Miteinander reden
Wieviel Freiheit lassen wir (noch) zu?

Im Herzen der Demokratie schlägt die freie Rede. Doch immer mehr Menschen in Deutschland haben das Gefühl, ihre Meinung nicht frei äußern zu können. Welche Rolle spielen bei diesem Befund digitale Hetze und Hate Speech oder Fake News?

Von Frauke Rostalski |
Social Media App-Icons auf einem Smartphone-Bildschirm
Ob eine Äußerung rechtswidrig ist, erweist sich in sehr vielen Fällen als schwierige Frage des Einzelfalls, die von Gerichten zu klären ist (IMAGO / imagebroker / IMAGO / imageBROKER / Thomas Baur)
Durch die freie Rede können gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über die großen Fragen unserer Zeit gelingen. Wie umgehen mit einem Krieg in Europa, der Migration und dem Klimawandel? Angesichts der Größe der Herausforderungen, die in solchen Fragen stecken, erschüttern die Ergebnisse einer Allensbach-Studie, in der die Deutschen alljährlich gefragt werden, ob sie das Gefühl haben, man könne in Deutschland seine politische Meinung frei sagen. Dass man besser vorsichtig sei, haben im Jahr 1990 nur 16 Prozent der Befragten gemeint, heute denken es 44 Prozent und damit vier Prozent mehr als jene, die derzeit noch angeben, ihre politische Meinung frei sagen zu können.
Die gefühlte Meinungsfreiheit ist wichtig – noch wichtiger ist allerdings die Frage, ob sich der in der Allensbach-Studie dokumentierte Vertrauensverlust an tatsächlichen Beschränkungen der freien Rede festmachen lässt. Dafür sprechen verstärkt Phänomene, die uns im digitalen Raum begegnen: Fake News, digitaler Hass und Hetze – sie alle tragen zu problematischen Beschneidungen der Meinungsfreiheit bei. Während diese Phänomene durch das private Verhalten Einzelner verursacht werden, spielen allerdings auch der Staat und seine Vertreter keine ganz unschuldige Rolle, wenn es um die Begrenzung der Meinungsfreiheit geht.
Was tun? Brandmauern ziehen, Fake News, Hass und Hetze verbieten und von staatlicher Seite immer weiter in den Bereich der freien Rede vordringen? Oder umgekehrt den Weg der Plattformen X und Facebook einschlagen, deren Betreiber staatliche Zensur beklagen und Schutzmechanismen gegenüber Fake News und Formen anstößiger beziehungsweise verbotener Kommunikation weitgehend zurückfahren? In welche Richtung geht die Meinungsfreiheit – wie wollen wir miteinander reden?
Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln. Zuletzt sind von ihr die Bücher „Der Tatbegriff im Strafrecht“ (2019) und – vielbeachtet – „Die vulnerable Gesellschaft – Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ (2024) erschienen. Seit 2020 ist sie zudem Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Kürzlich wandte sich der U.S.-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit einer Kritik an die europäischen Staats- und Regierungschefs: Man habe die gemeinsamen westlichen Werte aus dem Blick verloren, vor allem die Meinungsfreiheit. Vance bereite eine „Bedrohung von innen“ Sorge. Die Redefreiheit sei „auf dem Rückzug“. Von „der anderen Seite des Atlantiks [sehe] es immer mehr so aus, als ob sich alte, fest verwurzelte Interessen hinter hässlichen Worten aus der Sowjetzeit wie Missinformation und Desinformation verstecken, denen es einfach nicht gefällt, dass jemand mit einem alternativen Standpunkt eine andere Meinung äußern oder, Gott bewahre, anders wählen oder, noch schlimmer, eine Wahl gewinnen könnte.“ Der Eindruck des U.S.‑Vizepräsidenten scheint sich überraschenderweise mit dem vieler Deutscher zu decken. Eine Allensbach-Umfrage zur gefühlten Meinungsfreiheit gibt Jahr für Jahr besorgniserregendere Werte darüber an, in welchem Umfang die Deutschen den Eindruck haben, ihre politische Meinung frei äußern zu können. Noch nie haben so viele Menschen das Gefühl gehabt, dies nicht tun zu können. Ihre Zahl liegt mittlerweile sogar oberhalb derer, die noch das Gegenteil annehmen, Tendenz: steigend.
