Eine Fabrik in Berlin Wedding: Hier werden Atemschutzmasken hergestellt. Eine Maschine stanzt die Masken aus, formt sie und versieht sie mit einem FFP-2-Aufdruck. Laut der entsprechenden technischen Norm muss eine solche Maske mindestens 94 Prozent der Partikel und Feuchtigkeitströpfchen filtern, egal, ob sie in Deutschland, China oder den USA gefertigt wird.
Technische Normen wie diese garantieren Verbrauchern grundlegende Sicherheitsstandards und ermöglichen einen reibungslosen Ablauf vieler Prozesse. Normung ist eine wichtige Voraussetzung für den Welthandel: Das gilt für Überseecontainer ebenso wie für Schrauben oder WLAN-Router und unzählige weitere Produkte. Am bekanntesten ist hierzulande wohl das Papierformat DIN-A4, das in jeden Drucker und jeden Ordner passt.
Kunden verlangen nach technischen Standards
Standardisierungen gelten oft über Ländergrenzen hinweg und bilden damit einen Pfeiler der globalen Arbeitsteilung. Zwar müssen Unternehmen technische Standards bei ihren Produkten nicht unbedingt berücksichtigen, aber sie tun es meistens, weil Kunden oft danach verlangen. Bislang hat Europa bei der Etablierung solcher Standards eine Vorreiterrolle. Doch China drängt nach vorn, mit eigenen Standards. Wer also setzt künftig die technischen Normen?
„Das ist eine ganz spannende Frage, die gerade zu Recht zunehmend Aufmerksamkeit gewinnt, nach dem lange Zeit sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, die Frage von Normierung und Standardsetzung als eine völlig langweilige Angelegenheit für Erbsenzähler behandelt wurde.“
Der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer befasst sich im EU-Parlament mit Außen- und Handelspolitik und ist Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China. In Europa hätten Unternehmenschefs und Politiker dem Thema Normung lange Zeit wenig Beachtung geschenkt.
„Das ändert sich und zwar insbesondere deswegen, weil eine große Hoffnung, die uns lange getragen hatte, sich als fehlgeleitet erweist, nämlich die Hoffnung auf eine im Grunde kollaborative, konvergente Beziehung zu China.“
Die Rolle der Standards für den internationalen Wettbewerb
Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Verständigung auf technische Standards und Normen wäre völlig unpolitisch: Fachleute suchen in nationalen, zwischenstaatlichen oder internationalen Organisationen nach effizienten Lösungen für das Zusammenspiel technischer Systeme. Sie sorgen also dafür, dass Produkte störungsfrei miteinander funktionieren können und dabei für die Anwender sicher sind.
In den entsprechenden Gremien können Experten aus allen Ländern mitarbeiten. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima spricht beispielsweise von einem regen Austausch zur Normung zwischen der EU und Deutschland, mit den USA und China. Vertreter europäischer und insbesondere deutscher Unternehmen arbeiteten – Zitat – „sowohl in chinesischen als auch amerikanischen Normungsgremien mit – und umgekehrt“. Aber technische Standards spielen seit jeher auch eine wesentliche Rolle im Wettbewerb von Unternehmen.
„Es gibt einen ziemlich entlarvenden Satz des alten Siemens, der mal gesagt hat: Wer die Standards setzt, hat den Markt. Die Hoffnung war ja nun, wenn wir uns international zusammentun und gemeinsame Standards setzen, also, wenn wir das als multilaterales Unterfangen zum gegenseitigen Nutzen betreiben, dann gibt es diese Exklusivität der Kontrolle über Märkte eben nicht mehr. Es war so eine sehr euphorische Vorstellung davon, wie Globalisierung laufen sollte.“
Zunächst engagierte sich China stark in Normungsgremien.
„China hat vor, weiß nicht, 20, 30 Jahren angefangen, sich in die internationalen Standardisierungs- organisationen einzubinden, hat da fleißig mitgewirkt, hat auch mal den Präsidenten von ISO gestellt.“
China strebt führende Position an
ISO, das ist die Internationale Organisation für Normung, eine der drei wichtigsten Standardisierungsorganisationen, die ihren Sitz allesamt in der Schweiz haben. Die anderen beiden großen Organisationen, die Internationale Elektrotechnische Kommission IEC und die Internationale Fernmeldeunion ITU, werden derzeit von chinesischen Experten geleitet.
