Coronalage in Deutschland
Warum Intensivstationen an die Kapazitätsgrenzen kommen

Die Lage auf den deutschen Intensivstationen in der vierten Welle ist besorgniserregend und spitzt sich weiter zu. Besonders kritisch sieht es im Osten und Süden des Landes aus. Welche Faktoren haben zu der angespannten Situation geführt? Und warum müssen auch Geimpfte intensivmedizinisch behandelt werden?

22.11.2021
    Auf der Covid-Station, einem Bereich der Operativen Intensivstation vom Universitätsklinikum Leipzig, steht eine Physiotherapeutin am Bett einer Patientin.
    Auf den deutschen Intensivstation wächst die Zahl der Corona-Erkrankten mit schweren Verläufen (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)
    Durch die Dynamik des Infektionsgeschehens droht vielerorts eine Überlastung der Intensivstationen. Dort steigt aktuell auch der Anteil der geimpften Coronapatienten: Etwa jeder dritte intensivmedizinisch betreute Covid-19-Patient über 60 Jahren ist gegen das Coronavirus geimpft.

    Wie ist aktuell die Lage auf den Intensivstationen?

    Covid-Patienten: Aktuell sind in Deutschland gut 3.431 Intensivbetten von Covid-19-Patienten belegt (Stand 19. November) - rund 1.000 mehr als noch vor zwei Wochen. Das zeigt das Register der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Laut dem Intensivmediziner Gernot Marx beträgt die durchschnittliche Liegedauer von Covid-19-Patienten auf der Intensivstation 20 Tage.
    Allgemeine Situation: Bundesweit ist die Intensivmedizin insgesamt schon jetzt gut ausgelastet. Im Schnitt sind insgesamt 90 Prozent der Intensivbetten belegt: 19.700 sind besetzt, knapp 2.500 noch frei. Hinzu kommt eine Notfallreserve von 9.600 Intensivbetten. Zur Einordnung: Eine durchschnittliche Intensivstation hat ungefähr zwölf Betten. Das heißt, in den meisten Krankenhäusern steht nur noch ein Bett zur Verfügung.
    Aktuell sei es wieder so, dass ungefähr 0,9 Prozent aller heute positiv Getesteten in sieben bis zehn Tagen auf der Intensivstation landen, sagte Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI, am 09.11.2021 im Dlf. Dabei seien die Inzidenz und die Intensivbelegungen eins zu eins aneinander gekoppelt - genauso wie man das aus den ersten drei Wellen kenne.
    Intensivmedizinische Behandlungen von Corona-Patienten in Deutschland seit März 2020
    Das Intensivregister der deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erfasst Corona-Patienten in intensivmedizinsicher Betreuung. Hier bis Ende Oktober 2021. Am 16. November 2021 gab es bundesweit 3.280 Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen. (Statistia / DIVI)
    Die Lage auf den Intensivstationen spitzt sich auch darum weiter zu, weil im Gegensatz zu vorherigen Corona-Wellen deutlich weniger Betten vorgehalten werden. Noch im Dezember 2020 habe es fast 12.000 Beatmungsbetten gegeben. "Stand heute haben wir unter 9.000 Beatmungsbetten. Das heißt, 3.000 dieser extrem wichtigen Betten haben wir verloren. Und wenn man das mal in Relation zum Beispiel zu Frankreich setzt, die haben ungefähr 6.000 Beatmungsbetten auf eine Bevölkerungsgröße von 67 Millionen, da sieht man, dass wir in Wirklichkeit doch weniger Kapazität haben, als das immer so kommuniziert worden ist", so Karagiannidis. Außerdem fehle Pflegepersonal an allen Ecken und Enden. In manchen Regionen gebe es zudem zu wenig Ärztinnen und Ärzte.
    Interview mit Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI, am 09.11.2021 im Dlf
    Bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte: Auch vor der Pandmie sei die Situation im Intensivbereich schon schwierig gewesen, besonders mit Blick auf die Pflegekräfte, sagte Gernot Marx, Leiter der operativen Intensivmedizin an der Uniklinik Aachen. Nach 22 Monaten hätten viele ihre Arbeitszeit reduziert oder den Beruf verlassen. Man fordere seit vielen Monaten Verbesserungen für die Pflegekräfte, etwa Unterstützung aus psychologischer Sicht, Perspektiven der beruflichen Entwicklung, Kompetenzerweiterung und nicht zuletzt Maßnahmen finanzieller Art, zum Beispiel "Brutto gleich Netto während der Pandemie". Bisher sei nichts passiert.
    Interview mit Gernot Marx, Präsident des DIVI, am 19.11.2021 im Dlf
    Auswirkungen auch auf andere Patienten: Es sei zu befürchten, dass wegen der hohen Belastung der Intensivmedizin Operationen und Therapien von Menschen mit Krebserkrankungen aufgeschoben werden, sagte der Vorsitzende des Deutschen Krebsforschungszentrums, Michael Baumann, im Deutschlandfunk. Auch in der ersten Welle der Pandemie sei das bereits passiert. In der Folge könnten mehr Menschen an Krebs und auch anderen Krankheiten sterben.
    Baumann (DKFZ): Durch die Pandemie sterben wahrscheinlich mehr Menschen an Krebs
    Blick ins Ausland: Noch ist die Coronalage in Deutschland nicht so angespannt wie zum Beispiel im österreichischen Salzburg. Dort bereiten die Landeskliniken ein Triage-Team vor, weil die Behandlung aller Patienten nach geltenden Standards nicht mehr garantiert werden könne. Triage bedeutet, dass Mediziner aufgrund von knappen Ressourcen entscheiden müssen, wem sie zuerst helfen. In Deutschland werden wegen mangelnder Kapazitäten auf den Intensivstationen und der steigenden Zahl von Corona-Patienten bereits jetzt planbare Operationen verschoben.

