Dienstag, 23. April 2024

Bundestagsbeschluss zu AKW
Was der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke bedeutet

Die drei noch am Netz befindlichen deutschen Atomkraftwerke sollten eigentlich zum Jahreswechsel abgeschaltet werden. Angesichts der Energiekrise hat der Bundestag nun ihren Weiterbetrieb bis zum 15. April 2023 ermöglicht.

11.11.2022
    Weißer Dampf steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 2 - im Vordergrund stehen Häuser eines kleinen Dorfes
    Das Kernkraftwerk Isar 2 (picture alliance / SVEN SIMON / Frank Hoermann / SVEN SIMON)
    Im Angesicht der Energiekrise hat der Bundestag mehrheitlich einen befristeten Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland Iar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland bis zum 15. April beschlossen. Die Entscheidung zum kurzzeitigen Weiterbetrieb wird am 25. November noch im Bundesrat Thema sein, eine Zustimmung der Länderkammer ist allerdings nicht zwingend erforderlich. Neue Brennstäbe sollen nicht beschafft werden. Die Union hatte in einem eigenen Antrag einen Weiterbetrieb bis mindestens Ende 2024 gefordert, fand aber dafür keine Mehrheit im Parlament.
    Bis Mitte Oktober hatte es koalitionsintern Streit über Streckbetrieb oder Laufzeitverlängerung gegeben, insbesondere die Positionen von FDP und Grünen lagen weit auseinander. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte diesen Streit dann unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz beendet und angeordnet, die gesetzliche Grundlage für einen Weiterbetrieb bis längstens 15. April 2023 zu schaffen.
    Was bedeutet Streckbetrieb?
    Der Streckbetrieb gehört zu den normalen Maßnahmen, um die reine Produktionszeit eines Reaktorkerns zu verlängern. Wenn die atomare Kettenreaktion in einem alten Reaktorkern am Ende seiner Lebensdauer mangels unverbrauchten Urans langsam automatisch zum Erliegen kommt, kann dieser Prozess durch Maßnahmen der Anlagensteuerung noch für einige Monate künstlich in die Länge gezogen werden. Man senkt etwa die Temperatur des Reaktorkühlwassers, was dessen Dichte erhöht und die für die Kettenreaktion verantwortlichen Neutronen stärker abbremst. Allerdings verliert der Reaktor dabei laufend 0,5 Prozent seiner Leistung pro Tag. Neue Brennstäbe werden nicht mehr angeschafft.

    Warum wird die AKW-Abschaltung verschoben?

    Aus Sicht von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) könnten zumindest ohne die beiden süddeutschen AKW Engpässe in der Stromversorgung entstehen. Ein Grund ist: In Frankreich wird derzeit deutlich weniger Strom produziert als sonst üblich. Zahlreiche Atomkraftwerke sind dort wegen Instandsetzungsarbeiten außer Betrieb. Es sei sehr wahrscheinlich, dass es Frankreich nicht gelinge, zum Jahreswechsel ausreichend AKW-Kapazität ans Netz zu bringen, sagte Habeck. Dies bestätige auch die Prognose eines dort veröffentlichten Stresstests. Deutschland werde dem Nachbarland daher möglicherweise weiterhin mit Strom aushelfen müssen.
    Ein weiteres Problem ist der mangelnde Netzausbau in Deutschland selbst. Die Stromproduktion geschieht immer dezentraler, während gleichzeitig nicht ausreichend Netze zur Verteilung angelegt wurden. Das ist insbesondere in Süddeutschland ein Problem. Deshalb sollen die Atomkraftwerke dort noch weiterlaufen, um eventuell auftretende Engpässe bei der Stromversorgung zu vermeiden.

    Welche Streitpunkte gab es in der Ampelkoalition?

    Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck (Grüne) hatte Pläne zum Weiterbetrieb von nur zwei AKW vorgelegt. Die Grünen hatten auf einem Parteitag im Oktober einem Reservebetrieb der zwei Meiler in Süddeutschland bis spätestens Mitte April 2023 zugestimmt. Grünen-Politikerin Julia Willie Hamburg aus Niedersachsen verwies darauf, dass keine Notwendigkeit dafür bestehe, das AKW Emsland weiterlaufen zu lassen. Derzeit müssten in Niedersachsen sogar Windräder abgeschaltet werden, weil das Atomkraftwerk dauerhaft am Netz sei, sagte Hamburg im Dlf.
    Die FDP hingegen plädierte für eine Laufzeitverlängerung aller drei verbleibender AKW bis ins Jahr 2024. Parteichef Christian Lindner hatte zwischenzeitlich sogar eine Reaktivierung zweier bereits stillgelegter Kraftwerke ins Gespräch gebracht. Diese Vorschläge sind mit dem Bundestagsbeschluss vom 11. November 2022 bis auf Weiteres vom Tisch.
    Für eine Laufzeitverlängerung hätten neue Brennelemente bestellt werden müssen - die dann deutlich länger zur Verfügung stünden. Nach Angaben von Ralf Güldner vom Verband Kerntechnik Deutschland läge die mögliche Nutzungsdauer neuer Brennstäbe bei drei bis vier Jahren.

    Was bringt der Streckbetrieb?

