Ein Großteil der Kosten für Corona sei direkt aus dem Bundeshaushalt bezahlt worden, sagte Wolfgang Greiner, Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit, beispielsweise die Leerstandsprämien für freigehaltene Betten möglicher Corona-Patienten in Krankenhäusern.
Noch würden die relativ moderaten Krankenkassenbeitragssteigerungen erkauft werden durch einen großen Griff in die Finanzreserven der Krankenkassen, sagte der Gesundheitsökonom, der an der Universität Bielefeld lehrt. Diese Maßnahme ließe sich im Jahr 2022 nicht mehr wiederholen, denn dann seien die Finanzreserven aufgebraucht.
Nachdenken über 40-Prozent-Marke
Es müsse daher nach anderen Lösungsmöglichkeiten gesucht werden, um die hohen Kosten im Gesundheitswesen zu stemmen. Wenn man unter der ominösen 40-Prozent-Schwelle für alle Sozialversicherungsbeiträge bleiben wolle - der Anteil der Krankenversicherung macht derzeit im Schnitt 15,9 Prozent aus - gehe das nur über Steuerzuschüsse. Da sei aber die Frage, wie lange der Bundeshaushalt dies aushalte.
Eine andere Möglichkeit wäre, sich von der 40-Prozent-Marke zu verabschieden, sagte Wolfgang Greiner. Oder man müsse wieder über Spargesetze nachdenken. Die habe es in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr gegeben. Stattdessen habe man sich in der Gesundheitspolitik zu immer weiteren Leistungsausweitungen entschlossen, so der Experte.
Das vollständige Interview im Wortlaut.
Jürgen Zurheide: Herr Greiner, erst mal fangen wir an mit den Ausgaben. Die Ausgaben der Krankenkassen im vergangenen Jahr, die sind nach oben gegangen – um wie viel und woran lag es?
Wolfgang Greiner: Die Ausgaben sind kräftig gestiegen, wir haben noch nicht die endgültigen Zahlen, wobei die Ausgaben für Corona gar nicht mal so im Mittelpunkt standen, sondern eher die Einnahmeausfälle. Die Einnahmen waren wesentlich geringer als das, was man prognostiziert hatte, weil natürlich die Konjunkturentwicklung ganz anders war, als man das noch in 2019 vorhergesehen hat. Ein Großteil der Kosten für Corona sind direkt aus dem Bundeshaushalt bezahlt worden, zum Beispiel die Leerstandsprämien, also dafür, dass Krankenhäuser ihre Betten freigehalten haben für mögliche Corona-Patienten.
Immer weitere Leistungsausweitungen
Zurheide: Dann kommen wir allerdings dazu, dass natürlich einige Gesetzesänderungen da waren, und die haben viel mit dem Gesundheitsminister zu tun, der ja auch jetzt hohe und weitere Ambitionen hat. Ich wage eine These: Herr Spahn war Treiber für die Ausgaben – richtig oder falsch?
Greiner: Das muss man wohl so sehen, wobei das alles Themen waren, die, glaube ich, gesellschaftlich sehr stark auch akzeptiert waren. Aber wir sehen jetzt zehn Jahre lang im Grunde genommen kein einziges Spargesetz mehr, sondern immer weitere Leistungsausweitungen, zum Beispiel im ambulanten Bereich. Das Terminservicegesetz, da war das Ziel, dass die Patientinnen und Patienten mehr und schneller Termine im ambulanten Bereich bekommen, dafür gab es Zusatzhonorare für die Praxen, oder im Krankenhausbereich das Pflegepersonalstärkungsgesetz, was im Kern sagt, liebe Krankenhäuser, stellt so viel Pflegekräfte ein, wie ihr könnt, wir zahlen das alles direkt. Oder um ein letztes Beispiel nennen: Bei den Betriebsrentnern, also Rentner, die neben ihrer Altersrente noch eine Betriebsrente beziehen, da gab es lange Diskussionen, ob sie darauf den vollen Krankenkassenbeitrag zahlen müssen. Da sind relativ hohe Freibeträge eingeführt worden, die dann eben auch viel Geld kosten.
Zurheide: Jetzt fragen wir uns natürlich, wie wird das weitergehen im laufenden Jahr. Einen Aspekt haben Sie gerade schon angesprochen, die Arbeitslosenzahlen werden natürlich einen ganz wesentlichen Punkt darstellen. Wenn wir 600.000 mehr Arbeitslose haben, heißt das, da fallen Beitragszahler und -zahlerinnen aus. Ist das der wesentliche Grund für dieses Jahr, oder wie schauen Sie auf dieses Jahr?
