
Mangroven sind kein gewöhnlicher Wald. Ihre Bäume stehen nicht fest mit dem Boden verankert da, sondern stützen sich auf weitverzweigte Stelzwurzeln im seichten Wasser. Sie wirken wie urzeitliche Lebewesen, die sich auf Zehenspitzen gegen die Gezeiten stemmen.
Durch ihre Füße fließt das Süß- und Salzwasser in einem Rhythmus, den der Mond vorgibt und der den Pflanzen die Lebensgrundlage bietet. Mangroven brauchen dieses Brackwasser und gedeihen daher in Flussmündungen und Lagunen in tropischen und subtropischen Breitengraden, wo sich feine Sedimente im Boden ansammeln. Alles scheint in Bewegung, aber in einer behäbigen Geschwindigkeit, die nicht für das menschliche Auge gedacht ist. Je nach Wasserstand ragen ihre Wurzeln unterschiedlich weit aus dem weichen Schlick empor, schlingen sich ineinander, halten sich gegenseitig. Kein Baum könnte hier allein bestehen.
In alten Überlieferungen heißt es, dass manche Bäume magische Kräfte besitzen. Außerdem werden verschiedene Teile der Pflanzen als Ressourcen für Heilmittel verwendet. Ihre Rinde, ihre Blätter, selbst das salzige Wasser zwischen ihren Wurzeln werden in der traditionellen Medizin genutzt. Frauen, die sich ein Kind wünschen, sollen bestimmte Mangrovenbäume umarmen, damit ihre Bitte erhört wird.
Diese Erzählungen sind mehr als Aberglaube – sie spiegeln eine tiefe Verbundenheit mit der nicht-menschlichen Umgebung wider, die Natur und Kultur untrennbar verbindet. In den Geschichten existieren Mangroven nicht nur als Bäume, sondern als Wesen, die über ihre Artgenossen hinaus in Beziehung stehen. Auch und gerade in Zeiten, in denen die Mangrovenwälder selbst bedroht sind.
Ann Mbuti, Jahrgang 1990, ist freie Autorin und Journalistin in den Bereichen der zeitgenössischen Kunst und (Pop-)Kulturen. Ihr Fokus liegt auf Positionen und Projekten, die ein Potenzial für gesellschaftlichen Wandel haben. Derzeit beschäftigt sie sich mit Mythologien, Oral History, Science-Fiction und der Verschmelzung von Fakten und Fiktionen. Zuletzt ist von ihr das Buch „Black Artists Now. Von El Anatsui bis Kara Walker“ im C.H. Beck Verlag erschienen. Ann Mbuti lebt und arbeitet in Zürich.
Ein Baum kann nicht allein stehen, besagt ein Swahili-Sprichwort. In der ostafrikanischen Sprache gibt es viele dieser sogenannten Methalis: Kurze Sinnsprüche, die die größeren und kleineren Weisheiten des Lebens wiedergeben. Sie erzählen von den Erfahrungen vorangegangener Generationen, von ihren Ideen zu Natur, Gesellschaft und Werten. Die Swahili-Kultur ist alt und die Weisheiten in ihren Sprichwörtern konnten lange reifen. Swahili bezeichnet nicht nur die Sprache, sondern ist auch der Name der Volksgruppe, die entlang der ostafrikanischen Küste lebt. Ihre jahrhundertealten Geschichten und Traditionen gehören zu den faszinierendsten der Welt. Bereits seit dem ersten Jahrtausend nach Christus haben wichtige Handelsrouten entlang des Indischen Ozeans die Region von Kenia über Tansania bis nach Mosambik mit anderen Teilen der Welt verbunden. Der kulturelle Austausch zwischen Afrika, Arabien, Persien und Indien prägt bis heute ihre Kultur. Die Architektur, die Sprache, die Küche und die Traditionen der Region sind ein Geflecht verschiedener Einflüsse. Die Sprichwörter verbinden diese Vergangenheiten mit unserer Gegenwart.
