Donnerstag, 25. April 2024

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Umkämpfte Erinnerung, vergessene Orte
Das Gedenken an die Opfer der "Aktion Reinhardt"

Vor 80 Jahren begann die sogenannte Aktion Reinhardt. In den Vernichtungslagern Bełzec, Sobibor und Treblinka ermordete Nazi-Deutschland mindestens 1,8 Millionen Menschen, überwiegend Jüdinnen und Juden. Heute befinden sich an den Orten Gedenkstätten. Deutschland leistet dafür nur einen geringen Beitrag.

Von Barbara Behrendt | 16.03.2022
Ausstellungsstücke des Museums im früheren deutschen Vernichtungslager in Sobibor
Ausstellungsstücke des Museums im früheren deutschen Vernichtungslager in Sobibor (picture alliance / PAP | Wojtek Jargilo)
„Wir sind hier zum ersten Mal. Es berührt mich, die vielen Namen der Städte zu lesen, aus denen die Menschen hergebracht worden sind. Zuerst dachte ich, das sei ein gepflügtes Feld. Ich wusste nicht, dass hier menschliche Asche liegt.“ Monika und ihr Mann sind zufällig vorbeigefahren, haben sich spontan zu einem Zwischenstopp entschlossen. Zwei der wenigen Besucher der Gedenkstätte in Bełzec im Südosten Polens, zwei Kilometer außerhalb des kleinen Örtchens Bełzec, 15 Kilometer vor der ukrainischen Grenze.
Nichts ist übrig geblieben von den Gaskammern, den Baracken, den Scheiterhaufen im deutschen NS-Vernichtungslager Bełzec. Ab dem 17. März 1942 wurden hier von der SS und ihren Helfern innerhalb weniger Monate rund 450 000 Menschen, hauptsächlich Jüdinnen und Juden, ermordet. Überlebende gab es, so viel bekannt ist, nur drei, lediglich ein Täter wurde wegen seiner Verbrechen in Bełzec zu einer geringen Haftstrafe verurteilt. Heute sind die einzigen noch lebenden Zeugen die alten Bäume, die aus dem großen, schwarzen Steinhügel hervorragen, der sich vor den Besuchern auftürmt. Dieser Grabhügel bedeckt 33 Massengräber voller Asche.
2004: Eröffnung der Gedenkstätte im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Belzec in Polen
2004: Eröffnung der Gedenkstätte im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Belzec in Polen (picture-alliance / dpa | Miroslaw_Trembecki)
Krzysztof ist schon zum zweiten Mal mit seiner Familie von Lublin angereist, einer Stadt zwei Autostunden entfernt: „Dass hier so viele Menschen umgekommen sind, dass ihre Asche hier liegt, erschüttert mich. Jeder sollte das wissen. Als wir diesen Ort vor einigen Jahren zum ersten Mal besucht haben, habe ich am ganzen Körper angefangen zu zittern.“

Nur wenige Besucher aus Deutschland

Die staatliche polnische Gedenkstätte kämpft um Besucher. 2019 kamen rund 66.000, nur knapp 1.300 davon aus Deutschland. Im Vergleich: Die Gedenkstätte Auschwitz besuchen jährlich über zwei Millionen Menschen. Bełzec ist eines der drei Vernichtungslager der sogenannten „Aktion Reinhardt“, benannt nach dem SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, einem der Hauptorganisatoren des Holocaust. Zwischen März 1942 und Oktober 1943 wurden in den Lagern in Bełzec, Sobibor und Treblinka mehr Menschen ermordet als in Auschwitz – mindestens 1,8 Millionen, hauptsächlich Jüdinnen und Juden.