Greiner: Wir haben einmal tatsächlich die Auswirkungen auf der Ausgabenseite, die wir eben besprochen haben, die auch langfristig weiterwirken, zum Teil auch die Corona-Ausgaben, wobei zum Beispiel wiederum der Impfstoff weiterhin vom Bund bezahlt wird, aber wir sehen eben vor allem diese konjunkturelle Delle, die ja uns erhalten bleibt. Wenn es gut läuft, werden wir 4 bis 5 Prozent Wachstum haben – klingt viel, aber wir haben halt auch viel aufzuholen. Entsprechend müssen wir uns damit anfreunden, dass diese relativ moderaten Krankenkassenbeitragssteigerungen erkauft werden durch einen großen Griff in die Finanzreserven der Krankenkassen – das wird dann in 2022 natürlich nicht mehr möglich sein, dann sind die weg – und einen wesentlich höheren Steuerzuschuss, statt 14,5 dann 19,5 Milliarden, um eben die Krankenkassenbeiträge nur so relativ gering anheben zu können.
Vor den Wahlen keine Beitragssteigerungen
Zurheide: Dann wagen wir mal eine Prognose: Was sagen Sie voraus? Es gibt ja diesen politischen Grundsatz, mehr als 40 Prozent, darüber dürfen die Beiträge nicht steigen, das heißt, wir werden uns wieder auf neue Sparrunden einstellen müssen, oder was sagen Sie voraus?
Greiner: In 2021 noch nicht, also vor den Wahlen erwarte ich das nicht. Das hat man genau so ausgerechnet, dass wir jetzt mit diesen 15,9 im Durchschnitt, die wir in Krankenkassenbeiträgen haben, unterhalb dieser 40-Prozent-Schwelle bleiben für alle Sozialversicherungsbeiträge, in 2022 sieht das ganz anders aus. Dann müssen entweder massiv die Steuerzuschüsse erhöht werden – ist die Frage, ob der Bundeshaushalt das aushält –, oder wir müssen uns von dieser 40-Prozent-Beitragssatzgrenze verabschieden, oder wir müssen halt tatsächlich übergehen wieder in den Bereich von Spargesetzen, zum Beispiel bei der Krankenhausstruktur sind da wichtige Aufgaben lange liegen geblieben oder auch im Bereich besserer Koordination und Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das muss man abwarten. Der leichteste Weg wäre natürlich eine schnelle Erholung der Wirtschaft, aber das ist natürlich weitgehend außerhalb des Zugriffsbereichs des Gesetzgebers.
Zurheide: Wo Sie gerade die Krankenhäuser angesprochen haben, das ist natürlich der Hauptausgabenblock, aber da sagen natürlich viele, da muss einiges verändert werden, aber erst mal die Veränderungen kosten so viel Geld, dass man kein schnelles Sparen wird erwarten dürfen. Ist diese These richtig?
Greiner: Das stimmt. Viele Strukturveränderungen kosten erst mal Geld, das sieht man auch im Digitalisierungsbereich sehr gut. Der Aufbau einer elektronischen Patientenakte beispielsweise, der kostet erst mal Geld, könnte dann aber auch zu einer besseren Abstimmung zwischen den einzelnen Leistungsanbietern, also Krankenhäusern und ambulanten Praxen führen. Ähnliches im Krankenhausbereich: Wenn Sie dort Krankenhäuser zusammenlegen wollen, ist das häufig mit baulichen Maßnahmen verbunden, auch damit, dass Sie eventuell Sozialpläne oder Ähnliches aufstellen müssen. Aber diese Investitionen wären dann wirklich Zukunftsinvestitionen, anders als das, was jetzt häufig erfolgt, dass Strukturen erhalten werden, die eben dauerhaft Geld kosten.
Eigentliches Defizit wird verschleiert
Zurheide: Wird es eine Debatte geben, denn das, was jetzt oben draufkommt, das zahlen ja die Menschen erst mal selbst, das wird nicht geteilt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wird es eine Debatte geben, dass dieser Zusatzbeitrag eigentlich, könnte man sagen, ungerecht ist, warum zahlen das nur die Arbeitnehmer und nicht die Arbeitgeber?