Freilich trifft die Allensbach-Umfrage bloß eine Aussage über die gefühlte Meinungsfreiheit. An den Gewährleistungen von Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes, der jedem das Recht einräumt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, ändert selbst eine noch so verbreitete Wahrnehmung innerhalb der Bevölkerung nichts. Dennoch fragt sich, ob das von vielen geteilte Gefühl, in Deutschland nicht mehr ohne Weiteres seine politische Meinung äußern zu können, nicht doch mehr ist als ein bloßes Gefühl. Trifft J.D. Vance möglicherweise einen Punkt, der uns dazu veranlassen sollte, als Gesellschaft darüber nachzudenken, wie viel Freiheit wir einander im Gespräch noch zugestehen? Ich denke, dass dies der Fall ist. Meinungskorridore haben sich verengt, wofür es unterschiedliche Gründe gibt, von denen sich manche auf einer rechtlichen, andere auf einer gesellschaftlichen Ebene abspielen.
Blicken wir zunächst auf die außerrechtlichen Gründe: In den Fokus rücken dabei die sozialen Medien. Rüde Umgangsformen erleben hier seit Jahren eine Konjunktur. Unter dem Stichwort Hass und Hetze werden kommunikative Verhaltensweisen gefasst, die zu einem großen Anteil noch unterhalb der Schwelle des Strafbaren liegen, aber dennoch in erheblicher Weise auf die Bereitschaft anderer einwirken können, ihrer politischen Meinung auf sozialen Plattformen Ausdruck zu verleihen. Man spricht insoweit von Silencing-Effekten. Gemeint ist, dass Menschen zur Selbstzensur neigen, wenn sie befürchten, durch ihre Meinungsäußerung negative Abwehrreaktionen anderer hervorzurufen. Anstatt sich frei zu äußern, halten sie sich im Vorfeld zurück, um nicht andere dazu zu veranlassen, auf ihre Rede mit einer Widerrede zu reagieren, die die Grenzen des Sachlichen weit überschreitet. Nicht jeder erträgt unsachliche, harsche Kritik, zumal sie Menschen ungleich trifft. Zum Beispiel die Angehörigen marginalisierter Gruppen erleben durch digitalen Hass und digitale Hetze oftmals eine unzulässige Diskriminierung, die sie bereits in anderen Zusammenhängen erleiden mussten. Das macht sie verwundbarer und eher dazu geneigt, ihre Meinung gänzlich zurückzuhalten.
Neben Hass und Hetze kommt es in digitalen Kommunikationsräumen häufig zu Fehlinformationen über reale Geschehnisse. Sogenannte Fake News können sich auf gesellschaftlich relevante Ereignisse wie einen Krieg, Pandemieschutzmaßnahmen oder einen terroristischen Anschlag beziehen. Oder sie geben falsch wieder, was andere gesagt haben, seien es Politiker, sonstige Personen des öffentlichen Lebens oder Wissenschaftler. Dabei wäre es naiv zu denken, dass nicht gerade der Streit darum, worin die geteilte Wahrheit einer Gesellschaft liegt, einen wesentlichen Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse darstellt. Wirklichkeitsvorstellungen können in Konkurrenz zueinander geraten, vor allem dann, wenn sie sich auf Ereignisse beziehen, die durch hohe epistemische Unsicherheit geprägt sind. Ein Beispiel liefert die Corona‑Pandemie. Das neuartige Corona-Virus stellte nicht zuletzt den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn vor große Herausforderungen. Wissensbestände, die einmal erlangt worden waren, wurden allzu häufig wieder erschüttert und mitunter von Grund auf revidiert. Dies betraf etwa die Ansteckungsgefahr durch Kinder, die vor allem zu Beginn der Pandemie noch als sehr hoch eingestuft wurde, was sich später als unrichtig herausstellte. Dasselbe gilt für die sogenannte „Laborthese“, wonach das Corona-Virus aus einem Labor entwichen sei. Wer dies behauptete, wurde lange Zeit von führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und einer breiten öffentlichen Meinung als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Mittlerweile deuten viele Anhaltspunkte auf die Richtigkeit der „Laborthese“ hin, unter anderem spricht sich dafür ein Untersuchungsausschuss des U.S.-Repräsentantenhauses aus, der durch die frühere Biden-Administration eingesetzt wurde. Kürzlich wurde bekannt, dass es der deutsche Auslandsgeheimdienst BND bereits 2020 für sehr wahrscheinlich hielt, dass das Corona-Virus seinen Ursprung in einem Labor in China hatte. Das Bundeskanzleramt hielt die Einschätzung allerdings unter Verschluss.