Mein erster Besuch an der Swahili-Küste liegt schon einige Jahre zurück. Damals kam ich wegen ihrer Geschichten, denn die Küste sei magisch, sagte mir eine Kuratorin in Nairobi. Ich war auf einer Recherchereise durch mein – wie man so sagt – „Vaterland“ und sie empfahl mir, nach Lamu zu fahren, um einen Einblick in die kenianische Mythologie zu bekommen. Die Menschen an der Küste seien ganz anders als die in der Hauptstadt. Vor Kurzem führte mich ein künstlerisches Forschungsprojekt mit dem Titel „Mangrove Ecologies“ erneut nach Lamu. In einer Gruppe von vier Künstlerinnen und Forscherinnen untersuchen wir die vielfältigen Beziehungen, die Mangrovenwälder mit menschlichen Gesellschaften eingehen – ökologisch, ökonomisch, kulturell und historisch.
Die kleine Insel Lamu vor der Nordküste Kenias ist Teil eines Archipels, der seit Jahrhunderten ein Knotenpunkt für Handel und kulturellen Austausch ist. Auch Manda und die größte, aber am wenigsten bekannte Insel Pate sind Teil davon. Doch Lamu ist nicht nur eine Siedlung – es ist ein Geflecht aus Land, Wasser und Geschichte. Die Swahili waren eine städtische Seefahrergemeinschaft, die mit Fremden aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenarbeitete, als der Handel im Indischen Ozean florierte. Sie wurden zu Zwischenhändlern, die Waren von der afrikanischen Küste in alle Welt transportierten, und lebten außerdem von der Landwirtschaft und Fischerei. Elfenbein, Holz und versklavte Menschen wurden exportiert, Gewürze und Kleidung aus arabischen Regionen importiert. Die Altstadt von Lamu Town gehört seit 2001 zum UNESCO-Weltkulturerbe und gilt als die älteste ununterbrochen bewohnte Stadt des Landes. Erste Spuren einer Besiedlung gehen auf das 5. Jahrhundert zurück, und seit dem 14. Jahrhundert besteht die feste Bebauung, die heute als die besterhaltene Swahili-Architektur Ostafrikas gilt.
Dieser Küstenabschnitt des Indischen Ozeans ist stark von Traditionen geprägt und scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Lamu Town besteht aus verzweigten, engen Gassen, die von den weißen Kalksteinfassaden der Gebäude gebildet werden. Emsig schieben sich die Menschen durch die labyrinthischen Wege. Die Architektur der Gebäude ist stark arabisch geprägt und der ganze Ort leuchtet im gleißenden Sonnenlicht. Schwere Holztüren mit filigranen Schnitzereien erzählen die Geschichten vergangener Jahrhunderte. Autos gibt es auf der Insel nur drei Stück und neben den Motorradtaxis, die bodas genannt werden, sind Esel immer noch die Haupttransportmittel, die schwer bepackt mit Baumaterialien, Waren und Menschen oder auch ganz allein durch die Straßen traben. Jede Erinnerung an diesen Ort verblasst ein wenig, wie ein Fiebertraum, der sich mit der feuchten Luft vermischt, die vom Indischen Ozean durch die Stadt weht.
Der Außenbootmotor unseres kleinen Bootes rattert laut, während er uns durch das seichte Wasser schiebt. Der Fahrer ist einer der lokalen Bootsmänner, der sein Fahrzeug routiniert durch die grünen Kanäle steuert, die die Mangroven bilden. Wir biegen einige Male ab und dringen tiefer und tiefer in den Wald vor. Es ist noch früh am Morgen, doch wir befinden uns nah am Äquator, sodass nur wenig Zeit bleibt, bis die Sonne zu stechen beginnt. Die salzige Luft ist durch den Fahrtwind einigermaßen kühl, doch plötzlich schaltet der Fahrer den Motor ab und das Boot treibt nur noch langsam einige Meter weiter. Wir sind inmitten der Mangroven und der Kanal ist inzwischen so schmal, dass wir längst nicht mehr wenden könnten. Nach dem Lärm des Motors herrscht endlich Stille; das Plätschern des Wassers gegen den Rumpf, das Zirpen von Insekten; irgendwo knackt ein Ast und übertönt das leise Rascheln der Blätter, die sich in der stickigen Brise bewegen. Wir beobachten das fließende Wasser und warten.
