Freitag, 19. April 2024

Archiv

Brüssel vs. Budapest (3/5)
Der Sündenbock hat genug

Ungarn ist seit bald 15 Jahren Mitglied der EU. Es war sogar das erste Land, das 2007 den Vertrag von Lissabon ratifiziert hat. Heute sei die Europäische Union allzu oft der Sündenbock für alles, was schief läuft, kritisiert der Europaparlamentarier Josef Weidenholzer.

Von Stephan Ozsváth | 21.03.2018
    Flaggen vor dem Europäischen Parlaments in Brüssel, mit Blick von der Rue Wiertz.
    Das Parlament strebt ein Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn an. Wäre es erfolgreich, könnte es den Entzug der Stimmrechte für Ungarn bedeuten (picture alliance / Daniel Kalker)
    Überall auf den Gängen im Europaparlament in Brüssel stehen kniehohe Transportkisten. Brüssel ist ein Arbeitsparlament. In den Kisten werden die Akten verstaut, sie gehen mit nach Straßburg. Europäischer Wanderzirkus. Im Trakt der Konservativen hat die CDU-Abgeordnete Ingeborg Gräßle ihr Büro.
    An der Wand hängt ein gelbes Trikot mit der Nummer Eins, ihrem Namen und "Mädchenfußball". Davor sitzt sie, hinter einer Mauer aus Aktenstapeln. Brille, korrekt, Typ Buchhalterin. Und das ist sie auch. Die Schwäbin ist Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses im Europaparlament, die Hüterin des Geldes. Auch über die 30 Milliarden, die seit Orbán wieder regiert nach Ungarn geflossen sind.
    "Wir haben gesehen, das ist der Punkt, der mich am meisten beschäftigt, dass 36 Prozent aller Verfahren, aller europäischen Ausschreibungen, dass an denen nur ein einziger Bieter teilnimmt, nur eine einzige Firma wurde gefunden, um den Auftrag auszuüben. Und da fragen wir uns natürlich schon, was ist da los."
    Die CDU-Europaabgeordnete Ingeborg Gräßle steht vor einer Wand, an der ein Trikot mit der Nummer Eins, ihrem Namen und Mädchenfußball hängt
    Die CDU-Europaabgeordnete Ingeborg Gräßle ist Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses (Deutschlandradio / Stefan Ozsváth)
    Ich zeige ihr das Video eines ungarischen Nachrichtenportals. Aus einem Waggon der hohe Verluste schreibenden Schmalspurbahn im ungarischen Felcsút schaut sie selbst. Zwei Millionen Euro hat die EU zugeschossen. Ihr ungarischer EVP-Kollege Tamás Deutsch erklärt einem ungarischen Reporter in dem Film, dass die EU-Delegation politisch voreingenommen sei.
    Das war im vergangenen September, als sie mit einer Delegation auch in Felcsút, in Viktor Orbáns Heimatdorf war, und ist mit der Bahn gefahren, die sie als europäische Steuerzahlerin mitbezahlt hat. Ingeborg Gräßle erinnert sich noch gut an den Termin, aber nicht gern.
    "Ich bin da doch ausführlich beschimpft worden und kann nur sagen, das brauche ich eigentlich nicht. Also wir machen unsere Arbeit, wir sind verantwortlich für das Geld. Wir sind eine Kontrollinstanz, ja, aber wir sind auch eine Garantieinstanz der Steuerzahler. Die müssen sich darauf verlassen können, dass mindestens wir Alarm schlagen, wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte und das haben wir auch in dem Fall getan. Leider haben die Management-Behörden, das ist die unterste Ebene, die Zusammenarbeit mit uns verweigert. Es war gut dass wir da waren und wir kommen auch wieder."
    Korruptionsvorwürfe gegen die Familie Orbán
    Ein Streitpunkt zwischen Budapest und Brüssel damals: Die Ungarn wollten den EU-Kontrolleuren ausgewählte Projekte präsentieren. Gräßle und Kollegen suchten sich aber selbst aus, was sie unter die Lupe nehmen wollten.
