Dienstag, 19. März 2024

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Historikerinnen über offene Wunden Osteuropas
Erinnerungsorte, an denen schon wieder gekämpft wird

In Osteuropa gibt es viele Orte deutscher NS-Verbrechen, die bis heute kaum einen Platz in der deutschen Erinnerung haben. Die Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina beschreiben diese Orte und ihre Geschichte. Manche davon liegen schon wieder im Kriegsgebiet.

Von Peter Carstens | 16.05.2022
Das Buchcover von Franziska Davies, Katja Makhotina: „Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ vor der "Crystal Wall of Crying" der Gedenkstätte Babyn Jar
Schwarze Schatten und Grautöne: Hochaktueller Blick in die Erinnerungskultur (Buchcover Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Hintergrund: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Britta Pedersen)
Im Osten Europas starben im vergangenen Jahrhundert Millionen Menschen. Egal, wohin man kommt, ins Baltikum, nach Polen, Russland oder in die Ukraine: Überall findet man Tatorte deutscher Verbrechen, wo Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen der Polizei gewütet und gemordet haben. Doch viele dieser Orte sind bei uns vergessen.
„Wer hat schon einmal von dem ukrainischen Dorf Korjukiwka gehört, wo im März 1943 das berüchtigte Sonderkommando 4a und ungarische Feldjäger-Einheiten abertausende Zivilistinnen und Zivilisten ermordeten (…), wer kennt den Ort Belzec im Osten Polens, wo die SS mit ihren Helfern etwa eine halbe Million Menschen systematisch ermordete? Diese und viele andere Orte im östlichen Europa stehen bis heute am Rande der Erinnerung.“
Das schreiben Franziska Davies und Katja Makhotina in ihrer Einleitung. Viele ihrer Reiseberichte, Zeitzeugenbefragungen und Ortsbegehungen handeln von Städten und Dörfern, die, anders als etwa der Name „Auschwitz“, in unserem historischen Erinnern keine Rolle spielen.

Selbstmitleidiger Kult

Das liege auch daran, dass die Verbrechen vielfach von Offizieren und einfachen Soldaten der Wehrmacht oder Polizisten organisiert und begangen wurden. Danach seien deren Taten überdeckt worden, vom selbstmitleidigen Kult des Ausharrens bei Stalingrad und dem winterharten Abwehrkampf gegen „den Iwan“.
Die beiden Osteuropa-Historikerinnen, Davies wurde in Düsseldorf geboren, ihre Kollegin Makhotina in Sankt Petersburg, verstehen ihr Buch als Einladung, über Lücken in der deutschen Erinnerungskultur nachzudenken. Sie wollen die Augen ebenfalls öffnen für die Vielfalt und Widersprüchlichkeit des Erinnerns in den betroffenen Ländern.
Denn, so schreiben sie mit Blick auf den aktuellen russischen Angriff auf die Ukraine: „Erinnerung wird als Munition in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen missbraucht oder propagandistisch ausgeschlachtet. Am gefährlichsten ist es, wenn Geschichte zur Waffe in diktatorischen Regimen wird, wie derzeit in Putins Russland. Schon beim ersten Angriff Putins auf die Ukraine im Jahr 2014 war die Instrumentalisierung, ja Pervertierung der Geschichte Teil der Propaganda-Strategie.“