Bei meinem ersten Besuch der Mangrovenwälder muss ich an das Methali des Baums denken. An diesem Ort scheint es besonders wahr, denn Mangroven sind kein gewöhnlicher Wald. Ihre Bäume stehen nicht fest mit dem Boden verankert da, sondern stützen sich auf weit verzweigte Stelzwurzeln im seichten Wasser. Sie wirken wie urzeitliche Lebewesen, die sich auf Zehenspitzen gegen die Gezeiten stemmen. Durch ihre Füße fließt das Süß- und Salzwasser in einem Rhythmus, den der Mond vorgibt, und der den Pflanzen die Lebensgrundlage bietet. Mangroven brauchen dieses Brackwasser und gedeihen daher in Flussmündungen und Lagunen in tropischen und subtropischen Breitengraden, wo sich feine Sedimente im Boden ansammeln. Alles scheint in Bewegung, aber in einer behäbigen Geschwindigkeit, die nicht für das menschliche Auge gedacht ist. Je nach Wasserstand ragen ihre Wurzeln unterschiedlich weit aus dem weichen Schlick empor, schlingen sich ineinander, halten sich gegenseitig. Kein Baum könnte hier allein bestehen.
Für die Küstenregion Kenias sind Mangroven weit mehr als nur ein Landschaftselement. Sie erstrecken sich entlang der Ufer und schützen das Land vor Erosion und Wetterereignissen. Wie natürliche Wellenbrecher dämpfen sie die Fluten ab und hüten das Gleichgewicht zwischen Land und Meer.
Ihre besondere Art der Vernetzung zeugt von ihrer Anpassungsfähigkeit. Dazu bedarf es einer Beweglichkeit und Offenheit, die mich bei jedem Besuch des Lamu‑Archipels an Édouard Glissant erinnert. Der französisch-karibische Schriftsteller und Theoretiker entwickelte das Konzept des archipelischen Denkens in Abgrenzung zu einem starren Systemdenken, einer „kontinentalen“ Vorstellung von Identität. Er betrachtet Inselwelten als Orte des Austauschs, der Durchlässigkeit und der Hybridität. Auch bei ihm beeinflussen die Eigenschaften von Pflanzen seinen Blick auf die Welt. Vom französischen Philosophen Gilles Deleuze und dem französischen Psychoanalytiker Félix Guattari entlehnt er das Bild des Rhizoms – ein Netzwerk ohne festes Zentrum, das sich horizontal ausbreitet und für das die vielfache Wurzel einer Pflanze ein Beispiel ist. Das Rhizom entspricht eben jener pluralen Identität, die eines seiner zentralen Credos geprägt hat: Ich kann mich durch den Austausch mit anderen verändern, ohne mein Selbstgefühl zu verlieren oder zu verwässern.
Glissant prägte die Idee der Poétique de la Relation, einer Poetik der Beziehung, und eines fortwährenden Dialogs zwischen verschiedenen Elementen, aus dem etwas Neues entsteht. Eine Haltung, die dabei genauso auf die Verflechtungen der Mangroven wie auch auf die Region Lamus passt.
Bis heute bestehen die Spuren verschiedener kolonialer Mächte fort, die Jahrhunderte lang um die Kontrolle über den Handel und die Ressourcen der Region kämpften. Portugiesische Kolonialisten erreichten im 16. Jahrhundert die Küste Ostafrikas und errichteten befestigte Stützpunkte wie Fort Jesus in Mombasa, das bis heute Kenias wichtigste Hafenstadt ist. Ihr Ziel war es, die Kontrolle über den florierenden Handel mit Gewürzen, Elfenbein und versklavten Menschen zu sichern. Im 17. Jahrhundert wurden sie von den Omanern verdrängt, unter deren Kontrolle sich Lamu zu einem wichtigen Zentrum des Swahili-Handelsnetzwerks entwickelte, das weit über den Indischen Ozean hinausreichte. Mit der omanischen Herrschaft verbreitete sich die islamische Kultur und bis heute ist die Bevölkerung größtenteils muslimischen Glaubens.