Dass mitunter sehr heftig darüber gestritten wird, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten, ist alles andere als verwunderlich: In einer Demokratie kommt es entscheidend darauf an, welche Tatsachen einer Wertentscheidung zugrunde gelegt werden. In Abhängigkeit davon, wie diese ausgestaltet sind, erweist sich die eine oder die andere, mitunter erheblich von einander abweichende Variante als richtiger Weg zum gesellschaftlichen Umgang mit Herausforderungen wie Pandemien, einem Krieg in Europa oder dem Klimawandel. Dies verdeutlicht die Schädlichkeit von Falschinformationen im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit. Weil es Tatsachen bedarf, um Wertentscheidungen darauf bezogen treffen zu können, haben fehlerhafte Angaben über reale Ereignisse oder Äußerungen Dritter mitunter erhebliche Effekte auf den Einzelnen. Sie stören den Vorgang der Meinungsbildung, indem sie uns falsche Prämissen zugrunde legen lassen.
Fake News, Hass und Hetze sind allerdings nicht die einzigen Gründe, die der gefühlten Verschlechterung der Meinungsfreiheit einen realen Kern verleihen. Hinzu tritt ein Phänomen, das ich als Diskursvulnerabilität bezeichne. Gemeint ist eine besondere Verletzlichkeit im Gespräch. Worte können verletzen, nicht erst dann, wenn sie die Grenze zur strafbaren Beleidigung überschreiten. Diskursvulnerabilität ist nach meiner Einschätzung ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das gerade in den letzten Jahren erheblich um sich greift. Sie äußert sich insbesondere in aufgeladenen Debatten wie jenen über die Pandemie, den Ukraine-Krieg oder den Klimawandel. Menschen zeigen zunehmend die Bereitschaft, die eigene Meinung moralisch so erheblich aufzuladen, dass sie mehr oder minder zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit wird. Dies erschwert den sachlichen Diskurs, da Sachargumente als Angriff auf die eigene Person fehlgedeutet werden. Die erwartbare Reaktion ist dann eine nicht sachbezogene, emotionale: Das gesamte Gesprächsthema, der jeweilige Gesprächspartner oder zumindest ein spezifisches Argument werden rundheraus abgelehnt, es kommt zu Lagerbildung. Dieser Mechanismus zeigte sich in der Pandemie im Umgang der Vertreter des „Teams Sicherheit“ mit jenen des „Teams Freiheit“ und umgekehrt. Er setzte sich fort in der Debatte um die Frage, wie Deutschland auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine reagieren soll – Lieferung schwerer Waffen, ja oder nein? Friedensverhandlungen, ja oder nein? Und auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel drängt sich der Eindruck eines eigentümlichen Bekenntniszwangs auf, frei nach dem Motto: „Bist du nicht für die Reduktion von CO2, bist du gegen mich!“ mit dem Ergebnis, dass jede sachliche Kritik an der Sinnhaftigkeit nationaler Klimaschutzmaßnahmen zum Ausdruck einer unökologischen und damit verdammungswürdigen Haltung verkommt.