    "Ich bin schon betrübt, wenn man sieht, was Ungarn für uns Deutsche war: Eiserner Vorhang überwunden, Mauer überwunden, wir verdanken den Ungarn so unendlich viel. Und dann zu sehen, dass wir uns mit einem derartigen Korruptionsverdacht rumschlagen müssen, mit einem Verdacht von Staatskorruption, mit einem Verdacht von einem kaputten System, da kann ich nur sagen: Da müssen wir ran."
    Viel EU-Geld wandert laut ungarischen Investigativ-Journalisten in die Taschen der Familie Orbán und ihrer Freunde. Aktuell ist der Schwiegersohn des Premiers im Visier der Ermittler der Anti-Betrugseinheit OLAF ein paar Häuserblöcke von Gräßles Büro entfernt. Schwerwiegende Unregelmäßigkeiten bei der Ausstattung ungarischer Kommunen mit Straßenlaternen, meint OLAF. Mehr als 40 Millionen Euro fordert Brüssel in diesem Fall zurück. Letztlich zuständig sind aber die nationalen Behörden. Doch bisher hat die ungarische Justiz fast alle Verfahren, die OLAF angeschoben hat, eingestellt.
    "Wir haben auch gesehen, dass natürlich die Regierung Orbán da auch alles dransetzt, um Konsequenzen von Seiten der EU auch beständig abzuwehren. In so einem Fall, wenn die nationale Justiz nicht tätig wird, wird dann der europäische Staatsanwalt tätig, vorausgesetzt, das Land beteiligt sich am europäischen Staatsanwalt. Das hat Ungarn nicht vor. Also ich kann nur sagen, wer sich nicht am europäische Staatsanwalt beteiligt, hat keinen Anspruch mehr auf europäische Gelder …"
    Der österreichische SPÖ-Politiker Josef Weidenholzer bei der Pressekonferenz zur Lage in Ungarn
    Der SPÖ-Politiker Josef Weidenholzer kritisiert, dass ungarische Interessensgruppen Europa gerne als "Melkkuh" sehen (Deutschlandradio / Stefan Ozsváth)
    Josef Weidenholzer stiefelt durch das Foyer des Europaparlaments, vorbei an der Medieninsel, wo die Kameras das Geschehen in Brüssel in die ganze Welt übertragen. Der 68-jährige Österreicher kommt gerade aus der Sitzung des Ausschusses für Bürgerrechte, die er geleitet hat. Er sei "der Joe", stellt er sich vor. Für die Sozialdemokraten ist der Linzer Berichterstatter für Ungarn.
    "Es ist leider so, dass sich das nicht unbedingt zum Positiven entwickelt. Zum Positiven, damit meine ich, dass man offen mit Europa redet. Ich habe eher den Eindruck, dass Europa als Sündenbock verwendet wird, Europa ist immer schuld an allem, wo man selber Probleme hat. Und dass Europa auf der anderen Seite auch sehr gern als Melkkuh gesehen wird für Entwicklungen, die nicht dem Land eigentlich dienen, sondern einzelnen Interessengruppen dient. Das ist das, was mich mit Sorge erfüllt."
    EU-Parlament strebt Verfahren gegen Ungarn an
    Pressekonferenz zur Lage in Ungarn. Weidenholzer hat Márta Párdavi vom Budapester Helsinki-Komitee, einer Menschenrechtsorganisation, eingeladen. Sie berichtet über den jüngsten Gesetzentwurf der Regierung Orbán, der die Nichtregierungsorganisationen strenger regulieren möchte. In Brüssel sieht man diesen "Angriff auf die Zivilgesellschaft" mit Sorge.
    Das Parlament bereitet jetzt ein Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn vor. Wäre es erfolgreich, könnte es den Entzug der Stimmrechte für Ungarn bedeuten.
    "Das ist etwas sehr Schwerwiegendes. Und es wäre das erste Mal, dass das Parlament eine solche Entscheidung trifft."
    Entscheiden muss am Ende der Rat, die Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Polen hat schon mit einem Veto gedroht.
    "Sehr häufig ist der Rat der bremsende Faktor. Unsere Rolle als Parlament ist klar festgeschrieben, die wollen wir erfüllen."