Im 19. Jahrhundert drangen die britischen Kolonialisten in die Region vor und erklärten die Küste von Kenia 1895 zum Protektorat. Sie beendeten offiziell den Sklavenhandel, der bis dahin die wirtschaftliche Basis bildete, etablierten zugleich aber neue Abhängigkeitsverhältnisse. Während der Kolonialzeit wurden große Landflächen für Plantagenwirtschaft genutzt, die hauptsächlich europäischen Interessen dienten. Die Briten verdrängten zudem lokale politische Strukturen, indem sie ihre Verwaltungssysteme aufzwangen und damit langfristige Auswirkungen auf die soziale Ordnung und den Zugang zu Ressourcen hinterließen. Die kolonialen Einflüsse sind bis heute sichtbar – in der Architektur, der Sprache und im kulturellen Selbstverständnis der Region.
Man sehe, wer von der Küste abstamme und wer aus dem Landesinneren, sagt ein lokaler Künstler, mit dem wir eines Abends zusammensitzen. In Kenia, einem Land mit mehr als 40 ethnischen Gemeinschaften, ist Identität vielschichtig – jede Gruppe hat eigene Vorstellungen von Abstammung, Zugehörigkeit und Geschichte. Das Bewusstsein, Kenianerin oder Kenianer zu sein, ist nicht homogen, sondern geprägt von einer Vielzahl der Verflechtungen, besonders an der Küste, die seit Jahrhunderten bedeutender Knotenpunkt des Austauschs ist, verschmelzen verschiedene Einflüsse zu einem neuen Ganzen. Glissant zeigt es in der „Poetik der Beziehung“: Identität ist nicht starr, sondern im ständigen Wandel, geformt durch Begegnung und Austausch. Schließlich kann ein Baum nicht allein stehen.
Die Bäume des Lamu County machen über 60 Prozent der gesamten Mangrovenfläche des Landes aus. Ihre wirtschaftliche Bedeutung für die Region reicht weit in die Vergangenheit zurück und ist einer der Gründe ihres Aufschwungs. Das Mangrovenholz wird seit Jahrhunderten für den Boots- und Hausbau sowie für kunstvolle Schnitzereien verwendet. Türen und Möbel aus Lamu spiegeln die überlieferten Techniken des traditionellen Handwerks wider. Außerdem eignet sich das dichte, widerstandsfähige Holz der Mangrovenwälder besonders gut für die traditionellen Dhows, die Segelboote, mit denen Fischer und Händler die Gewässer des Indischen Ozeans seit Jahrhunderten befahren. Sie verbanden Lamu mit anderen wichtigen Küstenstädten wie Sansibar und Mombasa sowie dem Jemen und Indien. Diese Handelsverbindungen brachten nicht nur die Gewürze, die die Küche der Region prägen, und internationale Waren in die Region, sondern sorgten auch für einen florierenden Handel mit Mangrovenholz. Im Jahr 1414 soll ein Dhow gar eine Giraffe zum Hof des chinesischen Kaisers gebracht haben.
Im Ort sind die Holzschnitzereien sehr präsent. Neben den aufwändigen Türen zieren Möbelstücke wie Bänke, Tische und Regale die Häuser und werden als Souvenirs oder Kunstwerke verkauft. Auch heute gibt es in Lamu noch lokale Holzwerkstätten, die den Abbau von Mangrovenholz selbst tätigen. Meist in den frühen Morgenstunden, wenn das Wasser hoch genug steht, machen sich die Fäller in schmalen Holzbooten auf den Weg zu den dichten Wäldern vor der Nachbarinsel Pate. Der Abbau ist oft Handarbeit und mit Macheten und Äxten schneiden sie gezielt die geraden, widerstandsfähigen Stämme heraus – bevorzugt Rhizophora‑Mangroven, deren Holz besonders hart und wasserresistent ist. Die gefällten Stämme werden gebündelt und ins Boot geladen, was einige Stunden dauern kann. Manchmal bleibt das Boot dann über Nacht am Ufer, damit es den steigenden Wasserstand der Flut nutzen kann, um die schwere Last fortzubewegen. Zurück an Land werden die Hölzer in der Sonne getrocknet oder teilweise direkt weiterverarbeitet oder für Holzkohlegewinnung oder den Export aufbereitet.