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    Gibt es einen Zusammenhang zwischen Auslastung und Impfquote?

    Ja! Im Unterschied zu den ersten drei Wellen gibt es regional ganz unterschiedliche Impfquoten. Diese stehen in direktem Zusammenhang mit der Belegung der Intensivstationen. Im Süden und Osten seien die Quoten relativ schlecht, sagte der Intensivmediziner Karagiannidis im Dlf. Und das bilde sich auch im Intensivregister bei den Covidfällen ab: Man habe einen extrem starken Anstieg in Bayern und in Sachsen sowie Thüringen. Auch die Entwicklung in Baden-Württemberg sei nicht gut.
    Man habe insgesamt einfach noch zu viele Ungeimpfte und sei daher ein gutes Stück entfernt von einer Herdenimmunität, sagte Karagiannidis der ARD-Tagesschau. Das trage sehr stark zur hohen Auslastung der Intensivstationen bei.

    Wer sind die Patienten auf der Intensivstation?

    Bislang belegen in der vierten Welle vor allem ungeimpfte Patienten die Intensivbetten der Krankenhäuser. Doch die Zahlen zeigen auch, dass mehr Geimpfte intensivmedizinisch behandelt werden müssen.
    Grafische Darstellung: Am 15. November 2021 belief sich die Zahl der Corona-Hospitalisierungen im Schnitt auf bundesweit 4,65 Fälle je 100.000 Einwohner.
    Durchschnittliche Hospitalisierungsrate von Corona-Patienten (COVID-19) in Deutschland seit September 2021 (Fälle je 100.000 Einwohner; Stand: 15. November 2021) (Statista / DIVI / Robert Koch-Institut)
    Im September 2021 waren laut Deutscher Krankenhaus Gesellschaft DKG mehr als 90 Prozent der Covid-19-Intensivpatienten ungeimpft, Anfang November dagegen nur noch 74 Prozent.

    Warum steigt auch die Zahl der Intensivpatienten auch bei Geimpften?

    Auch Geimpfte können sich infizieren und andere anstecken. Die meisten Geimpften, die wegen einer Covid-Infektion auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, weisen allerdings ein höheres Alter auf oder haben eine Vorerkrankung. Im Oktober 2021 war jeder dritte Intensivpatient über 60 Jahre doppelt geimpft. Ein Grund dafür ist, dass der Schutz vor einer schweren Infektion mit der Zeit abnimmt - bei älteren Menschen noch schneller als bei jüngeren. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt eine Booster-Impfung besonders für Menschen ab 70 Jahren.
    Eine Rolle spielt dabei auch der Impfstoff. Laut einer schwedischen Studie sinkt der Impfschutz beim Impfstoff von AstraZeneca schneller als bei anderen Impfstoffen, effektiver waren hingegen Kreuzimpfungen. Dennoch: Mit einer höheren Impfquote könne man die Zahl schwerer Covid-Verläufe verringern, betonen Intensivmediziner.
    Quellen: DIVI, RKI, Statista, dpa, kho, og