Diskursvulnerabilität führt auf diese Weise zu Schließungen des offenen gesellschaftlichen Gesprächs. Menschen halten sich mit ihrer politischen Meinungsäußerung zurück, weil sie befürchten, in eine bestimmte Ecke geschoben zu werden und dadurch als gleichberechtigter Gesprächspartner für andere auszuscheiden. Ein Beispiel liefert die Corona-Impfung. Sich nicht impfen lassen zu wollen, kam während der Pandemie einem Bekenntnis gleich – einem Bekenntnis gegen die Corona-Politik der Bundesregierung, gegen das gesellschaftlich vorherrschende Verständnis von Solidarität, die allein durch Impfung bewiesen werden könne, und für diverse Verschwörungsnarrative, die bei der Ungefährlichkeit des Corona-Virus begannen und bis hin zu dem Bild einer globalen Machtelite aus Pharmakonzernen und U.S.-amerikanischen Milliardären reichten. Wer sich nicht impfen lassen wollte, war in den Augen vieler „unsolidarisch“, „tyrannisiere“ die geimpfte Mehrheitsbevölkerung, sei „libertär-autoritär“ und „narzisstisch“ – mit ihm müsse nicht gesprochen werden, seine Position sei so fernab vom gesellschaftlich Akzeptablen, dass sein Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs die einzig anerkennenswerte Folge seines Bekenntnisses sei. Bis heute hat sich hieran nicht sehr viel geändert, was zeigt, wie lange die Verschiebung in ein bestimmtes gesellschaftliches Lager noch Schäden an der eigenen Person verursachen kann. Das Beispiel verdeutlicht, wie gefährlich es sein kann, die eigene politische Meinung offen zu äußern. Weil viele dies wissen beziehungsweise ein Gespür dafür entwickelt haben, halten sie sich eher zurück, was eine zusätzliche Erklärung für die Ergebnisse der Allensbach-Umfrage liefern kann.
Nun ging es dem U.S.-amerikanischen Vizepräsidenten allerdings nicht lediglich um die gefühlte Meinungsfreiheit beziehungsweise den gesellschaftlichen Umgang miteinander, sondern um deren tatsächliche rechtliche Gewährleistung. Es lohnt daher zu fragen, ob nicht auch J.D. Vance einen wichtigen Punkt anspricht, der sich in der Rechtsentwicklung der vergangenen Jahre nachzeichnen lässt. In der Tat haben sich unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit im deutschen Recht einige Dinge verschoben. Dies betrifft zunächst die Meinungsäußerungsdelikte, vor allem die Beleidigungstatbestände und den Volksverhetzungsparagrafen, die erweitert und verschärft wurden. Neue Straftatbestände sind hinzugekommen wie zum Beispiel die Verhetzende Beleidigung, die auf den Schutz marginalisierter Gruppen fokussiert, die Ausweitung des Straftatbestandes des § 188 StGB, der Ehrschutzdelikte erfasst, die sich gegen Personen des politischen Lebens richten, sowie die Ergänzung von § 130 StGB um einen neuen Absatz, der Äußerungen zu umstrittenen Konflikten der Gegenwart unter bestimmten Voraussetzungen unter Strafe stellt. Darüber hinaus wurden bestehende Vorschriften teils erheblich in ihrem Strafrahmen ausgeweitet. Im Zusammenhang mit sanktionsbewehrten Meinungsäußerungen ist außerdem an die neue Vorschrift des sogenannten „Dead Namings“ zu erinnern, die im Selbstbestimmungsgesetz angesiedelt ist und es ahndet, eine Person mit dem Namen anzusprechen, den sie vor einer Personenstandsänderung getragen hat. Und auch Meinungsäußerungen, die sich gegen Schwangerschaftsabbrüche richten, können seit Kurzem unter bestimmten Voraussetzungen sanktioniert werden – zum Schutz Schwangerer, die sich in der Nähe einer Beratungsstelle oder einer Einrichtung aufhalten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Man kann diese Veränderungen allesamt befürworten und nicht zuletzt als Ausdruck einer gewachsenen Sensibilität im Umgang miteinander gutheißen. Ganz unabhängig davon, wie die Gesetzesänderungen allerdings im Ergebnis bewertet werden, sind sie zunächst einmal eines: eine Verkürzung der Meinungsfreiheit.