Mehr zur sogenannten "Aktion Reinhardt"


Es gibt mehrere Gründe, warum die Lager jedoch fast vergessen sind: 1. Sie liegen ländlich und abseits, so wollten die Nazis die Anzahl der Zeugen gering halten. 2. Von den Lagerbauten ist kaum noch etwas zu sehen. 3. Insgesamt gab es weniger als 150 Überlebende und kaum Zeitzeugenberichte.
Auch in Treblinka, dem größten Lager der "Aktion Reinhardt", haben die Nazis kaum Spuren hinterlassen vom Mord an über 900.000 Menschen. Wo deren Asche vergraben wurde, sind symbolisch Gedenksteine aufgestellt. Krematorien gab es in keinem der Lager, die Leichen wurden, nachdem man sie in Massengräbern verscharrt hatte, von Zwangsarbeitern der SS exhumiert und auf gigantischen Scheiterhaufen verbrannt, um den Massenmord zu vertuschen.
Das "Museum of Struggle and Martyrdom" auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers in Treblinka
Das "Museum of Struggle and Martyrdom" auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers in Treblinka (picture alliance / PAP | Wojciech Pacewicz)
Lediglich etwa 70.000 Besucher jährlich zählt man in Treblinka. Im November 2021 jedoch entspann sich eine hitzige Debatte rund um den Ort. Dabei geht es um ein neues Denkmal, das am ehemaligen Bahnhof fünf Kilometer entfernt von der Gedenkstätte aufgestellt wurde – an der Eisenbahnrampe, wo Jüdinnen und Juden damals nach tagelanger Reise geschunden, halb verdurstet oder bereits tot ankamen.

"Ein fatales Signal"

Hier hat das Pilecki-Institut, eine von der polnischen Regierung finanzierte Forschungseinrichtung, einen Stein aufgestellt, auf dem auf Polnisch und Englisch zu lesen ist: "In Gedenken an Jan Maletka. Ermordet von den Deutschen am 20 August 1942, weil er Juden geholfen hat. In Gedenken an die Juden. Ermordet im nazideutschen Vernichtungslager in Treblinka". Jan Maletka, an den hier erinnert wird, war ein junger Pole, der den durstigen Juden Wasser gebracht hat. Dafür wurde er von den Deutschen erschossen. Nicht eindeutig belegt ist allerdings, ob Maletka das Wasser uneigennützig und umsonst gab – oder ob er es sich, wie häufig in vergleichbaren Fällen dokumentiert, von den deportierten Jüdinnen und Juden bezahlen ließ.
Der jüdisch-polnische Historiker Jan Grabowski, der an der Universität im kanadischen Ottawa lehrt, sieht im Aufstellen des Gedenksteins ein fatales Signal: „Man spricht jetzt nicht mehr über 900.000 getötete Juden, man spricht über einen Gerechten aus Polen. A righteous Pole. Seit zwei Jahren sehe ich diese Denkmäler, die so schnell gebaut werden wie die Pilze nach dem Regen. In zehn Ortschaften in der Nähe von Treblinka, das zehnte ist genau in Treblinka, und das finde ich nicht akzeptabel. Wir müssen besonders in diesen Orten über die jüdische Katastrophe nachdenken, nicht über die Polen, die nicht sehr oft Juden gerettet haben. Und leider sehen wir in Polen uns als ewige Opfer des Krieges. Es ist so schwer, in Polen über andere Opfer zu sprechen. Da gibt es keinen Platz.“
Grabowski geht mit seiner Kritik noch weiter: Er wirft der polnischen Regierung eine Verzerrung des Holocausts vor – „Holocaust Distortion“. „Also man sagt: Ja, die Juden wurden ermordet, aber unsere Leute haben dabei fast nie mitgemacht. Diese Holocaust Distortion war in Polen jahrzehntelang populär. Für diese Autokraten, die heute in der polnischen Regierung sitzen, ist das ein Hauptthema.“

Streit um "Holocaust-Gesetz"

Dass Grabowski so hart mit seinem Heimatland ins Gericht geht, hängt auch mit bestimmten Entwicklungen der vergangenen Jahre zusammen. 2018 hatte die rechtskonservative PiS-Regierung eine Gesetzesreform angestrebt, die als „Holocaust-Gesetz“ bekannt wurde. Es sah eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren vor für Personen, die Polen für die Verbrechen der Nazis mitverantwortlich machen. Das schlug international hohe Wellen. Das Gesetz wurde wenige Monate später wieder entschärft– zumindest Haftstrafen gibt es nun keine mehr. Wissenschaftliche Forschung und Meinungsfreiheit bleiben nach Auffassung vieler Forschender aber gefährdet.
Wie schwierig die Bedingungen für Holocaust-Forschung in Polen derzeit sind, wurde auch 2021 deutlich. Damals mussten sich Jan Grabowski und seine Forschungskollegin Barbara Engelking vor Gericht verantworten. Für eine Publikation, in der die beiden Wissenschaftler ein sensibles Thema behandelten. Es ging dabei unter anderem um die Mitwirkung polnischer Bürger am Verrat oder der Ermordung geflohener Juden, die sich vor den Nazis versteckten. Grabowski und Engelking wurden beschuldigt, das Andenken einer im Buch genannten Person zu Unrecht zu beschmutzen. Das Berufungsverfahren endete schließlich mit einem Freispruch. Doch die Situation bleibt angespannt. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch Museumsleiter und Publizistinnen beklagen und kritisieren den erinnerungspolitischen Druck, der vom Regierungslager aufgebaut wird.

