Freitag, 29. März 2024

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Rückblick auf das Kulturjahr 2021
Für weniger Hass und mehr Empathie

Corona hat 2021 die Kultur wieder stark getroffen. Doch die Kunst stellt weiter Fragen: Was ist ein erfülltes Leben? Wie kann sichtbar werden, was bisher verdrängt wurde? Und warum ist das Virus ein Fremdling, den man auch willkommen heißen sollte? Vier Kulturschaffende erzählen, was ihnen 2021 wichtig war.

Von Karin Fischer | 31.12.2021
Die Schriftstellerin Sibylle Berg bei der Verleihung des Grand Prix Literatur.
Sibylle Berg macht sich darüber Gedanken, wie stark sich unser Lebensgefühl im Laufe der Jahre verändert. (picture alliance / dpa / KEYSTONE / Georgios Kefalas)
Mit Corona und unter bestimmten Schutzbestimmungen zu leben und zu arbeiten, ist fast zur Normalität geworden. Künstlerinnen und Kulturmenschen empfinden das im Jahr zwei der Pandemie nur zum Teil als Einschränkung. Viele sind auch extrem produktiv:

Porträtaufnahme der Schriftstellerin Sibylle Berg auf der Digitalkonferenz "re:publica"
Porträtaufnahme der Schriftstellerin Sibylle Berg auf der Digitalkonferenz "re:publica"
Sibylle Berg

Sibylle Berg zählt zu den bekanntesten Dramatikerinnen/Autorinnen im deutschsprachigen Raum. Sie hat fünfzehn Bücher veröffentlicht, von denen viele als Theatertext auf die Bühne kamen, wie auch ihr dystopische Roman „GRM – Brainfuck“. Ihre Stücke nehmen den Sound der Gegenwart auf - aber immer so, dass es weh tut. Schonungsloser Sarkasmus, bitterer Witz, tiefschwarzer Humor sind das Charakteristikum ihrer Texte. Sibylle Bergs Figuren arbeiten sich am Leben als Frau ab oder am Kapitalismus. Ihre Texte sind vielfach preisgekrönt, weil sie seismographisch Zeitgeist ver-dichten.
Die Dramatikerin erlebte sich selbst im zweiten Corona-Jahr als „jeden Tag froh“ über das Glück, das sie hat: „Ich habe einen Menschen, den ich liebe, der mich liebt, mit dem ich auch zehn Jahre lang eingesperrt sein könnte, eine Wohnung, in der mir wohl ist und auch noch keine wirkliche Finanzkatastrophe erlebt.“ Wenn schon alle Sicherheiten weg brächen, sei sie dankbar, dass der Kern des Lebens nicht angetastet sei.
Im Jahr 2021 hat Sibylle Berg die Aktion „The Golden NFT Project“ des Peng-Kollektivs unterstützt. Dort wurde Krypto-Kapital gesammelt, um „Goldene Visa“ für Flüchtlinge zu kaufen: „Man nimmt etwas vollkommen hyperkapitalistisch Dämliches wie NFTs und dreht sie um, hackt also gewissermaßen das System mit sich selber. Immerhin 100.000 € kamen bei der Aktion für geflohene Menschen zusammen, das ist doch cool. Für Quatsch und Humor ist das ziemlich gut.“
Humor helfe gegen das Gefühl der Ohnmacht. „Für eine globale Weltrettung langt’s uns ja allen nicht. Und da hilft Humor, dich zu sehen in deiner Ohnmacht und der Sehnsucht, irgendwas zu reißen - obwohl du es vermutlich nicht tust.“
Was Sibylle Berg wirklich bewegt, angesichts einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft, ist die Frage: „Wie vertragen wir uns wieder? Warum hassen die Menschen einander, statt auf wirkliche Systemfehler zusammen hinzuweisen? Das würde ich mir wünschen, dass die Leute wieder lernen, sich weniger zu hassen – was natürlich mit Algorithmen im Hintergrund und sozialen Medien sehr schwierig ist.“
Theaterstück des Jahres - Sibylle Berg über Humor und Kapitalismus