Rechtliche Relevanz hat in puncto Meinungsäußerungsdelikte allerdings nicht bloß die Ausweitung von Verbots- und Sanktionsvorschriften in der jüngeren Vergangenheit. Daneben tritt eine besorgniserregende Zunahme der Strafverfolgung von Taten, die allenfalls geringfügig oberhalb der Grenze des Bagatellhaften liegen. Wegen der Weite der gesetzlichen Tatbestände sind die Beleidigungsdelikte in ihrer konkreten Anwendung maßgeblich darauf angewiesen, dass innerhalb der Bevölkerung eine gewisse Großzügigkeit im Umgang miteinander vorherrscht – dass also nicht jedweder Angriff auf den eigenen Achtungsanspruch als so gewichtig eingestuft wird, dass er der Reaktion bedarf. Ebenso kommt es darauf an, wie Strafverfolgungsbehörden und Gerichte das Verhältnis zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit einschätzen, hier können sich Verschiebungen ergeben. In Zeiten um sich greifender Diskursvulnerabilität liegt es nahe, dass dieser Mechanismus, auf dem das Gesetz lange Zeit baute, nicht länger einwandfrei greift.
Paradebeispiel dafür sind zahlreiche Verfahren, die die Justiz in den vergangenen Jahren wegen Verstößen gegen die Vorschrift des § 188 StGB beschäftigt haben. Zahlenmäßig haben sich hier einige Politiker in besonderer Weise hervorgetan. In erster Linie zu nennen ist insoweit der frühere Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, auf dessen Konto über 800 Strafanzeigen gehen, die mitunter sehr geringfügige Ehrverletzungen betrafen wie etwa die Bezeichnung seiner Person als „Schwachkopf“, „Vollpfosten“ oder „Vollidiot“. Neben ihm sticht die frühere Bundesaußenministerin Annalena Baerbock durch über 500 Strafanzeigen gegen Bürger hervor, darunter ein Verfahren wegen der Äußerung, bei ihr handele es sich um die „dümmste Außenministerin der Welt“, wiederum eine wenig schmeichelhafte, aber allenfalls bagatellartige Ehrverletzung. Allein überholt werden beide von der Europa-Abgeordneten der FDP, Agnes Strack-Zimmermann, die in einem Zeitraum von eineinhalb Jahren über 1900 Strafanzeigen stellte und mitteilt, dass es sich fortlaufend monatlich um ungefähr 250 handelt. Darunter fallen in großer Zahl ehrverletzende Äußerungen, die ihre Positionierung zum Ukraine-Krieg betreffen, wie etwa „Kriegstreiberin“ oder „Kriegshexe“. Zu Strafverfahren ist es im Hinblick auf andere Politiker unter anderem wegen folgender Bezeichnungen gekommen: „aufgedunsene Dampfnudel“, „bösartige Versager“, „dahergelaufene[r] Trottel“, „korrupte[r] Speichellecker“ und „Drecks Suffkopf“. Die Liste ließe sich verlängern. Dabei sei nicht gesagt, dass nicht viele der neben den genannten Beispielen angezeigten Verhaltensweisen tatsächlich schwerwiegende Beleidigungen darstellen können. Auffällig bleibt die Häufung von Verfahren, die sich mit Äußerungen befassen, die lange Zeit als bagatellhaft eingestuft worden wären. Verglichen mit Angela Merkel, die in 16 Jahren Kanzlerschaft keine einzige Strafanzeige wegen eines Ehrschutzdelikts stellte, belegen die jüngeren Entwicklungen eine gewachsene Empfindlichkeit führender Politiker, die in der Justiz Anklang findet. Dabei greifen Staatsanwaltschaften und Polizei nicht selten auf so eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen zurück wie etwa im Fall der Bezeichnung von Robert Habeck als „Schwachkopf Professional“. Gemessen an der Erheblichkeit des Eingriffs, den eine Hausdurchsuchung bedeutet, zeichnet sich hierin eine signifikante Verschiebung der Wahrnehmung des Gewichts ab, das mittlerweile selbst einfachen Beleidigungen verliehen wird.