„Man kann beobachten, dass China in der internationalen Normung eine führende Position anstrebt“, sagt Technik- und Normierungsreferent Simon Weimer vom Bundesverband der Deutschen Industrie BDI.
„Man kann das auch beobachten in der Besetzung der Technical Committes bei der International Standardisation Organisation.“
Also bei der ISO. Diese technischen Komitees – auch Sekretariate genannt – leiten und organisieren die Entwicklung einzelner Standards.
„Die chinesisch besetzten Technical committees haben sich in den letzten elf Jahren verdoppelt.“
Aber China beteiligt sich nicht nur in großem Ausmaß in den internationalen Organisationen der Standardisierung, sondern nutzt nach Ansicht von Experten die Standardisierung auch als ein geostrategisches Instrument gegenüber den liberalen Demokratien, besonders den USA, aber auch der EU.
„Wir wachen auf, die europäische Kommission hat eine Standardisierungsstrategie vorgelegt.“
Standardisierung als geostrategisches Instrument
Künftig will die EU-Kommission nationalen europäischen Normierungsorganisationen mehr Einfluss bei der Erarbeitung von EU-Standards für Telekommunikationstechnik einräumen und eine – so wörtlich - „unangemessene Einflussnahme“ außereuropäischer Konzerne verhindern. Das richtet sich unausgesprochen gegen Chinas Technologieriesen Huawei. Aber damit dürfte es nicht getan sein.
„Ich habe gerade einen Bericht vorliegen, der am 1. März publiziert worden ist, vom National Bureau of Asian Research in Washington, mit der Überschrift ‚Chinas digital Ambitions‘, wo man auch ganz zentral auf diese Frage der Standardisierung eingeht.“
Für den internationalen Wohlstand und die Sicherheit stehe viel auf dem Spiel, heißt es in dem Papier. Denn Normen bildeten die Regeln für eine „neuartige geopolitische Macht in einem digitalen Umfeld“. Kein anderes Land „dürfte mit den strukturellen Vorteilen mithalten können, die China bei der Festlegung von Normen zum Tragen bringt.“
2049 will die Volksrepublik China in vielen Schlüsseltechnologien an der Spitze stehen. Dazu zählen künstliche Intelligenz, Cloud-Computing oder autonomes Fahren. Für den Masterplan der Einheitspartei zur Untermauerung des technologischen Führungsanspruchs ihrer Volkswirtschaft spielen Standards eine wichtige Rolle. Rebecca Arcesati forscht beim Mercator Institut für Chinastudien in Berlin zu Chinas Digital- und Technologiepolitik sowie den Auswirkungen auf Europa. Sie kommt auf Chinas Staatspräsidenten zu sprechen.
„Xi Jinping hat über die Bedeutung der Standardsetzung gesprochen, die China einen Vorteil in den Industrien der Zukunft verschaffen und die globale Expansion Chinas unterstützen würde. Wir können den strategischen Ansatz der Volksrepublik China in Bezug auf die technische Standardisierung nicht vollständig erfassen, wenn wir nicht verstehen, dass die technologische Innovation ein zentrales Element in der Strategie der Partei ist, China zu einer globalen einflussreichen Macht zu machen.“
Standardisierungsverfahren beruhen vorrangig auf Kooperation
Zum Problem für den Westen wird das Vorgehen Chinas, weil die westlichen und auch internationalen Standardisierungsverfahren nicht nur auf dem Prinzip von Macht beruhen, sondern vorrangig auf Kooperation. Fachleute – vor allem aus Unternehmen – sollen neue Normen und Standards entwickeln. Zuständig sind dafür in Europa und den USA maßgeblich private Akteure. So ist das Deutsche Institut für Normung ein Verein, in dem Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und von Verbraucherseite mitreden. Aber wie kam es überhaupt zur technischen Standardisierung? Julian Pinnig, Sprecher des Deutschen Instituts für Normung.
„Richtig Fahrt aufgenommen hat das also in den Zeiten der industriellen Revolution, wo dann verstärkt Maschinen eingesetzt wurden. Da ging das los, vor allem auch in Großbritannien.“
Die Internationalisierung technischer Normen begann bereits 1865. Damals wurde die Vorgängerorganisation der Internationalen Fernmeldeunion gegründet. Mittlerweile sind in Deutschland nicht mal mehr 20 Prozent der geltenden Normen nur nationale Normen. Den Löwenanteil bilden mit über 80 Prozent europäische und internationale Normen. Bei der internationalen Standardsetzung dominiert allerdings Europa, was auch an einem Unterschied zwischen den USA und Europa liegt. Die USA setzen bei der technischen Standardisierung auf Wettbewerb, was dazu führen kann, dass für ein und dasselbe Produkt in verschiedenen Bundesstaaten diverse Standards gelten.