Ein Besitzer der kleinen Holzwerkstatt im Zentrum Lamus erklärt uns, wie sich früher der Holzschlag organisch regulierte. Ältere Fischer und Bootsbauer wussten, welche Bäume man fällen konnte, ohne das Gleichgewicht zu gefährden. Doch mit wachsender Nachfrage und ihrer kommerziellen Interessen trat dieses Wissen in den Hintergrund. Nachdem die unkontrollierte Abholzung erhebliche Schäden verursacht hat, unterliegt die Nutzung von Mangrovenhölzern inzwischen strengen Vorschriften. Der Kenya Forest Service KFS, die Forstbehörde des Landes, überwacht die Einhaltung von verschiedenen Schutzmaßnahmen. So ist festgelegt, welche Baumarten in welchen Altersstufen gerodet werden dürfen, um eine nachhaltige Nutzung zu ermöglichen. Wer überhaupt Mangrovenholz schlagen möchte, benötigt eine offizielle Genehmigung – Verstöße ziehen hohe Geld- oder Gefängnisstrafen nach sich.
Die Mangroven, die der Insel am nächsten liegen, eignen sich allerdings kaum für die Holzgewinnung – ihre Stämme sind zu klein, um lange Balken zu gewinnen. In der Stille des Waldes wirkt das dichte Wurzelgeflecht jedoch alles andere als klein. Die gekrümmten Äste, übersät mit kleinen, spitzen Muscheln, schweben wie bedrohliche Silhouetten über der Wasseroberfläche. Vor der dichten Wand aus verflochtenem Gehölz, die uns fast vollständig umgibt, wirkt unser Boot wie ein Fremdkörper, ein Eindringling in einer anderen Welt.
In dieser unwirklichen Atmosphäre braucht es nicht viel Fantasie, um die reichen Mythen und Erzählungen der Küstenbewohnerinnen und -bewohner nachvollziehen zu können. In den Geschichten der Swahili-Küste sind Mangroven nicht nur Wälder, sondern geheimnisvolle Schwellenräume – Orte, an denen die sichtbare und die unsichtbare Welt aufeinandertreffen. Die alten, mündlich überlieferten Geschichten erzählen von Geistern und Dämonen, die dort leben. Sie sollen davor warnen, sich nach Einbruch der Dunkelheit noch in den Wäldern aufzuhalten, da Dschinns wie der „Ngoloko“ ihr Unwesen treiben. Tief in den verwobenen Wurzeln verborgen, locken sie Unwissende in einen Hinterhalt. Sie sollen die Stimmen vertrauter Menschen imitieren und sie so immer tiefer in den undurchdringlichen Wald locken. Doch wer von dem angebotenen Honig trinkt, dem wird die Kehle durchgeschnitten.
Doch nicht alle Geschichten über das einzigartige Ökosystem sind düstere Warnungen. In alten Überlieferungen heißt es, dass manche Bäume magische Kräfte besitzen. Außerdem werden verschiedene Teile der Pflanzen als Ressourcen für Heilmittel verwendet. Ihre Rinde, ihre Blätter, selbst das salzige Wasser zwischen ihren Wurzeln werden in der traditionellen Medizin genutzt. Frauen, die sich ein Kind wünschen, sollen einen bestimmten Mangrovenbaum umarmen, damit ihre Bitte erhört wird.
Diese Erzählungen sind mehr als Aberglaube – sie spiegeln eine tiefe Verbundenheit mit der nicht-menschlichen Umgebung wider, die Natur und Kultur untrennbar verbindet. In den Geschichten existieren Mangroven nicht nur als Bäume, sondern als Wesen, die über ihre Artgenossen hinaus in Beziehung stehen. Tatsächlich sind Mangroven nicht nur anpassungsfähige Überlebenskünstlerinnen, sondern auch Architektinnen eines ganzen Ökosystems. In ihren Wurzeln finden Fische, Krabben und Muscheln Schutz, um in diesen natürlichen Kinderstuben heranzuwachsen, bevor sie sich dem offenen Meer aussetzen. Ihre Nachbarschaft wie Seegraswiesen und Korallenriffe profitieren davon, dass sie Sedimente aus dem Wasser filtern. Diese Umgebung, die sie schaffen, gehört zu den wichtigsten Ökosystemen unseres Planeten und speichert große Mengen an Kohlenstoff – weit mehr als viele Regenwälder.
