
Union, SPD und Grüne sind sich über die Aufnahme eines Milliarden-Schuldenpakets für Verteidigung und Infrastruktur einig. Damit werden die von Schwarz-Rot im Sondierungspapier vereinbarten Finanzierungspläne und das Zustandekommen der neuen Regierung überhaupt erst möglich.
Ob der Bundestag das Schuldenpaket mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit beschließt, ist mit Blick auf mögliche Abweichler bei CDU, CSU und der SPD, aber auch bei den Grünen noch offen. Auch durch den Bundesrat müssen die Grundgesetzänderungen noch. Klagen von AfD und Linken gegen die Abstimmung noch im alten Bundestag hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe abgewiesen.
Die weiteren Koalitionsverhandlungen zwischen Sozialdemokraten, CDU und CSU dürften jedenfalls nicht einfach werden. Denn in den Sondierungen habe man „nicht alle Themen in aller Tiefe verabredet“, sagte die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken. Kontroversen gab und gibt es noch bei einer ganzen Reihe von Themen zwischen den Unionsparteien und den Sozialdemokraten.
Abstimmung über Finanzpaket und Debatte um Schuldenbremse
Die Haushaltsfinanzierung erschien lange als der große Knackpunkt bei den Verhandlungen zwischen Union und SPD. Vor allem, weil CDU-Chef Friedrich Merz im Wahlkampf immer wieder beteuerte, an der Schuldenbremse festhalten zu wollen. Nun aber planen die möglichen Koalitionspartner ein milliardenschweres Verschuldungspaket, um in Verteidigung und Infrastruktur zu investieren.
Konkret geht es um ein schuldenfinanziertes Sondervermögen von 500 Milliarden Euro. Damit soll Deutschland „wieder in Form“ gebracht werden, heißt es im Sondierungspapier – durch Investitionen in Straßen, Schienen, Bildung, Digitalisierung, Energie und Gesundheit. Für alle Verteidigungsausgaben, die über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinausgehen, soll die Schuldenbremse ausgesetzt werden.
Für die schuldenfinanzierten Investitionen ist allerdings eine Grundgesetz-Änderung mit Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. Da es mit dieser im neuen Bundestag schwer werden könnte, wollen Union und SPD das Investitionspaket mithilfe der Grünen noch im alten Bundestag beschließen. Dass dies rechtlich zulässig ist, hat mittlerweile das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil bestätigt. Es verwarf mehrere Anträge unter anderem von AfD und Linke als unbegründet, die dessen Einberufung verhindern wollten.
Damit die Grünen der geplanten Grundgesetz-Änderung zustimmen, musste Schwarz-Rot allerdings einige Zugeständnisse machen. 100 der 500 Milliarden Euro für Infrastruktur-Investitionen sollen in Klimaschutzmaßnahmen fließen. Außerdem soll das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ins Grundgesetz kommen.
Weitere 100 Milliarden Euro aus dem Paket gehen zudem an die Bundesländer. Neu ist auch, dass das Geld nur für zusätzliche Investitionen ausgegeben werden darf. Das soll verhindern, dass die künftige Regierung reguläre Ausgaben aus dem Haushalt in das Sondervermögen verschiebt. Neu ist ebenfalls, dass sich die Länder künftig in gleicher Höhe wie der Bund verschulden dürfen: in Höhe von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Die Lockerung der Schuldenbremse soll außerdem nicht nur für Verteidigungsausgaben gelten, sondern auf Druck der Grünen auch für „erweiterte Sicherheitsausgaben“ wie Cybersicherheit, Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie Nachrichtendienste und die Unterstützung für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten, etwa die Ukraine.
In der Union sehen viele den Schwenk von CDU-Chef Merz hin zur massiven Aufnahme neuer Schulden kritisch. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Mario Czaja will dem schwarz-roten Finanzpaket im Bundestag nicht zustimmen. Auch die Freien Wähler in Bayern lehnen das Finanzpakt ab. CSU-Chef Söder hingegen versicherte im ZDF die Zustimmung Bayerns zum Finanzpaket.
Ist ein Kompromiss in der Migrationspolitik erreichbar?
Nach den Anschlägen in Magdeburg, Aschaffenburg und München dominierte die Migrations- und Asylpolitik den Bundestagswahlkampf – und hier könnte es auch in den nun anstehenden Koalitionsverhandlungen noch einigen Streit geben.
Im Sondierungspapier verständigten sich Union und SPD unter anderem darauf, dass es "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen" geben könne. Die Parteien wollen alle rechtsstaatlichen Maßnahmen ergreifen, "um die irreguläre Migration zu reduzieren". Auch eine "Rückführungsoffensive" ist geplant. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten soll befristet ausgesetzt werden.