Hierzu passt es, wenn der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, Meinungsäußerungen „unterhalb der strafrechtlichen Grenze und unbeschadet ihrer Legalität“ für den Verfassungsschutz für relevant einstuft. Das Einschüchterungspotential derartiger Äußerungen des Vertreters einer Behörde, die zu besonders erheblichen Eingriffen in die Rechte der Bürger befugt ist, erscheint enorm. Damit einhergehen dürften wiederum Mechanismen der Selbstzensur, indem Menschen sich selbst dort mit ihrer Meinung zurückhalten, wo sie zulässigerweise davon Gebrauch machen dürfen, weil sie befürchten müssen, auf diese Weise in den Blick der Sicherheitsbehörden zu geraten.
Ähnliches ist zu befürchten infolge der anwachsenden Kette staatlich finanzierter Einrichtungen, die Meinungskundgaben selbst dann als problematisch bewerten, wenn sie sich im Bereich des Erlaubten bewegen. Beispielsweise fördert die nordrhein-westfälische Landesregierung mehrere Meldestellen, die rassistische „Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfassen, analysieren und dokumentieren“. Unklar bleibt, welchen Nutzen die Dokumentation erlaubter Meinungsinhalte hat. Zumindest dürfte sie eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung in die Bevölkerung hinein haben, wonach von staatlicher Seite selbst solche Äußerungen als problematisch bewertet werden, die von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Und dies, obwohl den Staat eine Neutralitätspflicht trifft, die auch auf Organisationen abstrahlt, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Solange Äußerungen rechtlich erlaubt sind, dürfen sie von staatlicher Seite nicht an den Pranger gestellt werden. Anderenfalls drohen eben jene Einschüchterungseffekte und Formen der Selbstzensur, wie sie schon im Hinblick auf die Verlautbarung des früheren Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz beschrieben worden sind. Sie beschneiden die Meinungsfreiheit. Schließlich sind alle Äußerungen, die nicht die Grenze zum Strafbaren überschreiten, rechtlich erlaubt und von der Meinungsfreiheit gedeckt, selbst wenn sie moralisch besonders verwerflich sind.
In den letzten Jahren tut der Staat immer mehr zur Bekämpfung von Desinformationen. Wie gesagt wird hiermit ein grundsätzlich wichtiges Interesse verfolgt, da fehlerhafte Informationen geeignet sind, die Basis eines gesellschaftlichen Diskurses anzugreifen, indem nicht länger von einer geteilten Wirklichkeitsvorstellung ausgegangen wird. Gleichwohl erweisen sich staatliche Maßnahmen zur Förderung „der Wahrheit“ als nicht unproblematisch. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass menschliche Wissensbestände stets vorläufig sind. Nicht bloß im Hinblick auf dynamische Geschehensprozesse wie Pandemien oder Kriege müssen wissenschaftliche Erkenntnisse oftmals korrigiert werden, manchmal sogar bereits nach relativ kurzer Zeit. Hierin liegt übrigens mitnichten ein Fehler wissenschaftlichen Arbeitens. Vielmehr entspricht es gerade dem Prozess des menschlichen Erkenntnisgewinns, dass Irrtümer unterlaufen, die durch neueres Wissen oder weitergehendes Nachdenken, möglicherweise einen innovativen Forschungsansatz, korrigiert werden müssen. Ohnedies ist jede Wissenschaftsdisziplin vielstimmig, wobei nicht immer temporäre Mehrheitsmeinungen die zutreffenden sind; mitunter sind es stattdessen die anfangs wenig populären Einzelleistungen, die einen Erkenntnisprozess entscheidend beeinflussen. Zudem kann es aufgrund der stets in gewisser Weise beschränkten Erkenntnismöglichkeiten des Menschen nie eine „absolute“ Wahrheit geben.