Mehr zur Debatte um das "Holocaust-Gesetz"


Entsprechend aufgeladen ist die Debatte um den Gedenkstein am Bahnhof in Treblinka. Aufgestellt wurde er vom polnischen Pilecki-Institut, das auch in Berlin eine Zweigstelle unterhält. Deren Leiterin, Hanna Radziejowska, hält Jan Grabowskis Recherchen zum Thema polnische Kollaboration für falsch. „Grabowski sagt in jedem Interview, fast 200.000 Juden wurden von Polen umgebracht oder verraten. Es gibt dazu keine Beweise. Das ist Wahnsinn.“
Das Pilecki-Institut arbeite, sagt Radziejowska, gerade an einer Publikation mit Beweisen. Es solle belegt werden, dass Jan Maletka, an den der umstrittene Gedenkstein erinnert, den deportierten Jüdinnen und Juden uneigennützig Wasser gegeben habe. In der deutsch-polnischen Verständigung über den Zweiten Weltkrieg, die Nazi-Besetzung Polens und den Holocaust sieht Radziejowska jedoch ganz grundsätzlich Probleme, weil es auf deutscher Seite große Wissenslücken gebe.
Sie zitiert den britisch-polnischen Historiker Norman Davies: „Norman Davies hat einmal gesagt: Jede polnische Familie hat jemanden verloren. Für die Mehrheit der Polen war klar: Wir waren die Opfer. Ich glaube manchmal, dass man in Deutschland denkt oder generell in der Welt denkt man: Die Polen, sie erzählen immer diese Geschichte über gute, mutige Helden, alle haben Juden gerettet. Umgekehrt! Wir entdecken diese Geschichte gerade erst mit allen Perspektiven.“

7.000 „Gerechte unter den Völkern“ aus Polen

Richtig ist: Es gab viele Polinnen und Polen, die Juden geholfen haben. Die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel verzeichnet bisher offiziell über 7.000 dieser sogenannten „Gerechten unter den Völkern“ aus Polen, mehr als aus jedem anderen Land. Und: In keinem anderen Land unter deutscher Besatzung wurde die Hilfe für Jüdinnen und Juden so brutal bestraft – die Helfer wurden mitsamt ihrer Familien oft sofort erschossen.
Hinzu kommt, dass in der Besatzungszeit neben drei Millionen polnischen Juden auch drei Million nichtjüdische Polen ermordet worden sind. In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland war die verheerende Bilanz des NS-Terrors in Polen lange nicht besonders präsent, monieren auch deutsche Politikerinnen und Politiker. Das soll ein Gedenkort für die polnischen Opfer der NS-Besatzung in Berlin ändern. Mit Ausnahme der AfD stimmten 2020 alle Parteien im Bundestag für einen solchen „Ort des Erinnerns und der Begegnung“, an dem auch Ausstellungen gezeigt werden sollen.
Museum des früheren deutschen Vernichtlungslagers Sobibor in Polen
Museum des früheren deutschen Vernichtlungslagers Sobibor in Polen (picture alliance / PAP | Wojtek Jargilo)
Die Unterschiede in den nationalen Erinnerungskulturen in Ost und West hält Wiesław Wysok dennoch für unüberbrückbar. Er ist stellvertretender Leiter der Gedenkstätte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, wo auch viele nichtjüdische Polinnen und Polen ermordet wurden. Es zählt nicht zu den Lagern der "Aktion Reinhardt", doch weil die Gedenkstätte direkt vor der Stadt Lublin im Südosten Polens liegt, ist sie untrennbar mit der Aktion verbunden. Denn von Lublin aus zog der Leiter der "Aktion Reinhardt", der SS-Führer Odilo Globocnik, die Fäden. Heute ist die Gedenkstätte in Majdanek organisatorisch auch für Bełżec und Sobibór zuständig, die drei bilden ein Museum an drei Standorten.

