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Geschlossene Kitas
"Deutschland hat ein Recht auf Kindertagesbetreuung"

Nicht die Schule ist die erste Bildungseinrichtung, sagte Ulrike Grosse-Röthig, Sprecherin der Elternvertretung für Kitas, sondern die Kindertageseinrichtung. Aktuell hätte man die Kinder von jedem Recht auf Bildung getrennt, sagte sie im Dlf.

Ulrike Grosse-Röthig im Gespräch mit Rainer Brandes | 02.05.2020
Ein leerer Aufenthaltsraum in einer geschlossenen Kita in Bremen
Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, sind alle Schulen und Kitas geschlossen. Doch keiner weiß, wie lange noch? (dpa / Sina Schuldt)
Kindertagesstätten und Kindergärten sind in Deutschland seit dem 13. März geschlossen, nur die Notbetreuung ist möglich. Und es ist bisher nicht abzusehen, wann sich daran etwas ändern wird. Ulrike Grosse-Röthig von der Bundeselternvertretung der Kinder in Kitas und Kindertagespflege hat die Bundesregierung aufgefordert, konkretere Pläne vorzulegen, wie der Betrieb in Kindertagesstätten wieder aufgenommen werden könnte. Der jetzige Vierstufenplan habe bei Eltern für Enttäuschung gesorgt, da er zu unkonkret sei.

Sie habe zudem den Eindruck, dass viele Politiker Kindertagesstätten nicht als Bildungseinrichtung, sondern nur als Betreuungseinrichtung wahrnehmen würden. Dabei sei der Bildungsauftrag sogar gesetzlich festgelegt und Kitas seien die erste Bildungseinrichtung, die Kinder in Deutschland in ihrem Leben besuchen könnten. "Die kleinen Menschen müssen wieder zu ihrem Recht auf Bildung kommen", sagte Grosse-Röthig im Dlf. "Der Charakter der Kindertageseinrichtungen als Bildungsstätte hat sich ganz offensichtlich noch immer nicht durchgesetzt." Die Fachkräfte leisteten dort jeden Tag ausgezeichnete Arbeit.

Sie mahnte zudem schnell wissenschaftliche Forschung in dem Bereich an, um schnell mehr über die Infektionswege zu erforschen. "Was wir bis heute nicht haben, sind belastbare Daten, wie dieses Virus auf und mit kleinen Kinder wirkt", sagte sie.

Lesen Sie hier das vollständig transkribierte Interview.

Rainer Brandes: Schon Anfang dieser Woche, da haben ja die Familienministerinnen und Familienminister der Länder ein Konzept vorgelegt, wie man wieder in eine Betreuung in den Kitas und in der Kindertagespflege einsteigen könnte. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder haben darüber aber am Donnerstag in ihrer Videokonferenz mit Angela Merkel gar nicht gesprochen. Hat Sie das enttäuscht?
Ulrike Grosse-Röthig: Ja, schon der Vier-Stufen-Plan, der Anfang der Woche vorgelegt wurde, hat bei den Eltern für Enttäuschung gesorgt aufgrund seiner Unkonkretheit.
Brandes: Richtig, da wird ja kein Datum genannt, wann das Ganze wieder starten könnte, aber auf der anderen Seite wird ja immer wieder zum Beispiel von der Bundeskanzlerin gesagt, na ja, wir haben eine Pandemie, die entwickelt sich ungeplant, wir können gar keine Daten nennen. Wie sehen Sie das?
Grosse-Röthig: Das ist in Teilen natürlich richtig. Wir erleben eine Pandemie und wir hatten eine Notsituation, infolge der die Einrichtungen geschlossen wurden vollständig. Aber was wir nicht haben bis heute sind belastbare Daten, wie dieses Virus auf Kinder, auf kleine Kinder und mit kleinen Kindern wirkt, und ohne diese Datenlage können wir auch nicht weiter planen. Das heißt, es muss ganz, ganz schnell eine Forschung her, eine Begleitung her, eine wissenschaftliche, um konkrete Daten nennen zu können.
Bamberg, Deutschland 25. April 2020:
Symbolbilder - Coronavirus - 25.04.2020