Reiseeindrücke und lokale Gedächtniskulturen

Das gilt natürlich auch für den jetzigen Krieg, der als „Anti-Nazi-Operation“ geführt wird und damit ganz in der Tradition früherer Tötungs- und Vernichtungskampagnen Stalins steht, gegen baltische, polnische oder ukrainische Freiheitskämpfer. 
Die beiden Historikerinnen trugen für ihr Buch Reiseeindrücke aus den Jahren seit 2015 zusammen. Sie fuhren nach Warschau und Minsk, nach Vilnius, Petersburg und an die Wolga, oft gemeinsam mit Studierenden ihrer Universitäten.
Die Historikerinnen befassen sich intensiv mit lokalen Gedächtniskulturen, die auch Verbrecher aus den eigenen Reihen ehren. In Litauen waren Einheimische Kollaborateure des Judenmords. Im ukrainischen Lwiw werde heute noch die „SS-Division Galizien“ gefeiert, der ukrainische Freiwillige angehörten, schreiben die Autorinnen und berichten:
„Denkmäler für Menschen, die im Zweiten Weltkrieg furchtbare Verbrechen begangen haben, sind heute in vielen Städten der Westukraine zu finden. Am bekanntesten ist die Verehrung von Stepan Bandera, jenem faschistischen Anführer, der von einer ethnisch homogenen Ukraine träumte. Auch in Lwiw gibt es von ihm eine überdimensionierte Statue. Für jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer ist dies wie ein Schlag ins Gesicht.“

Geschichte wird instrumentalisiert

Schreiben die Autorinnen, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, neben den schwarzen Schatten der Vergangenheit auch die Grautöne zu benennen. Dazu gehört, dass sich zuletzt gerade in der Ukraine eine junge Generation aufgemacht hatte, Erinnerungen nicht mehr so eindimensional zu betrachten und intensiver das Schicksal der jüdischen Mitbevölkerung zu ergründen. Denn das wurde in der sowjetischen Kriegshistorie ebenso wenig beachtet wie in der Erzählung postsowjetischer Nationen. 
Auch in Belarus zeigt sich das. Dort töteten Deutsche nicht nur hunderttausende Juden, sondern sie machten auch mehr als 600 Dörfer dem Erdboden gleich, „Branddörfer“, in denen mehr als 300.000 Landbewohner umkamen, oft zwischen den Fronten von Wehrmacht und Partisanen.
Doch während das Regime des Diktators Lukaschenko die belarussischen Partisanen feiert, wird die demokratische Opposition mit damaligen Nazi-Kollaborateuren gleichgestellt und diffamiert. Ebenso treibt es Putin mit der Ukraine.
Jedoch selbst dort, wo heute Demokratie und Freiheit walten, wird Geschichte bedarfsweise genutzt. Die Autorinnen zeigen das am Beispiel einer lettischen Ortschaft. Der Schauplatz einer grausamen deutschen Vergeltungsaktion gegen die Zivilbevölkerung am 3. Juni 1944 war zu Sowjetzeiten ein stark ausgebautes, ikonische Gedenk-Ensemble. Im antirussisch geprägten Erinnern des heutigen Lettland hat es keinen Platz mehr – das Museum ist geschlossen, die Gedenkstätte verkommen.

Verpflichtungen für das heutige Deutschland

An manchen Orten, die Davies und Makhotina aufgesucht haben, tobt heute wieder ein Krieg. Die Gedenkstätte bei Babyn Jar, nahe Kiew, wurde von russischen Raketen getroffen.
Für Deutschland ist das gemeinsame Erinnern lange eine deutsch-russische Angelegenheit geblieben. Als Russlands Krieg gegen die Ukraine 2014 begann, wurde in Berlin die Ukraine vom Gedenken am 8./9. Mai ausgeschlossen, nicht jedoch die Vertreter Russlands. So fragen die Autorinnen am Ende ihres hochaktuellen Buches:
„Wie kommt es, dass in Deutschland die Menschen in der Ukraine erst in dem Moment als unser Gegenüber anerkannt werden, ihre Träume und Ängste erst dann ernst genommen werden, wenn sie vor Bomben fliehen und sich mit unglaublichem Mut (…) den russischen Invasoren entgegenstellen? Warum nehmen wir sie erst dann als „echte Nation“ wahr, wenn sie für ihr Land sterben?“
Ein Teil der Antwort liegt in dem, was die beiden Autorinnen auf ihren Reisen an osteuropäische Erinnerungsorte erlebt und nun eindrucksvoll beschrieben haben. Dass sich daraus Aufgaben und Verpflichtungen für das heutige Deutschland ergeben, versteht sich aus ihrer Sicht von selbst.
Franziska Davies, Katja Makhotina: „Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 288 Seiten, 28 Euro.