstellt in Bezug auf die eigenen Interessen als sich selbst. Schließlich ist man sich dieses Problems ja bewusst, denkt man, und daher vor Selbstgerechtigkeit gefeit.
Das sollte man sich regelmäßig ins Hirn hämmern: Ich bin selbst extrem interessengeleitet und verzerre die Realität zu meinen Gunsten. Morgens vorm Spiegel, wie Zähne putzen, Pflichtprogramm für alle Bürger und Bürgerinnen.
Ich fand es schon als Kind befremdlich, dass unser komplettes christliches Abendland auf einer Religion beruht, die um eine Sündenbock-Story kreist. Ich habe nie verstanden, warum es für die ganze Kinderbibeldramaturgie so wichtig war, dass Jesus nach dem Gestreite um seine Quacksalbereien am Ende am Kreuz landet. Ist doch dumm! Wieso musste ein Sündenbock unser Held sein? Wieso hängen überall gekreuzigte Männer, die sich vor Schmerzen am Holz winden, echte Nägel durch die Hand, wie übel musste das wehtun! Es fühlte sich einfach nur schlecht an, die Nachfahrin zu sein von Leuten, die Jesus verraten hatten, irgendwie machte mir die ganze Geschichte miese Laune und ich fühlte mich klein. Aber auch andere Religionen haben ja unabhängig davon ihre Opferkulte und Martyrien erfunden. Der Opfer- und Schuldgedanke ist weit verbreitet und möglicherweise sogar irgendwie hirnphysiologisch begünstigt. Mein Sohn verdächtigte mich schon in sehr frühen Jahren, die Treppe im Wohnzimmer über Nacht heimlich versetzt zu haben, damit er sich dann am nächsten Morgen an ihr den Kopf stoße.
Aber ließe sich der Sündenbock-Mechanismus nicht auch zu unseren Gunsten einsetzen?
Spätestens als ein älterer, sehr naher Verwandter an Diabetes Typ 2 erkrankte, verstand ich, dass Sündenböcke aktivierend wirken. Der sogenannte Alterszucker wird in der Regel mit Medikamenten behandelt. Man kann ihn aber in den allermeisten Fällen im Gegensatz zur angeborenen Zuckerkrankheit auch einzig mit Hilfe von Ernährung und Sport in den Griff bekommen, - indem man auf schnelle Kohlenhydrate, Zucker, aber auch süßes Obst, Gebäck, Getreide, Reis, Pasta und so weiter verzichtet und stattdessen mehr Fett und Eiweiß und sowieso insgesamt viel weniger zu sich nimmt und regelmäßig Sport treibt.
Eigentlich hätte das niemand so gut wissen können wie der sehr nahe Verwandte, von Beruf Arzt. Dennoch schluckte er lieber Tabletten, fuhr weiter mit dem Auto zum benachbarten Edeka und aß Kuchen und trank Soft Drinks, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Mein Eindruck ist übrigens, dass es durch die Interventionen seiner Tochter im belehrenden Ton damit auf gar keinen Fall besser wurde. Es wurde im Gegenteil nachgerade ein Akt des heldenhaften, irgendwie männlichen Aufbegehrens gegen die schäbigen Restriktionen des Daseins, sich bei jeder sich bietenden Familienzusammenkunft eine riesige Flasche Cola zu bestellen und in ein zuckeriges Teilchen zu beißen, sowie Witze zu reißen darüber, wie ungesund das doch alles sei.
Das änderte sich interessanterweise erst, als ein Sündenbock ausgemacht wurde für die Erkrankung, der nicht mit ihm selbst identisch war - die Pharmaindustrie. Beziehungsweise witzigerweise gleich der ganze Medizinkomplex.
Nun hatte er als Arzt Zeit seines Lebens ja eigentlich erfahren können, wie oft sein Berufsstand als Sündenbock herhalten muss, und zwar am Ende oft sogar dafür, dass man überhaupt krank wurde. Krankheit fällt für mich in die Kategorie: Scheiße passiert. Aber weil es wenig Schlimmeres gibt als Krankheit und Tod, musste man ja auf jemanden sauer sein und so schimpfen die meisten Menschen gerne auf ihren Arzt oder ihre Ärztin.