Fundament für den EU-Binnenmarkt
In der Europäischen Union hingegen wird die Harmonisierung technischer Normen und Standards in den 27 Mitgliedsländern als wichtiges Fundament für den einheitlichen Binnenmarkt betrachtet. Diese innereuropäische Harmonisierung verleiht der EU aber auch bei der internationalen Standardsetzung großes Gewicht. EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer:
„Die Europäer haben da in den letzten 30, 40 Jahren weit oberhalb ihrer ökonomischen Gewichtsklasse mitgespielt, weil sie ein, würde ich sagen, im internationalen Vergleich vorbildliches Standardisierungssystem gehabt haben, dass gerade durch seine inklusive Art sozusagen nationale Anstrengungen zusammengeführt werden, aber auch eben Anliegen des Mittelstandes oder der Verbraucher oder von Arbeitnehmerinnen nicht vollständig ignoriert werden. Das war eigentlich vorbildlich und deswegen sehr stark. Und daran haben sich die Chinesen auch ein Stück weit orientiert. Nun aber kommt da eine Gegenbewegung.“
Ausgelöst durch China, welches eine andere Tradition der Standardsetzung hat. Wissenschaftlerin Rebecca Arcesati.
„Zunächst einmal ist es wirklich wichtig zu verstehen, dass technische Normen in China nicht auf die gleiche Weise entwickelt werden wie in liberalen Marktwirtschaften. Der chinesische Parteistaat nutzt Normen als Instrument der Industriepolitik und auch der nationalen Wirtschaftsentwicklung, so dass die Rolle des Staates bei der Normung sehr stark ausgeprägt ist.“
Mit der Rollenverteilung in der internationalen Standardisierungswelt und deren Folgen für die eigenen Unternehmen war China unzufrieden.
„Die chinesische Regierung mag es einfach nicht, dass China in der Vergangenheit eher Standards übernommen hat, als dass es Standards gesetzt hat. Bedenken Sie, dass China 2018 der zweitgrößte Zahler von Technologielizenzgebühren in der Welt war.“
Solche Lizenzgebühren werden immer dann fällig, wenn für die Umsetzung von Standardisierungen bestimmte Patente genutzt werden müssen. Fachleute sprechen von „standardessentiellen Patenten“. Julian Pinnig vom DIN-Institut.
„Da gibt es dann von den Normungsorganisationen, egal auf welcher Ebene das ist, europäischer oder nationaler Ebene, klare Anforderungen. Sie besagen, es muss ein faires Modell geben, dieses Patent von allen nutzen zu lassen, diskriminierungsfrei nutzen zu können.“
China setzt internationale Normen immer weniger um
Hauptprofiteure davon sind bislang Unternehmen aus Europa, den USA, Japan und Südkorea. Aber bei neueren Technologien haben chinesische Unternehmen bereits eine starke Stellung. Sie kommen beispielsweise bei dem neuen Mobilfunkstandard 5G auf einen Anteil an den sogenannten „standardessentiellen Patenten“ von einem Drittel, verglichen mit rund sieben Prozent bei der vorherigen Generation der Mobilfunktechnologie, 4G/LTE.
Obwohl China bei internationalen technischen Standards immer stärker mitbestimmt, setzt es immer weniger dieser international beschlossenen Normen auf dem eigenen Markt um. Das war früher anders. Ende der 1990er Jahre übernahm China rund 70 Prozent der neuen ISO-Normen. Mittlerweile sind es nur noch gut zwanzig Prozent.
Außerdem verbreitet China aus geostrategischen Gründen seine nationalen technischen Standards immer stärker in Drittstaaten. Ein Projekt verdeutlicht dies besonders deutlich: Die „Belt and Road“-Initiative, besser bekannt als neue Seidenstraße, mit der China neue Handelskorridore in vielen Weltregionen aufbaut. Ein zentraler Bestandteil ist der Bau von Häfen, Straßen oder Eisenbahnlinien in den beteiligten Ländern. Regelmäßig vereinbart China dafür die Nutzung seiner eigenen nationalen Normen und Standards.