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Kinder und Jugendliche in der Coronakrise
Der Corona-Shutdown führt in Familien zu Stress. Wie gehen Kinder mit der neuen Situation um? Wie erleben sie die Kontaktsperre? Was sind wichtige Regeln für Kinder und Erwachsene in Krisenzeiten? Ein Überblick.
Brandes: Da gibt es ja sogar jetzt auch schon Forschungen dazu. Gerade in dieser Woche wurde im Wissenschaftsjournal "Science" eine Studie veröffentlicht, die eben noch mal zeigt, dass Kinder sich tatsächlich nicht so leicht anstecken mit dem Virus. Das heißt, würde das für Sie darauf hindeuten, dass man auch wieder die Kindergärten möglichst bald öffnen könnte?
Grosse-Röthig: Wir haben leider noch keine breite Datenlage dazu. Allerdings: Im Moment hatten die Virologen das Zepter in der Hand, jetzt müssen wir sehen, dass auch alle anderen mit Kindern befassten Professionen in diese Daten und in diese wissenschaftliche Lage mit einbezogen werden, ob die Kindertageseinrichtungen in welchem Maße … und in welchem Maße der Betreuungsumfang sein kann, das müssen am Ende die Fachkräfte entscheiden. Aber wir brauchen da unbedingt mehr Daten und breiter angelegte Studien.
Ein Erwachsener und ein Kind waschen sich zuhause am Waschbecken die Hände.
Infektiologe: "Kinder können sehr lange Träger des Coronavirus sein"
Bei Kindern könne das Coronavirus teils über sechs Wochen nachgewiesen werden, sagte der Infektiologe Johannes Hübner im Dlf. Kinder hätten zudem häufig sehr milde Krankheitsverläufe, leider gebe es davon aber auch Ausnahmen.
Brandes: Jetzt ist es ja so: Als in den Schulen jetzt klar geworden ist, dass die ersten Jahrgänge wieder zur Schule gehen sollen, da hat es ja sofort Klagen von Eltern gegeben, weil die ihre Kinder eben nicht zur Schule schicken wollten aus Angst vor einer Ansteckung.
Jetzt ist in Kitas wahrscheinlich die Ansteckungsgefahr noch mal höher, weil natürlich kleine Kinder weniger gut Abstand halten können. Das heißt, da haben doch sicherlich auch viele Eltern, die Sie vertreten, Angst davor, oder nicht?
Grosse-Röthig: Natürlich. Bei Eltern bestehen genauso die Bedenken, die Kinder in die Kindertageseinrichtungen zu schicken, wenn nicht da Konzepte vorliegen, wie auch der Gesundheitsschutz für die Kinder funktionieren kann. Nebenbei bemerkt: Auch für die Fachkräfte muss der Gesundheitsschutz gewährleistet sein. Allerdings herrscht eben in vielen Familien auch die Belastung vor, die dieses Homeoffice und diese Doppelbelastung mit sich bringt.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
"Wie schnell unsere Gesellschaft das Rollenbild der 50er-Jahre wieder aus der Schublade gezaubert hat"
Brandes: Dann reden wir mal genau darüber, auch über die Perspektive der Eltern. Dass Homeoffice und Kinderbetreuung gleichzeitig, also zumindest bei kleinen Kindern, nicht funktioniert, ist wahrscheinlich jedem klar, der kleine Kinder hat, und es beobachten jetzt immer mehr vor allem Mütter, dass eben sie es sind, die ihren Beruf hinten anstellen.
Und da mehren sich jetzt die Stimmen, die sagen: Jetzt zeigt sich, dass alles Gerede von gleichberechtigter Rollenaufteilung eben nur Gerede gewesen ist. Sehen Sie das auch so?
Grosse-Röthig: Es war schon erschreckend, wie schnell unsere Gesellschaft das Rollenbild der 50er-Jahre wieder aus der Schublade gezaubert hat. Das war schon beeindruckend und erschreckend zugleich. Wir brauchen finanzielle Unterstützung in den Familien, denn, wie Sie schon sagen, Homeoffice und Kinderbetreuung, also auch qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und Bildung – und am Ende ist ja die Kindertageseinrichtung eine Bildungseinrichtung – kann nicht nebenher funktionieren.
Also man kann nicht beides gleichzeitig machen. Das heißt, wir erleben in den Familien eine extrem hohe auch zeitliche Belastung, wo Eltern mitten in der Nacht aufstehen, um zu arbeiten und bis spät in die Nacht arbeiten, einfach weil tagsüber die Kinderbetreuung im Vordergrund stehen muss ganz logischerweise.