Der nahe Verwandte nun hatte seinen Sündigen gefunden: Die Pharmaindustrie, die ihn abhängig machen wollte von ihren Medikamenten, die ihn schleichend vergifteten. Das nun war der Motor, selbst etwas gegen die hohen Zuckerwerte zu unternehmen. Er meldete sich in einer Fastenklinik an und seine Werte besserten sich schlagartig. Das hatten die Konzerne nun davon.
Es ist lange bekannt, dass ein äußerer Feind immens hilft, Gruppen nach innen zusammen zu schweißen, so ist es auch bei der AfD. Nichts backt eine Gruppe so fest zusammen wie die Bedrohung von außen. Das machen wir alle, mehr oder weniger unbewusst (manch einer distinguiert sich über seinen guten Musik- oder Kunstgeschmack, ein anderer über seine politische Haltung oder die Zugehörigkeit zu seinem lokalen Fußballverein) aber es ist mehr als eine Frage des Geschmacks, wen man sich dabei als äußeren Feind sucht.
Sind die Migranten schuld am Unglück der Deutschen? Vermutlich kann man diese Frage relativ problemlos mit nein beantworten. Der gefühlten Idee, dass wir uns die Sozialabgaben nicht leisten könnten, die für eine umfassende Integration und Teilhabe am Sozialstaat Deutschland nötig wären, lässt sich am einfachsten widersprechen: Wenn man sich die tatsächlichen Geldströme anschaut, dann ist es in Deutschland eher so, dass sich eine reiche Elite auf Kosten der unteren und mittleren Einkommen bereichert, und so für die Probleme sorgt, unter denen potentielle AfD-Wähler:innen leiden mögen: Mangel an bezahlbarem Wohnraum und zufriedenheitsstiftenden Jobs; das Gefühl, vom Abstieg bedroht und vom gesellschaftlichen Wandel links überholt zu werden, ohne dem etwas an eigenem Stolz entgegensetzen zu können und so weiter. Ein einzelner Cum-Ex-Skandal entzieht dem Gemeinwohl vermutlich mehr Geld und Vertrauen, als etwa die deutschlandweite Einstellung des eigentlich zusätzlich nötigen Fachpersonals an Schulen kosten würde.
Zum einen treiben die realen Wohlstandsverluste den Rechten Wählerstimmen zu, aber auch der Verlust an kulturellem Kapital, beides zunehmend ungleich verteilt. Dinge, auf die man stolz sein kann, aus denen man Identität und Wertschätzung bezieht, die mit eigenen, positiven Lebensentwürfen verbunden sind, haben sich die Reichen und Gebildeten nämlich ebenfalls unter den Nagel gerissen.
Wir Bürgerskinder etwa werden zwar auch schleichend enteignet, aber wir können immerhin noch stolz auf unsere Kultur und unsere moralischen Werte sein. Wir arbeiten in kreativen, gesellschaftsrelevanten Berufen und haben oft Teil an der öffentlichen Meinungsbildung, das Gendern beherrschen wir in allen Lebenslagen und in mindestens zwei Fremdsprachen. Wir sind stolz darauf, die Angst vor Überfremdung belächeln zu können, im Gegenteil, wir haben großes Interesse an anderen Kulturen und Lebensweisen, essen gerne exotisch, geben unseren Kindern fremdsprachige Vornamen und schicken sie zugleich auf Schulen, die jeglicher Idee von Durchmischung Hohn sprechen.
Aber was hat demgegenüber die Schicht, die typischerweise AfD wählt, um sich als etwas Besseres zu fühlen? Im Moment haben sie sich offenbar den Nationalstolz gewählt, aber vielleicht auch nur in Ermangelung anderer, coolerer Optionen? Wiederaufbau- oder Arbeiterstolz sind ja schon lange nicht mehr verfügbar. Links zu sein ist abseits der Schichten, die sich das leisten können, nicht attraktiv.