Setzt sich der Staat nunmehr zur Aufgabe, gegen Desinformationen vorzugehen, geht damit das Risiko einher, dass gerade solche Positionen unterdrückt werden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur wenige überzeugen, sich aber im Verlauf der Zeit als richtig erweisen. Dies bedeutet eine Beschneidung von Meinungsfreiheit und hindert den menschlichen Erkenntnisprozess. Auch wenn Desinformationen also mit Risiken verbunden sind, sollte von staatlicher Seite Zurückhaltung walten, was deren Regulierung angeht. In den letzten Jahren verhält es sich freilich gerade entgegengesetzt. Desinformationen zu bekämpfen, wird als eine wesentliche politische Aufgabe begriffen, die durch ganz unterschiedliche Maßnahmen umgesetzt werden soll. Ein erstes Beispiel liefern sogenannte „Trusted Flagger“, vertrauenswürdige Hinweisgeber. Dabei handelt es sich um private Organisationen, die in sozialen Medien unter anderem nach „Fake News“ suchen, um sie den Plattformbetreibern zu melden, was dann insbesondere zur Löschung des Beitrags führen kann. Trusted Flagger müssen von Seiten der Betreiber sozialer Medien bei ihren Meldungen bevorzugt behandelt werden. Die Idee solcher Meldeagenten geht auf den Digital Services Act, einen europäischen Rechtsetzungsakt, zurück. In Deutschland ist es die Aufgabe der Bundesnetzagentur, Trusted Flagger zuzulassen. Deren Chef hat den Aufgabenbereich der Hinweisgeber freilich weiter gefasst, als es der Digital Services Act vorsieht. So sollen nicht bloß illegale Inhalte, die die europäische Regelung ausschließlich in den Blick nimmt, gemeldet beziehungsweise entfernt werden, sondern darüber hinaus Hass und Fake News, die aber zu einem Großteil erlaubte Meinungskundgaben darstellen. Doch selbst wenn die Aktivitäten von Trusted Flaggern auf illegale Inhalte begrenzt würden, relativierte dies kaum die damit einhergehenden Risiken für die Meinungsfreiheit. Ob eine Äußerung rechtswidrig ist, erweist sich in sehr vielen Fällen als schwierige Frage des Einzelfalls, die von Gerichten zu klären ist. Dass private Organisationen oftmals ohne entsprechenden juristischen Sachverstand insoweit fehlerfrei arbeiten, ist ausgeschlossen. Wahrscheinlich ist dann aber, dass es zu einer umfangreichen Meldung erlaubter Inhalte kommt, die im Zweifel schon deshalb von den Plattformbetreibern gelöscht werden, weil diese ihrerseits Sanktionen fürchten, falls sie dem Löschwunsch nicht nachkommen.
Ebenfalls im Kampf gegen Desinformation wurde kürzlich der „Beratungskompass Verschwörungsdenken“ vom Bundesinnen- und Bundesfamilienministerium ins Leben gerufen. Von „Verschwörungserzählungen“ persönlich Betroffene, seien es die so Denkenden selbst oder deren Angehörige, Freunde oder Familie, erhalten hier Unterstützung im Umgang mit Desinformationen und Menschen, die solchen anhängen. Der Beratungskompass Verschwörungsdenken verfolgt einen präventiven Ansatz. So soll Gefahren für die Demokratie entgegengewirkt werden, die mit Verschwörungsdenken einhergehen. Dabei fehlt es bereits an einer klaren Definition, worum es sich dabei handelt. Um an die „Labor-These“ zu erinnern: Bis vor Kurzem galt diese noch als Verschwörungsdenken, was sich mehr und mehr als Fehler herauszustellen scheint. Weitere Beispiele lassen sich finden. Aber weshalb sollte eine Beratung schädlich sein? Wer so fragt, übersieht die erhebliche Stigmatisierung, die damit einhergeht, wenn eine Bundesbehörde bestimmte Positionen als Verschwörungsdenken etikettiert und dahingehend ein Beratungsbedürfnis sieht. Weil zu befürchten ist, dass sich Dritte an die Beratungsstelle wenden und dann gegebenenfalls Einschätzungen über die eigene Person gegenüber einer staatlichen Einrichtung äußern, die der Betreffende nicht wünscht, dürften wiederum Mechanismen der Selbstzensur greifen. Betroffene dürften immer mehr davor zurückscheuen, ihre Position gegenüber anderen zu äußern, um nicht in den Fokus einer Beratungsstelle zu geraten. Auch dies beeinträchtigt die Meinungsfreiheit.