Trotz ihrer wichtigen lokalen und globalen Funktion sind Mangroven bedroht und verschwinden rapide. Übermäßige Abholzung, Tourismus und nicht zuletzt die Auswirkungen des Klimawandels setzen ihnen zu. In vielen Küstenregionen fallen ganze Wälder lukrativeren Nutzungsformen wie der Landwirtschaft, Garnelenzucht oder großen Infrastrukturprojekten zum Opfer. So auch im Lamu-Archipel. Untersuchungen zeigen, dass die Fläche seit den 1980er Jahren um etwa 8.000 Hektar zurückgegangen ist, was sich sowohl auf illegale Abholzung als auch auf neue Industrieprojekte zurückzuführen ist.
Eines der größten in Kenia liegt in unmittelbarer Nähe der historischen Swahili‑Siedlung. Der Lamu Port-South Sudan-Ethiopia Transport Corridor – kurz LAPSSET – wurde 2012 von Kenia, Äthiopien und dem Südsudan ins Leben gerufen. Das Projekt soll die Verbindung zwischen den Ländern fördern. Vor kurzem ist auch Uganda dem Projekt beigetreten. Ziel ist es, den regionalen Handel zu stärken und die wirtschaftliche Entwicklung der Region voranzutreiben. Der Transportkorridor soll die Verbindung zu den Weltmärkten und anderen wichtigen Transporthäfen stärken. Neben dem strategisch wichtigen Hafen von Lamu umfasst das Bauprojekt daher auch zahlreiche Autobahnen sowie Eisenbahnlinien, Flughäfen und Ölpipelines. Auf der Website heißt es dazu: „Aufbau einer transformativen und bahnbrechenden Infrastruktur für ein nahtlos vernetztes Afrika.“
Doch das Projekt ist in der Bevölkerung umstritten. Einerseits verspricht es neue Arbeitsplätze, eine verbesserte Infrastruktur und ein enormes Wirtschaftswachstum. Doch die Kehrseite des Fortschritts sind die noch unklaren Auswirkungen auf das empfindliche ökologische Gleichgewicht der Insel und das gesamte marine Ökosystem.
Die Anwohnerinnen und Anwohner von Lamu sind enttäuscht, viele winken ab, wenn LAPSSET zur Sprache kommt. Nach der ersten Bauphase, die 2011 begann, kommt der Ausbau aufgrund von Finanzierungsproblemen, Sicherheitslücken und administrativen Änderungen nur langsam voran. Drei riesige Liegeplätze im neuen Hafen von Lamu wurden im Mai 2021 fertiggestellt und bieten Platz für die weltweit größten Transportschiffe. Doch weil die nötigen Verbindungsstraßen und Eisenbahnlinien noch nicht fertig sind, um den Warenfluss vom Landesinneren an die Küste zu gewährleisten, tut sich im Mega-Hafen wenig. Nur nachts leuchtet der orangefarbene Lichtkegel am Horizont wie eine Großstadt.
Bei unserem Besuch herrscht gähnende Leere auf der großen Betonfläche. Kein Liegeplatz ist besetzt, das letzte Schiff war vor Wochen hier. Und das, obwohl im Hafen der Millionenstadt Mombasa, nur 240 Kilometer weiter südlich, die Schiffe tagelang warten müssen. Der bislang wichtigste Hafen Kenias und Ostafrikas ist überlastet, Lamu Port hinkt hinterher.
Die Frustration der Bevölkerung ist daher verständlich. Nicht nur, dass der versprochene Aufschwung auf sich warten lässt, durch den Ausbau der Mega‑Infrastruktur gehen auch schätzungsweise 2,4 Hektar Mangrovenwald verloren. Und eine Region, die ihre Mangroven verliert, verliert mehr als nur die Bäume: Ein tiefgreifender Veränderungsprozess wird in Gang gesetzt. Die Küstenlinie wird anfälliger für Erosion, weil das weitverzweigte Wurzelwerk nicht mehr verankert ist. Aber auch Fischbestände gehen zurück und viele Fischer, deren Lebensunterhalt seit Generationen an die Küste gebunden ist, sehen ihre Existenz bedroht. Bereits vor einigen Jahren kam es zu einem Rechtsstreit, als über 4.000 Fischer gegen LAPSSET klagten, weil die Verschlechterung der Wasserqualität und die Zerstörung ihrer Fanggründe das Fischen unmöglich machten. Ihnen wurde eine Entschädigung von umgerechnet rund 11 Millionen Euro zugesprochen, doch die Auszahlung verzögerte sich über Jahre. Erst 2024 wurde die endgültige Vereinbarung unterzeichnet, doch die einmalige Entschädigung von rund 3.000 Euro wiegt die Mittel für eine gesicherte Lebensgrundlage nicht auf. Das Verschwinden der Mangrovenwälder könnte der Beginn einer sich langsam entfaltenden Katastrophe sein.