Dem ließe sich vermutlich am wirkungsvollsten entgegensteuern, wenn man politische Ideen wie humanistische Bildung, bessere Mischung der Milieus und der sozialen Lebenswelten gesellschaftlich priorisierte, man müsste es irgendwie schaffen, dass junge Menschen für Kooperation, Klimaschutz und Solidarität entflammten und nicht für Thor Steinar-Hoodies und Hass auf Minderheiten. Aber genau dieser Bereich, vor allem Bildung, Jugendarbeit, kommunale und zivilgesellschaftliche Angebote sowie soziale Projekte, werden von der aktuellen Politik nahezu totgespart, weil es keine legislaturperiodenschnelle Rendite in Form von Wählerinnenstimmen bringt. Ganz zentral das Schulwesen, für das ausreichend tolle, motivierte Lehrer:innen fehlen, außerdem schichtenverbindende Freizeitprogramme, bunte, ideologiefreie, kommunale Einrichtungen, niedrigschwellige Kulturprogramme, kostenlose Bildungsmöglichkeiten sowie eine Garantie klassenübergreifender Aufstiegschancen.
Aber warum sind nicht die Superreichen und die auf schamlose Gewinnmitnahme orientierten Gesellschaftsschichten in den Fokus der Abstiegsbesorgten geraten, sondern die, denen es noch viel schlechter geht als ihnen selbst, die in winzigen Flüchtlingsunterkünften sitzen und nur noch mit Plastikkarte einkaufen dürfen? Darf man sich derart dafür feiern, auf die hinunter zu treten, die in der Hackordnung noch weiter unten stehen? Ich habe noch verinnerlicht, vielleicht weil ich zufällig in meiner Kindheit an gute Bücher und nette Lehrerinnen geraten bin, dass man sich als Mensch mit Stil und Geschmack stets mit wehenden Fahnen auf Goliath wirft, warum ist daraus bei den AfD-Wähler*innen David geworden?
Wie wäre es, wenn man das Land aufteilte, eine Region gänzlich ohne Sündenböcke schaffte und die Afd-Wähler:innen dort sich selbst überließe? Es ist ja eh schon so, dass der Fremdenhass oft dort am größten ist, wo gar keine Fremden sind. Also: Alle, die gerne hassen, leben zusammen, ohne Linke, ohne Migranten, ohne Transsexuelle und weitere Minderheiten, sagen wir jetzt mal, zufällig, im Osten Deutschlands, während alle anderen im Westen bleiben.
Ein Experiment. Beide Hälften dürften sich selbst organisieren und feststellen, dass die Probleme des Lebens wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und fehlende soziale Anerkennung genau so fortbestünden, ja, dass es ihnen damit emotional vielleicht sogar schlechter ginge, wenn sie keine Sündenböcke mehr hätten, denen sie die Schuld daran zuschieben könnten. Das Leben wäre weiter schwierig, Scheiße würde passieren, und Politik bliebe der stets streitbare Versuch, begrenzte Ressourcen halbwegs gerecht zwischen den unterschiedlichen Gruppen zu verteilen. Wer will, darf die Seite wechseln. Welches Lager hätte am Ende mehr Bewohner:innen? Wer hätte mehr Spaß, mehr Abwechslung, die spannenderen Kulturangebote und das bessere Essen?
Oder, noch größer gedacht - wie wäre es, wenn man einen Angriff von Außerirdischen auf den Planeten Erde simulierte? Denn es ist ja total klar, dass sich all unsere Probleme nur noch global lösen ließen und dass mit dem Sündenbockdenken weltweit Politik gemacht wird, Brexit, America first und so weiter - ließe sich das nicht durch weltweite Solidarität aller Menschen mit allen aushebeln angesichts eines gemeinsamen, äußeren Feindes? Wie wäre es, wenn alle sich zusammenraufen müssten gegen den Feind von außen, Trump, Europa, Putin; Männer, Brexiteers, Transgender?
Denn momentan ist es ja so, dass so etwas wie wirkungsvolle Klimapolitik praktisch unmöglich ist, scheitern höhere Energiekosten doch beständig an dem Argument, dass die Firmen dann ins Ausland gingen. Oder echte Arbeitnehmerrechte: Ihr wollt die 3-Tage-Woche? Tja, Pech, dann wandern wir halt aus und produzieren da, wo mehr gearbeitet wird und Gewerkschaften nicht mal erfunden sind.