Greiner: Nein, das ist tatsächlich schon geändert worden, der Zusatzbeitrag ist wieder paritätisch finanziert. Deswegen wird auch diese Steigerung des Zusatzbeitrags in 2021 mit 0,2 Prozent im Durchschnitt gar nicht mal so sehr auf dem Lohnzettel in Gebühr fallen. Zum Beispiel, wenn Sie eine Krankenschwester haben mit 3.000 brutto, die zahlt gerade mal 3 Euro angesichts ihres Arbeitnehmeranteils. Die Probleme liegen eher darin, dass damit das eigentliche Defizit über 16 Milliarden mehr oder weniger verschleiert wird und zukünftig durch andere Maßnahmen, insbesondere in 2022, dann nachgeholt werden muss.
Zurheide: Das heißt, in der Bundestagsdebatte müsste man eigentlich kräftig darüber diskutieren, was denn da verändert werden muss, aber Sie haben es gerade schon gesagt, das wird eben auf die Zeit nach der Wahl verschoben.
Greiner: Ganz sicher. Man hat sich im Grunde genommen jetzt vorbereitet durch diesen Beitragssatz, der sehr moderat ist, wo man sagt, okay, die Versicherten zahlen auch ihren Beitrag, aber alles andere wird im Grunde genommen unmerklich durch eine Steuerfinanzierung, also durch eine letztlich kreditfinanzierte Lösung auf spätere Zeiten vertagt.
Zurheide: Kommen wir zum Schluss noch auf ein anderes Thema, wo wir heute Morgen schon häufig drüber geredet haben, wie die Impfungen im Zusammenhang mit Corona eigentlich laufen. Was kann der Ökonom eigentlich beitragen im Moment zur Reihenfolge des Impfens? Das sind ja Wertentscheidungen, das ist das eine, gibt es eine ökonomische Rationalität hinter dem, was da gerade passiert?
Greiner: Der Ökonom setzt ja nicht die Ziele, sondern er versucht zu optimieren innerhalb dessen, was ihm vorgegeben wird. Wenn man zum Beispiel als Gesellschaft sich entscheidet, möglichst wenig Infektionen zu haben, dann müssten wir eigentlich auch eher jüngere Gruppen prioritär impfen, weil dort am meisten Kontakte und damit Infektionen stattfinden. Wenn man eher die Intensivstationen entlasten will und weniger Todesfälle, was ja zurzeit das Hauptziel offensichtlich gesellschaftlich ist, dann ist es genau richtig, eher die Alten und die Risikogruppen zu impfen. Wenn man ein möglichst funktionsfähiges Gesundheitssystem haben will, das, was eben, glaube ich, der thüringische Ministerpräsident gesagt hat, dann wäre es richtig, prioritär vor allem das ärztliche und pflegerische Personal zu impfen. Es gibt dazu ja auch Modellrechnungen seitens des Robert Koch-Instituts, die werden leider noch nicht in der Form veröffentlicht, dass man mal absehen könnte, was eigentlich die einzelnen Ergebnisse und Auswirkungen dieser Priorisierungsentscheidung sind. Das wäre im Grunde genommen eine richtige Geschichte, weil auch die Politik natürlich allen gerecht werden will, all diesen vielen, die ich eben genannt habe, und das dann doch sehr schnell verschwimmt und unklar ist, wo eigentlich jetzt die eigentlichen Prioritäten liegen.
Israelische Lösung nicht gangbar
Zurheide: Also da müsste nachgebessert werden oder da braucht man eine bessere Datenbasis. Ein anderer Punkt, und das wäre die letzte Frage heute Morgen: Die Israelis haben sich ja entschieden, zwei eher teurere Impfstoffe zu kaufen, ganz viel, ganz schnell zu impfen, weil sie sagen, dann ist der Schaden in der Wirtschaft möglicherweise geringer, weil wir nicht ganz so lange uns einschränken müssen. Ist das eine zielführende Überlegung?
Greiner: Die israelische Lösung, mehr zu zahlen, zum Teil den doppelten Preis und noch mehr für den Impfstoff, die wäre, glaube ich, für Deutschland und auch für die EU nicht gangbar gewesen. Die israelische Lösung mit diesen hohen Impfzahlen ist insbesondere, nicht nur, aber insbesondere deswegen möglich, weil sie eben einfach ausreichend Impfstoff zur Verfügung haben. Bei uns läuft das langsamer an, wir müssen uns da länger gedulden. Das finde ich aber auch insofern korrekt, weil wir im Grunde genommen eine europäische Lösung für eine Pandemie brauchen, die ja grenzüberschreitend ist. Und wenn Sie dann nur in einem Land im Grunde genommen alles durchgeimpft haben, dann nützt Ihnen das nichts, weil die Pandemie kommt dann letztendlich am Ende wieder zu Ihnen zurück.
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