Das Hafenprojekt LAPSSET steht für ein Dilemma, mit dem viele Küstenregionen weltweit konfrontiert sind: Die Notwendigkeit von wirtschaftlicher Entwicklung und Wachstum steht der Verantwortung für den Schutz sensibler Ökosysteme gegenüber. Kann es Fortschritt nur um den Preis langfristiger Umweltschäden geben? Wer trägt die Kosten? Und wer hat am Ende den Nutzen? Die kenianische Regierung spielt zwar eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung und Finanzierung, doch China tritt als einer der wichtigsten Investoren auf.
Das Beste für die Mangroven wäre es, sie einfach in Ruhe zu lassen, meint eine Forscherin des Kenya Marine and Fisheries Research Institute KMFRI bei einem der Workshops zur Vorbereitung unseres Forschungsprojektes. Das KMFRI widmet sich als staatliche Institution der Erforschung und dem Schutz der marinen und küstennahen Ökosysteme des Landes. Ihre wissenschaftlichen Studien fördern nachhaltige Fischereipraktiken und untersuchen gleichzeitig die Auswirkungen des Klimawandels.
Ein Glücksfall für die Mangroven waren die Zeiten der Pandemie, als sich wegen der Ausgangssperre kaum Menschen in dem sensiblen Ökosystem aufhielten, erzählt die Forscherin. Da dies keine realistische Option ist, setzt das Institut auf Aufklärungsprogramme für die lokale Bevölkerung, um die Vorteile des Küstenschutzes zu vermitteln. Umfassende Pläne für maritime Umweltschutzmaßnahmen, die sowohl ökologische als auch sozioökonomische Aspekte berücksichtigen, sollen die Lebensgrundlage der Küste und ihrer BewohnerInnen langfristig sichern.
Doch der Schutz der Mangroven erfordert mehr als bloße Strategien. An der kenianischen Küste nehmen konkrete Ansätze Gestalt an, die über klassische Naturschutzmaßnahmen hinausgehen. Die Projekte „Mikoko Pamoja“ und das davon inspirierte „Vanga Blue Forest“ an der äußersten Südküste Kenias verbinden die Vermehrung von Mangrovenpflanzen mit kreativen Finanzierungswegen, die sich die einzigartigen Eigenschaften der Mangroven zunutze machen: Da die Wälder bis zu fünfmal mehr CO2 binden als terrestrische Wälder, werden spezielle Kohlenstoffzertifikate weltweit verkauft. Unternehmen oder Staaten können Emissionsgutschriften erwerben und damit in die entsprechende Fläche Mangrovenwald investieren, um ihren CO2-Verbrauch zu kompensieren. Es entsteht eine Art Ablasshandel für Emissionen.
Allein „Mikoko Pamoja“ hat seit seiner Gründung im Jahr 2010 über 1.000 Haushalte in die Initiative eingebunden und plant, jährlich mehr als 50.000 Tonnen CO2 zu kompensieren. 2023 zeichnete die UN die Idee aus. Auch das ähnliche „Lamu Blue Carbon Project“ wird vom UN-Umweltprogramm UNEP und UN-Habitat unterstützt. Hier sollen 4.000 Hektar Mangroven entlang der Küste erhalten und wiederhergestellt werden. Die Klimaziele werden zwar unterstützt, aber statt die Ursachen der Emissionen zu bekämpfen, konzentriert man sich auf die Schadensbegrenzung. Der Verkauf der Zertifikate erfolgt über Plattformen, die die Zertifikate verifizieren und die Gelder an die Gemeinden verteilen, der Großteil der Einnahmen geht jedoch an internationale Organisationen und kommerzielle Partner.