Aber um diese finanziellen Leistungen zu implementieren, braucht es auch kluge Konzepte. Wir dürfen das nicht einfach verfestigen, dieses Rollenbild mit, die Mama bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder, sondern es muss dann Lösungen geben, dass beide Eltern Stunden reduzieren können bei vollem Lohnausgleich, sodass die Gleichberechtigung in den Familien nicht zu kurz kommt.
Grünen-Chef Habeck - "Keine Perspektive zu haben, ist einfach zermürbend"
Robert Habeck hat die Bundesregierung für die fehlende Strategie bei den Schul- und Kitaöffnungen kritisiert. Es müsste schon jetzt flexible Modelle geben, um die Eltern zu entlasten.
Brandes: Da fordern ja jetzt gerade die Grünen die Einführung eines Corona-Elterngeldes, um eben diese finanziellen Einbußen von Eltern abfedern zu können. Klingt nach einer guten Idee, aber könnte das am Ende nicht dazu führen, dass es dann doch wieder die Situation zementiert, dass nämlich vor allem dann eben die Mütter das in Anspruch nehmen und zu Hause bleiben, während der Vater weiter arbeiten geht?
Grosse-Röthig: Es muss da ganz kluge Lösungen bei diesemgeplanten Corona-Elterngeld geben, wenn es denn kommen sollte, einfach, um diese Situation nicht zu verfestigen, um diese plötzlich wieder auftretende typische Familienkonstellation nicht weiter zu verfestigen, sondern für die Familien auch Perspektiven von Gleichberechtigung und gemeinsamer Kindererziehung zu zeigen.
"Wir haben unsere Kinder von jedem Recht auf Bildung getrennt"
Brandes: Sie haben eben gesagt, dass Kindertagesstätten ja Einrichtungen von kindlicher Bildung sind. Haben Sie den Eindruck, dass im Moment, zumindest bei einigen Politikern, so mehr der Betreuungscharakter im Vordergrund steht, so nach dem Motto, na ja, das sind halt Kindergärten, da werden die Kinder betreut, das geht jetzt in der Krise eben auch zu Hause, und der Bildungscharakter zu kurz kommt?
Grosse-Röthig: Ja, total. Also der Charakter der Kindertageseinrichtung als Bildungsstätte hat sich ganz offensichtlich noch immer nicht durchgesetzt, was für hervorragende Arbeit die Fachkräfte da jeden Tag in den Einrichtungen leisten und was die Kinder dort in der ersten Bildungseinrichtung, die sie besuchen, mitnehmen.
Nicht die Grundschule ist die erste Bildungseinrichtung, sondern tatsächlich die Kindertageseinrichtung ist die erste Bildungseinrichtung, die Kinder in Deutschland besuchen können, und darauf haben sie auch ein gesetzliches Recht, das muss man einfach noch mal sich vor Augen führen. Deutschland hat ein Recht auf Kindertagesbetreuung.
Das ist ausgesetzt aufgrund der Pandemie, verständlich, aber diese kleinen Menschen, die Teil unserer Gesellschaft sind, müssen auch wieder zu ihrem Recht auf Bildung kommen. Es ist einmal der soziale Aspekt natürlich, wir haben unsere Kinder getrennt von all ihren Sozialkontakten, aber auch von jedem Recht auf Bildung.
Brandes: Jetzt mehren sich ja die Hinweise darauf, dass es vielleicht doch noch vielleicht sogar zwei Jahre dauern kann, bis es einen Impfstoff geben wird. Können Sie sich vorstellen, dass, sagen wir mal, nach den Sommerferien die Kindertageseinrichtungen immer noch nicht wieder vollständig öffnen und die Kinder meinetwegen nur tageweise betreut werden können?
Grosse-Röthig: Wenn wir es nicht schaffen, eine breite Datenlage virologisch, infektologisch heranzubringen und uns einfach auf diese "Na, wir schauen mal, was passiert"-Vorgehensweise einigen, dann wird es voraussichtlich so sein, das muss ich ganz klar sagen.
Und es macht vielen Familien große Ängste, dass die Kindertageseinrichtungen auf Dauer hinten runterfallen, weil sich niemand die Mühe macht, diese zu erforschen, die Infektionswege zu erforschen. Um eine möglichst schnelle, aber sichere Wiedereröffnung herbeizuführen, brauchen wir wissenschaftliche Begleitung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.