Ebenso verhält es sich, wenn von Seiten der Bundesregierung zu Demonstrationen gegen bestimmte Teile der Bevölkerung aufgerufen wird und sich hieran staatlich geförderte Organisationen lautstark beteiligen. Ein Beispiel liefern diverse Demonstrationen gegen rechts, zu denen infolge des sogenannten „Potsdamer Treffens“ insbesondere die mit öffentlichen Mitteln finanzierte NGO Correctiv aufgerufen hat und die auch der ehemalige Bundeskanzler Scholz und Bundespräsident Steinmeier befürwortet und sich daran aktiv beteiligt haben. Als „rechts“ galt in diesem Zusammenhang die AfD und deren Wählerschaft, wobei im Verlaufe des Jahres auch die CDU einer ähnlichen Kritik ausgesetzt war und vergleichbare Reaktionen hervorrief. An den Demonstrationen nahmen neben Bundespolitikern staatlich finanzierte Nichtregierungsorganisationen teil. Die sogenannte „Brandmauer“ steht im politischen Jargon für das Gebot, mit der AfD keine politischen Mehrheiten zu bilden, sowohl in Bezug auf eine Regierungsbeteiligung als auch auf bloße Gesetzesanträge. Darüber hinaus hat die „Brandmauer“ eine kommunikative Komponente, die darauf gerichtet ist, AfD-Politiker und deren Wählerschaft möglichst nicht am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben zu lassen. Dies zeigt sich beispielsweise an Debatten wie derjenigen über illegale Migration und damit zusammenhängender innerer Sicherheit. Kritik an der gegenwärtigen Politik wird hier allzu schnell pauschal als „faschistisch“ gebrandmarkt, was eine sachbezogene Debatte verunmöglicht. Hier greift wiederum das Phänomen der Diskursvulnerabilität, das auch vor dem politischen Raum keinen Halt macht: Anstatt sich einem Argument zu stellen und es sachlich zu diskutieren, werden Haltungsnoten vergeben. Wer dabei durchfällt, indem er durch die Wahl der AfD oder in den Augen mancher sogar der CDU eine vermeintlich unzureichende „Haltung“ bewiesen hat, dem müsse im gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Diskurs kein Gehör geschenkt werden. Seine Argumente prallen an einer Brandmauer der Empörung ab, in ein sachbezogenes Gespräch wird gar nicht erst eingestiegen.
Dabei liegt auf der Hand, dass derartige Effekte massiven Einfluss auf die Meinungsfreiheit nehmen. Kritik an illegaler Migration, der Rolle Deutschlands im Ukraine-Krieg oder der tatsächlich geringen Bedeutung des deutschen Beitrags für die Bekämpfung des Klimawandels geht mit dem Risiko einher, sich selbst gegebenenfalls für immer ins Abseits zu stellen. Wer erst als Verschwörungstheoretiker, als „Nazi“ oder „Klimaleugner“ gilt, dem muss kein Gehör mehr geschenkt werden, dessen Stimme zählt wenig bis gar nichts im gesellschaftlichen Diskurs. Die logische Folge ist, dass entsprechende Meinungsinhalte, wenngleich von der Meinungsfreiheit gedeckt, zurückgehalten und allenfalls unter Gleichgesinnten geäußert werden. Dabei lassen sich in einer freiheitlichen Demokratie die Herausforderungen, die sich an die Gemeinschaft stellen, allein dann lösen, wenn grundsätzlich alle Argumente und Positionen in die Debatte einbezogen, nicht niedergeschrien, sondern sachlich diskutiert werden. Insoweit sei zum Schluss noch einmal an J.D. Vance und seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz erinnert. Darin verweist er auf Desinformationen, die von fremden Mächten gestreut werden können: „Aber wenn Ihre Demokratie mit ein paar hunderttausend Dollar digitaler Werbung aus einem anderen Land zerstört werden kann, dann war sie von Anfang an nicht sehr stark.“ Der Gedanke lässt sich erweitern: Wenn sich unsere Demokratie nicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit gegen Desinformation oder verfassungswidrige Positionen durchsetzen könnte, dann wäre sie nicht sehr stark. Trotz aller Unkenrufe bin ich sehr sicher, dass sie es ist.