Archiv

Zum Tod von Günther Rühle
Verfechter des großen Schauspielertheaters

Mehr als ein Vierteljahrhundert hat Günther Rühle das deutschsprachige Theatergeschehen begleitet und geprägt wie kein anderer. Dabei ging es ihm immer auch um die Förderung der jungen Generation. Als Intendant des Frankfurter Schauspiels löste er einen der größten Theaterskandale der Nachkriegszeit aus.

Von Dorothea Marcus |
Günther Rühle steht im Dunklen an einem Rednerpult und spricht, nur auf ihm liegt Scheinweiferlicht
Der Theaterkritiker und Indendant Günther Rühle ist tot (dpa / Britta Pedersen)
„Theater hat ja eine gesellschaftliche Funktion: Mitteilungen vom Grund der Ereignisse. Etwas ganz Elementares. Mein ganzer Kampf ums Theater geht darum, dass man das Instrument erhält. Und nicht kaputtmacht.“
Er war ein leidenschaftlicher Journalist und luzider Historiker. Mehr als ein Vierteljahrhundert hat Günther Rühle das deutschsprachige Theatergeschehen begleitet und geprägt wie kein anderer. Als Theatergedächtnis des Jahrhunderts hat man ihn bezeichnet, als dessen großen Enzyklopädisten. 25 Jahre lang war Günther Rühle Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, fast zehn Jahre lang Leiter des Feuilletons, nebenbei schrieb er gewaltige Standardwerke zur Theatergeschichte - und verschloss sich doch nicht dem Neuen.

Größter Theaterskandal der Nachkriegszeit

„Wir haben als Kritiker immer wieder die Aufgabe zu gucken: wo sind Kräfte, die sich durchsetzen wollen. Und wer von denen verdient Unterstützung. Die Förderung von jungen Kräften ist eine wesentliche Aufgabe eines Kritikers. Ein Versuch, Erkenntnis zustande zu bringen. Und Erkenntnis durchzusetzen hat etwas mit Wahrheitsfindung zu tun.“
Spät berufen wurde der Kritiker Günther Rühle mit 60 Jahren zum Intendanten des Frankfurter Schauspiels. Da ging es mit dem Entdecken erst richtig los. Er wurde zum leidenschaftlichen und temperamentvollen Verfechter von Neuem und Skandalösem. Nicht nur, dass er in dieser Zeit die Schauspieler Martin Wuttke und Thomas Thieme entdeckte. Oder den damals von der Frankfurter Kritik geächteten Regisseur Einar Schleef förderte, bis der zum heutigen Theaterheiligen avancierte. Nein, gleich zu Beginn der fünf von ihm selbst später als „wild“ bezeichneten Jahre provozierte er einen der größten Theaterskandale der Nachkriegszeit.

Vorwurf des Antisemitismus gegen Fassbinders Stück

1985 wollte Günther Rühle in Frankfurt die deutsche Erstaufführung von Fassbinders „Die Stadt, der Müll und der Tod“ durchsetzen, in dem eine der Hauptfiguren ein jüdischer, skrupelloser Spekulant ist. Es gelang ihm nicht – in wochenlangen Protesten gegen die Aufführung des Stücks, unter anderem vom damaligen Vorsitzenden des Jüdischen Zentralrats Ignatz Bubis, wurde Rühle schließlich selbst als Antisemit beschimpft. Die Premiere fiel aus, weil Zuschauer die Schauspieler am Weiterspielen hinderten, weitere öffentliche Aufführungen gab es nicht.
„Ich halte das Stück bis heute noch nicht für antisemitisch. Natürlich ist durch das jüdische Unterdrücken des Stücks durch die Protestierenden auch verhindert worden, dass die Antisemiten, die auf der Bühne waren, als in dieser Gesellschaft vorhanden dargestellt werden. Sie haben sich viel später gezeigt. Die Diskussion hat insofern Zäsurcharakter, als es in den Diskussionen auf einen Begriff zuliefe, der eine Rolle spielt bis heute: den der Normalisierung.“

Vom Krieg zutiefst geprägt

Der 1924 in Gießen geborene und in Bremen aufgewachsene Rühle ist vom Krieg zutiefst geprägt worden. Der Sohn eines Wirtschaftsprüfers und Heimatschriftstellers aus dem Westerwald erlebte die Nazifizierung als Kind bewusst mit, konnte wegen des Kriegs zunächst kein Abitur machen. Er erzählte selbst, wie er in das geistige Klima der Nazizeit hineingesogen wurde:
„Als wir zurückkamen aus dem Krieg, hielten wir noch eine Weile Erich Kästner für einen deutschfeindlichen Emigranten und Thomas Mann und Bertolt Brecht für jüdische Schriftsteller. So hatte uns die antijüdische Keule von Goebbels ins Hirn geschlagen“.
Und diese Keule trieb er sich dann selber aus, indem er von 1946 bis 1952 Germanistik und Geschichte studierte, ehe er als Lokalredakteur bei der Frankfurter Rundschau begann.

Die "ewige Spürnase des Theaters“

Nach seiner Frankfurter Intendanz war Günther Rühle dann auch noch Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegels. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens war die „ewige Spürnase des Theaters“, wie ihn der Kritiker Franz Wille einmal nannte, Neuem übrigens weniger aufgeschlossen. Dem Aufkommen der neuen deutschen Dramatik in den 1990er-Jahren begegnete er etwa mit Unverständnis, Autoren wie Dea Loher oder Roland Schimmelpfennig konnte er nichts abgewinnen.
„An neuen Stücken ist ja kein Mangel. Nur die neuen Stücke – entweder bedeuten ja nichts, weil sie sich so sehr ins Private zurückziehen, oder sie haben keine öffentliche Kraft. Dass sie zu sehr feuilletonisieren, dass sie zu klein bleiben, oder dass sie ihr Thema nicht so schärfen, dass sie Widerspruch oder einen Erkenntnisschock im Publikum auslösen. Keines dieser Stücke hat irgendeine öffentliche Bedeutung bekommen, wie wir das vom großen politischen Theater der 70er-Jahre kennen.“

Rühles Hauptwerk: 2.400 Seiten einer Geschichte des Theaters

Das politische Theater in Deutschland, so meinte Rühle oft, habe nach Heiner Müllers Tod im Jahr 1994 aufgehört zu existieren. Die Entwicklung des Theaters nach dem Fall der Mauer kritisierte er vehement: er beklagte sich, dass Regisseure von nun an viel zu oft rein äußerlich, ohne innere Einfühlung inszenierten.
Auch Rühles schriftstellerisches Hauptwerk, eine insgesamt 2400seitige Geschichte des Theaters, hörte im Jahr 1966 auf. Günther Rühle blieb vor allem ein Verfechter des großen Schauspielertheaters. Und obwohl er ein großer Historiker des Jahrhunderts war, kam er niemals auf den Gedanken, die eigene Bedeutung darin autobiografisch aufzuarbeiten.
„Ich bin mir selber nicht interessant genug. Ich habe mich immer nur als Reflektor betrachtet, die die Zeit aufnimmt. Erinnerungen sind nicht mein Metier.“