„Die neue Seidenstraße ist also in dem Sinne zu verstehen, dass Normen ein wichtiger Weg zur Erschließung von Märkten sind. Wenn Chinas Standards in einem bestimmten Markt angenommen werden, kann dies bedeutende Lock-In-Effekte erzeugen, wo die Abhängigkeit von chinesischen Firmen und Standards größer ist.“
Bedeutung von Lock-In-Effekten
Was solche Lock-In-Effekte praktisch bedeuten, zeigen Eisenbahnprojekte chinesischer Unternehmen in Afrika und Asien wie der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke in Indonesien von Jakarta nach Bandung, der Abuja-Kaduna-Eisenbahn in Nigeria, der Äthiopien-Dschibuti-Eisenbahn oder der China-Laos-Eisenbahn. Weil sie alle auf chinesischen technischen Eisenbahnstandards beruhen, sind die beteiligten Länder auch künftig bei der Instandhaltung und dem Ausbau ihrer Eisenbahn auf chinesische Lieferanten angewiesen.
„China will die Angleichung an chinesische technische Industrienormen in den Seidenstraßen-Ländern fördern, was in politischen Dokumenten immer wieder betont wird.“
Ein solcher Versuch in Ungarn sei gescheitert, sagt EU-Abgeordneter Reinhard Bütikofer.
„Die Ungarn haben das probiert im Zusammenhang des Baus dieser Eisenbahnstrecke von Belgrad nach Budapest, aber da ist die EU dazwischen gegangen.“
Die Vereinbarungen entlang der neuen Seidenstraße wolle China in eine neue Regionalorganisation überführen, heißt es in einer wissenschaftlichen Analyse für den Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. China könne auf diese Weise neue internationale Standards schaffen. Sie könnten im schlechtesten Fall im Widerspruch zu jetzigen technischen Normen stehen. China könnte eine solche Institution aber auch dazu nutzen, um den eigenen Einfluss in bestehenden internationalen Normierungsgremien weiter zu erhöhen. Trotz allem haben aber bislang Unternehmen aus westlichen Industrieländern in vielen Märkten mit ihren nach internationalen Normen gefertigten Produkten die Nase vorn.
„Auf vielen Märkten sind europäische, amerikanische, japanische oder südkoreanische Unternehmen genauso stark, wenn nicht sogar stärker als ihre chinesischen Gegenspieler.“
Trotzdem solle Europa Chinas Bestrebungen genau beachten, rät die Forscherin.
„Es gibt eine wichtige strategische Dimension der Standardisierung, die Europa ernst nehmen sollte.“
Wertvorstellungen spielen wichtige Rolle für technische Standardisierung
Vor allem auch wegen anderer Wertvorstellungen, was am Beispiel des internationalen WLAN-Standards deutlich wird. China wollte Anfang der 2000er Jahre die Technologie WAPI als Alternative zu WI-FI etablieren und verwies dabei auf dessen bessere Leistungsfähigkeit. Allerdings schützt WAPI die Privatsphäre der Nutzer deutlich schlechter. Zwar lehnte das zuständige Normierungsgremium WAPI ab, weil es keine Notwendigkeit für einen zweiten WLAN-Standard sah. Ethische Werte, Datenschutz und Privatsphäre spielten in der technischen Standardisierung auch bei Datenfiltern und Gesichtserkennung eine Rolle, sagt Reinhard Bütikofer.
„Wo China versucht, bestimmte inhaltliche Vorstellungen von Standardsetzung, die was mit dem politischen System und mit dem Governance System, mit der totalitären Kontrolle durch den Parteistaat in China zu tun haben, sozusagen international zum Maßstab zu machen.“
Möglicherweise führt der zunehmende Systemwettbewerb zwischen dem Westen und China auch bei den technischen Normen zu zwei Blöcken mit unterschiedlichen Standards. Wenn Europa seinen kooperativen Ansatz global stark machen will, braucht es nach Ansicht von Reinhard Bütikofer Verbündete, vor allem im globalen Süden, beispielsweise Indien.
„Was sich am Ende durchsetzt, entscheidet sich wahrscheinlich nicht darüber, was das bessere System ist, sondern, was das System ist, das mehr Akteuren jeweils Vorteile verspricht. Also wenn wir ein wunderbares System hochzüchten, aber dann nur dabei darauf achten, dass wir selbst Vorteile daraus ziehen, dann werden wir wahrscheinlich strategisch unterliegen. Also ist genau diese Frage, wie wir da auch anderen den Vorteil zugänglich machen, den unser System eigentlich bietet, das ist glaube ich eine entscheidende Frage.“