    Insgesamt können die drei Meiler im Jahr 2023 dem Gesetzentwurf zufolge rund 5,4 Terawattstunden Strom erzeugen. Das entspricht in etwa dem Stromverbrauch Berlins in einem halben Jahr.
    Aus Sicht der Netzbetreiber ist der geplante Streckbetrieb einer der Bausteine zur Sicherung von Versorgung und Netzstabilität. "Hier zeigen die Analysen, dass alle drei Kernkraftwerke einen Beitrag zur Reduzierung der Lastunterdeckung in Europa und in Deutschland leisten. In Deutschland führt dies dazu, dass Lastunterdeckungen weitestgehend vermieden werden können", sagte Hendrik Neumann vom Übertragungsnetzbetreiber Amprion.
    Der mögliche Beitrag der Atomenergie zur Stabilisierung des Stromnetzes ist begrenzt. "Insgesamt besitzt Atomenergie im Vergleich zu den anderen dringenden Maßnahmen eine untergeordnete Rolle, um in kritischen Situationen die Netzsicherheit zu gewährleisten. Es bleiben auch bei einer Nutzung der drei verbleibenden Kernkraftwerke deutliche Eingriffe in den Kraftwerkspark nötig, um die Netzsicherheit zu gewährleisten", heißt es dazu vom Bundeswirtschaftsministerium.
    Die AKW würden den Bedarf an Strom aus dem Ausland nur um 0,5 Gigawatt senken. "Es bliebe auch dann ein Redispatchbedarf im Ausland von 4,6 GW. Redispatchkraftwerke sind Kraftwerke, die dem deutschen Markt kurzfristig Strom zum Ausgleich von Netzengpässen zur Verfügung stellen können."
    Karte zeigt die verbleibenden deutschen Atomkraftwerke
    (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Ob der Weiterbetrieb der AKW einen Effekt auf die Strompreisentwicklung haben könnte, lässt sich schwer abschätzen, da die Energiemärkte sich aktuell nicht sehr rational verhalten. Felix Matthes vom Öko-Institut erklärte im Dlf, er halte den Effekt bei der Gas-Einspeisung und beim Strompreis für minimal.

    Ergibt es Sinn, AKW als Reserve vorzuhalten?

    Unter anderem wegen des Vorschlags der Grünen wurde in den vergangenen Monaten diskutiert, AKW als Reserve vorzuhalten. In der Reserve würde kein Strom mehr produziert, das Kraftwerk würde aber einsatzbereit gehalten. Kühlkreisläufe würden nicht unterbrochen, Sicherheitschecks weiter durchgeführt, das Personal bliebe. Wenn absehbar wäre, dass die Stabilität des europäischen Netzes gefährdet ist, würde das Kraftwerk wieder hochgefahren werden und dann durchgängig bis April 2023 weiterlaufen. Das Hochfahren eines Atommeilers dauert zwischen zwei Tagen und einer Woche.
    Ein Atomkraftwerk herunterzufahren und bei Bedarf wieder hochzufahren, ist aber nicht in jedem Fall möglich. Der Betreiber von Isar 2 Eon geht davon aus, dass das Kraftwerk nach einer Abschaltung nicht wieder hochgefahren werden könnte. Der dortige Reaktorkern besitze zu wenig Radioaktivität. Als Reserve käme nur das EnBW-Kraftwerk Neckarwestheim 2 in Frage. Hier ist ein Herunterfahren zum Jahresende und ein anschließendes Wiederanfahren möglich.

    Was waren die Ergebnisse des Stresstests?

    Die vier Übertragungsnetzbetreiber hatten in einem Stresstest Anfang September 2022 unterschiedliche Szenarien zur Entwicklung der Strommarkt-Situation durchgerechnet. Das Ergebnis: Die Versorgungssituation wird zum Winterhalbjahr angespannt. Auch die Netzstabilität wird teilweise kritisch. Eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 22/23 sei zwar sehr unwahrscheinlich, könne aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden, heißt es. Das bedeutet, dass es unter bestimmten, ungünstigen Bedingungen tatsächlich zu Unterdeckungen im Stromnetz kommen kann.
    Die Szenarien der Netzbetreiber haben auch die Versorgung durchgerechnet und kommen zu dem Schluss, dass ein Streckbetrieb der AKW hier einen Beitrag leisten könnte. Die Netzbetreiber fordern deshalb zahlreiche Maßnahmen zur Netzstabilisierung. Es sei daher sinnvoll und notwendig, alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Stromerzeugung und der Transportkapazitäten zu nutzen, sagte Stefan Kapferer vom Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz.
    Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hatte die Analyse erneut durchführen lassen, um das Risiko für die Stromnetzstabilität im kommenden Winter zu prüfen. Denn die Lage der Stromversorgung hat sich verschärft: Wegen der Dürre im Sommer, des Niedrigwassers in den Flüssen, des aktuellen Ausfalls rund der Hälfte der französischen Atomkraftwerke und der seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine insgesamt angespannten Lage auf den Energiemärkten gibt es eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren.
    Kühlwasser und Kohletransport für Kraftwerke sind nicht gesichert, und auch viele Wasserkraftwerke in Europa liefern nicht die volle Leistung. All das ist in die Berechnungen der Übertragungsnetzbetreiber eingeflossen.
    Quellen: Ann-Kathrin Büüsker, Nadine Lindner, Dagmar Röhrlich, SMC, BMWK, rtr, og, aha, pto, fmay