Kritik an deutschen Medien

„Aber wir dürfen nicht vergessen, Nationalsozialismus war nicht beschränkt nur auf die Ermordung der Juden. Antislawismus und antipolnische Politik kommt, glaube ich, zu kurz im deutschen Geschichtsbewusstsein. Insbesondere das Schicksal der Polen, der polnischen Intelligenz. Das hat seine Gründe. Dass man sich nur auf den Holocaust konzentriert, ist irgendwie verständlich, aber wenn man nur diese Perspektive nimmt, dann ist die Geschichte ein bisschen schwarzweiß. Denn junge deutsche Leute, ich meine Schülerinnen und Schüler, die nach Majdanek kommen, die wissen wenig. Okay, Judenverfolgung, das ist irgendwie bekannt. Aber diese Germanisierungsgeschichte bzw. Kolonisierungspolitik des Dritten Reiches, das ist nicht vorhanden.“
Auch in der Diskussion über das Denkmal für Jan Maletka in Treblinka verliere man das Wichtigste aus den Augen, so Wiesław Wysok – die Hilfsbereitschaft einiger Polinnen und Polen, trotz Lebensgefahr. Die deutschen Medien skandalisierten und verzerrten den Fall Maletka, weil sie die polnische Erinnerungskultur nicht verstünden.
Edward Kopówka, der Leiter der Erinnerungsstätte in Treblinka, versteht die ganze Aufregung um den Gedenkstein ebenfalls nicht. Schließlich seien es die Deutschen gewesen, die jene Gräuel verübt und Maletka erschossen haben – ob der nun Geld für seine Hilfe verlangt habe oder nicht, sei nebensächlich. Kopówka ist als Leiter der staatlichen Gedenkstätte ebenso wie Wiesław Wysok der Regierung unterstellt und äußert sich ganz im Sinne der Erinnerungspolitik der PiS: „Aktuell wird der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs ein hoher Stellenwert beigemessen. Ich finde es sehr wichtig, dass man der Menschen gedenkt, die ihr Leben verloren haben, weil sie Juden geholfen haben. In der Nähe von Treblinka gab es etwa 100 dieser sogenannten ,Gerechten unter den Völkern’. Wir Polen haben uns diese Menschen nicht ausgedacht – wir stützen uns auf die Zahlen der Gedenkstätte Yad Vashem. Ich habe hohen Respekt vor diesen Gerechten, denn sie mussten sich nicht nur vor deutschen Besatzern verstecken, sondern auch vor ihren eignen Nachbarn. Deshalb sind sie in meinen Augen Superhelden.“