Die SPD versteht das Sondierungsergebnis allerdings anders als die Union. Jens Spahn (CDU) sagte, "Abstimmung" erfordere nicht Zustimmung, notfalls könne auch gegen den Willen der Nachbarländer gehandelt werden.
SPD-Co-Chefin Saskia Esken interpretiert die Passage im Sondierungspapier hingegen strenger. "Wir haben was anderes vereinbart, und dabei bleiben wir auch", sagte sie mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen. Man müsse auf europäischer Ebene näher zusammenkommen, statt "mit dem Kopf durch die Wand zu gehen", sagte Esken. "Das halte ich für brandgefährlich und werde auch ganz klar dagegenhalten, wenn es weiter debattiert wird."
Eine Zurückweisung von Menschen an der bundesdeutschen Grenze verstoße - selbst in Absprache mit den jeweiligen Nachbarländern - gegen das Europarecht, teilte die Organisation Pro Asyl mit.
Bürgergeld, Mindestlohn und Steuerpolitik
Recht unterschiedliche Vorstellungen hatten CDU/CSU und SPD im Wahlkampf auch bei der Sozialpolitik. Nunmehr verständigten sich die Parteien im Sondierungspapier darauf, dass das bisherige Bürgergeldsystem zu einer "neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende" umgewandelt werden soll.
Über den gesetzlichen Mindestlohn soll weiterhin eine "starke und unabhängige Mindestlohnkommission" entscheiden, heißt es im Sondierungspapier. "Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar."
Allerdings könnte zwischen Union und SPD noch hart um die gemeinsame Linie in der Sozialpolitik gerungen werden. "In den Koalitionsverhandlungen muss hier dringend nachgebessert werden, damit eine Zustimmung der SPD möglich ist", sagte der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, Tim Klüssendorf. Generalsekretär Matthias Miersch räumte ein, die Sondierungen seien bereits "nicht ganz einfach" gewesen. Die Koalitionsverhandlungen könnten durchaus auch scheitern - zumal am Ende die Parteibasis entscheidet.
In der Steuerpolitik soll die "breite Mittelschicht" laut Sondierungspapier entlastet werden. Geplant ist eine Reform der Einkommensteuer. Außerdem soll die Pendlerpauschale in der Steuererklärung erhöht werden. Eine Unternehmenssteuerreform ist geplant. An diesen Punkten sind die bisherigen Vereinbarungen eher allgemein, weshalb in den Koalitionsverhandlungen noch viel Arbeit ansteht.
Energie, Klima und Verbraucher
Das Energieangebot soll gesteigert werden - wobei vage bleibt, wie das kurzfristig gelingen könnte. Der Bau neuer Gaskraftwerke ist geplant. Bei den Energiekosten soll die Stromsteuer um fünf Cent pro Kilowattstunde "auf das europäische Mindestmaß" gesenkt werden. Das Bekenntnis zu den deutschen Klimazielen ist im Sondierungspapier enthalten, aber es gibt nur wenige Maßnahmen, mit denen dieses Ziel auch hinterlegt wird.
Den Landwirten wollen Union und SPD "den Rücken stärken". Deshalb soll die Agrardiesel-Rückvergütung wieder vollständig eingeführt werden. Um Gastronomie und Verbraucher zu entlasten, soll die Umsatzsteuer für Speisen dauerhaft auf sieben Prozent sinken.
Ungeklärte und nicht erwähnte Themen
Das Cannabisgesetz der Ampel oder die Wahlrechtsreform - beides wollte die Union eigentlich wieder rückgängig machen - spielten bei den Gesprächen bisher offenbar keine zentrale Rolle. Zum Wahlrecht heißt es sehr knapp im Sondierungspapier: "Wir prüfen eine erneute Reform des Wahlrechts." Das Thema ist seit Jahren politisch und juristisch umstritten.
Die Mietpreisbremse wollen die möglichen zukünftigen Koalitionäre "zunächst für zwei Jahre verlängern". Ansonsten sind die Aussagen zum Thema Mieten und Wohnen sehr allgemein.
Das von der Ampel-Koalition reformierte Staatsangehörigkeitsrecht soll hingegen weiter Bestand haben. Zum Deutschlandticket, dessen Fortbestand in den letzten Monaten aus den Reihen der Union angezweifelt worden war, heißt es im Sondierungspapier: "Wir beraten über die Fortsetzung des Deutschlandtickets sowie den Ausbau und die Modernisierung des Öffentlichen Personennahverkehrs." Eine Einigung steht hier also bisher noch aus.
Hinzu kommt, dass sich in nahezu allen Politikfeldern Experten, Lobbyverbände und andere politische Parteien zu Wort melden. Sie fordern Änderungen und Korrekturen an den Sondierungsergebnissen. Union und SPD haben noch viel Arbeit vor sich, bis ein Koalitionsvertrag fertig ist.
lkn, cp, tei, jfr