Solange der Forderung nach mehr Lohn und Freizeit von den Unternehmen damit entgegnet wird, dass sie dann in Timbuktu produzieren, wird sich an der Ungleichverteilung zwischen den wenigen Kapitalbesitzern und den vielen Arbeitnehmern nichts ändern. Dabei sind wir doch eigentlich in der Mehrheit. Wir müssten gar nicht für Musk Raketen und Autos zusammenschrauben und ihn damit zum reichsten Menschen der Welt machen, wir könnten eigentlich auch unseren fairen Anteil an den Gewinnen fordern.
Und wenn man schon anfängt zu träumen - könnte aus der Welt der Bedrohungen und der Verluste - siehe der Bericht des Club of Rome beziehungsweise das neueste Buch von Andreas Reckwitz - dann nicht auch eine Chance für mehr werden, nämlich für mehr Lebensqualität? Weniger reisen - für alle! - könnte ja bedeuten, dass wir dafür sorgen, dass es bei uns zu Hause wieder schöner würde. Könnten wir nicht alle weniger arbeiten und mehr Zeit mit unseren Lieben verbringen? Wenn wir eh in der Mehrheit sind, wenn wir anständig umverteilten, wenn die Forderung von 100 Prozent Erbschaftsteuer nach der ersten Million pro Kind endlich umgesetzt wäre, könnte dann nicht auch endlich die Vision von den Maschinen, die uns Arbeit abnehmen, wahr werden und nicht nur einzig zum Vorteil der Kapitalbesitzer? Und wenn wir alle nicht so viel konsumieren und die Kosten der Energiewende gerecht auf alle verteilten - bestünde dann nicht sogar Hoffnung auf Rettung des Planeten?
Mir ist natürlich klar, dass man das alles nur so sehen kann, wenn es einem selbst gut geht.
Wenn ich jemandem begegne, der weniger Rücksicht nimmt und so gar nicht mitdenkt, sage ich mir immer, er oder sie hat einfach nicht die Ressourcen dafür. Er hat keine Kapazität frei in Gehirn und Tagespensum, weil er eh von früh bis spät kämpfen muss. Und wenn mich und mein Kind jemand hupend auf dem Zebrastreifen überfährt, dann stelle ich mir kurz vorher sicherlich vor, dass auf dem Beifahrersitz seine schwangere Frau mit einem Blasensprung saß. Ich habe wirklich viel Verständnis.
Aber mein Verständnis hat Grenzen. Bei denen, die mit den Geflüchteten tatsächlich um kleine Wohnungen, Ausbildungsplätze und schlecht bezahlte Jobs konkurrieren, ist es größer als bei der klassischen Stammwählerschaft der AfD, nämlich der abstiegsbesorgten, keinesfalls nur unteren Mittelschicht. Wenn es darum geht, dass eine Abstiegsangst schon damit begründet wird, dass die eigenen Kinder sich nur noch einen Mittelklassewagen leisten können statt zwei, und die Aufmerksamkeit ihrer Klassenlehrerin mit migrantischen Mitschülerinnen teilen müssen, dann erwarte ich ein wenig Stil und Selbstreflexion.
(Womit ich nicht sagen will, dass Integration ein Kinderspiel wäre oder gar umsonst zu haben. Wer das behauptet, ist genauso ideologisch unterwegs wie die, die alle unsere Probleme mit Einwanderung erklären. Es bleibt uns leider nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass es immer schwierig sein wird, Lösungen zu finden, die für alle Bewohner des Planeten gleichermaßen passen, und es gibt leider auch nicht den einen interessenlosen Experten, der das für uns übernimmt.)
Wer die Anstrengung des Denkens nicht als unüberwindbares Hindernis begreift und ein wenig Restempathiebegabung über die eigene Sozialisation gerettet hat, könnte zu dem Schluss kommen: Dieser unberechtigte Stolz auf das eigene Glück ist so arm wie klein und der Hass auf Minderheiten einfach das allerletzte und wirklich nicht geeignet, einem selbst nachhaltig gute Gefühle zu verschaffen. Wir brauchen keine Sündenböcke, wir sind erwachsen geworden. Lasst uns lieber nach oben treten, nicht nach unten und gemeinsam gegen die kämpfen, die uns wirklich ausbeuten.