Der komplexe Dialog über Wachstum und Schutz, über Umweltfragen in einer globalisierten Welt, erscheint oft als Versuch, die Kluft zwischen den Bedürfnissen von Mensch und Natur zu überbrücken. Vielerorts wird das Verhältnis des Menschen zu seiner nichtmenschlichen Umwelt in Frage gestellt. Eine Neudefinition ist dringend notwendig, wenn nicht längst überfällig. Doch es gibt keine einfache Antwort auf die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Interessen von Bevölkerung, Industrie, Tourismus und Umwelt.
In Lamu wird dieses Spannungsfeld besonders greifbar: Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind hier keine abstrakten Konzepte, sondern gelebte Realität der Bevölkerung. Was andernorts theoretisch diskutiert wird, hat hier direkt mit dem Alltag und den Herausforderungen der lokalen Gemeinschaften zu tun. Die Zukunft des Orts ist ungewiss, aber die Mangroven spielen in all dem nicht nur eine ökologisch wichtige Rolle – sie sind auch Symbole eines anderen Weltverständnisses, das uns eine andere Art des Seins zeigt: vernetzt, widerstandsfähig und wandelbar. Eine Existenz, die Verantwortung trägt für das Überleben vieler anderer – menschlicher und nicht-menschlicher Arten.
Die Zusammenarbeit zwischen uns Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlern, Anwohnern und Umweltschützerinnen ist keine romantische Vorstellung eines interdisziplinären Kunstprojekts, sondern ein Versuch, drängenden Umweltfragen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Indem wir uns mit den Mangroven und den Geschichten, die sich um sie ranken, auseinandersetzen, gewinnen wir Einblicke in die vernetzte Ökologie der Swahili-Küste. Diese Landschaft ist nicht nur ein Naturraum, sondern auch ein kulturelles Archiv. Die Art und Weise, wie die Swahili‑Gemeinschaften mit ihrer Umwelt interagieren, zeugt von einem Verständnis, das sich über Generationen hinweg bewährt hat. Ihre Perspektiven eröffnen uns neue Möglichkeiten, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu blicken. Bei einer unserer frühesten Unterhaltungen in der Gruppe, als es um den Wert von Wissen und Tradition, den Umgang mit Ressourcen und um das Potenzial, nachhaltigere Zukünfte zu gestalten, ging, kam die Idee auf, Mangroven wirklich ernst zu nehmen.
Die Pflanzen beginnen ihr Leben als Stecklinge, wenn sie von den Wurzeln der Mutterbäume ins Wasser fallen, sobald die Bedingungen stimmen. Sie treiben mit der Strömung, bis sie ein Stück Land finden und wenn der Boden, Temperatur, Salzgehalt und viele weitere Faktoren es ermöglichen, wachsen sie heran. Man weiß nie, wo die Stecklinge landen und wo sie Wurzeln schlagen. Letztlich entscheidet eine ganze Menge glücklicher Zufall. Die Ergebnisse unserer künstlerischen Untersuchungen werden wie die Stecklinge sein, in ständiger Bewegung und auf Flexibilität ausgerichtet. So entsteht eine Praxis, die mehr will als nur dokumentieren. Sie will transformieren, bewusstmachen und in einem globalen Kontext die Bedeutung von lokalem Handeln und der Verantwortung für die Zukunft des Planeten betonen – mangrovisches Denken, das sich mit dem archipelischen verbindet.
Beim letzten Abschied von Lamu erhob sich die kleine Propellermaschine langsam und gab den Blick frei auf die satten Wälder. Von oben sahen die Inseln aus wie ein grüner Teppich – dicht gewebt, wunderschön und scheinbar unberührt. Ihr Schutz ist mehr als eine ökologische Pflichtübung – er ist eine Notwendigkeit, um diese jahrhundertealten Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Tradition und Modernität, zwischen lokalen Gemeinschaften und globalen Herausforderungen zu bewahren. Es geht um die Verbindungen, die diese Wälder mit den Menschen und der Weltgemeinschaft teilen. Diese Verbindungen sind es, die die wahre Bedeutung von Mangroven ausmachen: eine poétique de la relation, die das Wachstum und die Erneuerung im Dialog mit der Umwelt fördert. Ein Baum, der nicht allein stehen kann. Und ein Mangrovenwald, der, wie das Swahili-Sprichwort sagt, nur durch seine Verbindungen weiterlebt.