Unmut über fehlende finanzielle Unterstützung aus Deutschland

Doch Kopówka bringt noch eine ganz andere Frage ins Spiel: „Wir haben mit den Vorbereitungen für den Bau eines neuen Museums begonnen. Treblinka wurde bislang von der Bundesrepublik Deutschland mit keinem einzigen Euro unterstützt. Dabei handelt es sich hier um das größte Lager der Aktion Reinhardt.“
Tatsächlich hat die Bundesregierung erst 2018 erstmals finanzielle Unterstützung für eine Gedenkstätte der "Aktion Reinhardt" bewilligt – und zwar für die neue Sonderausstellung in Sobibor, ebenfalls an der polnisch-ukrainischen Grenze gelegen. Für die Gedenkstätten in Treblinka und Bełzec aber gab es vom Bund bislang kein Geld. Lediglich auf der Ebene einzelner Bundesländer werden Projekte gefördert. Die Botschafterin Michaela Küchler, unter anderem Sonderbeauftragte für Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Holocaust-Erinnerung und Antisemitismus-Bekämpfung, erklärt das so: „Wie Sie vielleicht wissen, arbeiten wir nach dem sogenannten Antragsprinzip. Das heißt, wir können zwar Anstöße geben, aber wir brauchen auf jeden Fall von jemandem, der eine Förderung möchte, einen Antrag dazu."
Für Treblinka, so Küchler, sei bislang kein Antrag aus Polen eingegangen. Kamil Majchrzak kann da nur den Kopf schütteln. Sein Großvater hat Auschwitz überlebt, er selbst ist Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Mitglied der Delegation des Polnischen Verbands Ehemaliger Politischer Häftlinge der NS-Gefängnisse und Konzentrationslager. Zwölf Jahre lang war er parteiloser wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Linke im Bundestag. Seit 2013 versucht er zusammen mit der „Initiative der Opfer der Aktion Reinhardt“, gegründet von Nachkommen NS-Verfolgter, für deutsche Unterstützung zu werben. Er habe Antrag um Antrag für den Bundeshaushalt formuliert, jeder sei abgewiesen worden. Er hält es für falsch, von deutscher Seite darauf zu warten, dass die polnische Regierung mit einem Förderantrag an die Bundesregierung herantritt. „Wir müssen in der Lage sein in der Bundesrepublik, einen eigenständigen, substanziellen Beitrag zur Erinnerung zu leisten und das Gedenken zu bewahren. Ich habe große Hoffnung, dass mit der Änderung im Bundeskanzleramt die Bedeutung der Erinnerungspolitik ein anderes Gewicht haben wird mit Claudia Roth.“

Es gehe nicht nur um Geld

Die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth legt großen Wert auf Erinnerungskultur. Ihr erster Besuch im Amt galt keinem Theater, sondern der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Doch es geht, sagt Majchrzak, nicht nur um finanzielle Unterstützung. Der Historiker Jan Grabowski etwa warnt sogar davor, dem polnischen Staat Geld zu geben, da die PiS-Partei Erinnerungskultur im nationalistischen Sinne betreibe. Kamil Majchrzak fordert: „Wir brauchen keine Bekenntnisse mehr, wir brauchen auch tatsächlich jetzt Taten. Die Generation der Überlebenden geht von uns, wir werden in Zukunft die Zeugenschaft alleine bewahren müssen, und da müssen wir einerseits mit den Nachkommen zusammenarbeiten und mit der Zivilgesellschaft.“
Gedenkstätte für die während der nationalsozialistischen Diktatur ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten
Gedenkstätte für die während der nationalsozialistischen Diktatur ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten in der Nähe des Reichstagsgebäudes (imago images/Rolf Walter)
Dass die NS-Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" in Deutschland kaum jemand kennt – das trägt auch bei Tomasz Oleksy-Zborowski zur Verbitterung bei, er ist Leiter der Gedenkstätte in Sobibor: „Unsere finanziellen Bedürfnisse werden vom polnischen Staat gedeckt. Aber als Historiker würde ich mir wünschen, dass sich die deutsche Seite für diesen Ort mehr interessiert. Statt sich um die finanziellen Belange zu kümmern, wäre es sinnvoller, Menschen hierher zu bringen und gemeinsame Bildungsprojekte durchzuführen. Selbst vor der Pandemie waren es jedes Jahr nur 500, 600 Besucher aus Deutschland und Österreich. Viel zu wenig. Wir haben fertige Unterrichtshilfen und sind in der Lage, Bildungsreisen zu organisieren. Von israelischen und US-amerikanischen Gruppen wird das in Anspruch genommen.“ Was an Bildungsaustausch geschieht, das passiert bislang vorrangig auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Ihr besonderes Engagement bildet aber die Ausnahme.
80 Jahre nach dem Beginn der Aktion Reinhardt gibt es noch immer große Lücken bei der historischen und erinnerungs-politischen Aufarbeitung. Kamil Majchrzak appelliert deshalb: „Angesichts der Tendenzen der Holocaustverfälschung, der Leugnung und Verharmlosung und Manipulation der NS-Verfolgung und des Antisemitismus und dabei auch der Kollaboration sowohl in Polen, Frankreich als auch in Deutschland glaube ich, dass wir dem nur begegnen werden können, wenn Gedenkstätten, staatliche Institutionen, die Kulturstaatsministerin, die Nachkommen und unsere Verbände und internationalen Komitees und die Minderheiten wie Sinti und Roma und jüdische Gemeinden zusammenarbeiten können.“