Bénédicte Savoy posiert am 21.3.2018 in Paris für eine Porträtaufnahme
Bénédicte Savoy posiert am 21.3.2018 in Paris für eine Porträtaufnahme
Bénédicte Savoy
Die Kunstwissenschaftlerin Bénédicte Savoy gehört laut Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten 2021 weltweit. Zusammen mit ihrem senegalesischen Wissenschaftler-Kollegen Felwine Sarr hatte sie im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron ein Gutachten veröffentlicht, das weltweit Aufsehen erregt hat und im November zur Rückgabe von 26 großen Statuen und Objekten aus Paris an Benin in Afrika führte. Dieser 10. November war das intensivste und positivste Erlebnis in ihrem Kulturjahr 2021. Die zwei Tonnen schweren Kunstschätze, „materielle Erinnerungen“ nennt Savoy sie, wurden in Benin „empfangen wie verlorene Kinder. Nicht nur für mich war das eine umwerfende Erfahrung.“
In ihrem Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst. Die Geschichte einer postkolonialen Niederlage“ beschreibt Bénédicte Savoy, dass der Kampf um die geraubte Kunst von den Herkunftsländern bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen wurde. Doch die ehemaligen Kolonialmächte, Frankreich, Großbritannien oder Westdeutschland, hätten auf Rückgabeforderungen erst gar nicht geantwortet oder sich „strategisch aufgestellt, um das Gespräch geschickt zu ersticken. Die Diskussion ist heute vergessen, weil sie vergessen gemacht wurde.“ Auch deshalb zitiert sie immer wieder den Kulturminister der Republik Benin. 2018 sagte der, falls es jemals zu einer Restitution käme, sei das ‚wie der Fall der Berliner Mauer oder die Wiedervereinigung beider Koreas‘.
Die Bedeutung der Rückgaben aus Frankreich ist nicht hoch genug zu schätzen: Diese würden eine „vollkommene Änderung der geopolitischen Kulturerbe-Lage“ bedeuten - die auch Folgen für Deutschland haben.
Savoy hatte bereits 2017 das Berliner Humboldt Forum dafür kritisiert, sich nicht klar zur den eigenen Sammlungen aus kolonialen Kontexten zu verhalten. Im Sommer wurden dort die ersten Säle mit ethnographischer Kunst eröffnet. Für Bénédicte Savoy „ein Schock“: Im Saal „Kolonie Kamerun“ habe sie große geschnitzte, verbrannte Bauteile aus Tempeln gesehen. Die Provenienzen dazu seien allerdings nur auf Kniehöhe zu lesen. „Man versteht, dass das Überreste verbrannter Paläste oder Dörfer sind, die die Deutschen in Brand gesetzt haben. Ich sah förmlich die Asche um sie herum, aber nicht mehr die Virtuosität der Künstler, die sie erschaffen haben.“ Obwohl sie diese Transparenz immer gefordert habe - „dass es so extrem ist, ist ein Schock“.
Das Kulturereignis des Jahres für Bénédicte Savoy jenseits der kolonialen Kunst war aber ein Besuch der Alten Meister in der Gemäldegalerie am Berliner Kulturforum mit Studierenden nach vielen Monaten der Schließung. „Wieder mit Rembrandt, Caravaggio, Botticelli in Kontakt zu treten, und nicht alleine, sondern im Gespräch, das war so berührend, da kamen einem die Tränen.“
Geschichte wird gemacht - Bénédicte Savoy zur Rückgabe von Kunst aus Benin
Die Autorin Mithu Sanyal steht  vor dem Literaturhaus Frankfurt. Sie trägt ein dunkles Oberteil mit einem rot-gold gemusterten Tuch um die Schultern.
Die Autorin Mithu Sanyal steht  vor dem Literaturhaus Frankfurt. Sie trägt ein dunkles Oberteil mit einem rot-gold gemusterten Tuch um die Schultern.
Mithu Sanyal
Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat das Buch des Jahres zur Identitätsdebatte geschrieben – und zugleich selbstironisch kommentiert. „Identitti“ heißt ihr erster Roman, wobei Sanyal mit diesem Titels bewusst damit spielt, ob Brüste oder eben Identität gemeint sei.
Es geht um die Hochschulprofessorin Saraswati, die sich als „people of colour“ beschreibt, obwohl sie weiß ist. Für ihre Studierenden und die Bloggerin Nivedita bricht eine Welt zusammen. Mithu Sanyal wollte damit einen Roman über Mixed-Race-Menschen in Deutschland schreiben: „Weil es den in dieser Form einfach nicht gibt. Ich möchte, dass diese Erfahrungen Teil der deutschen Literatur sind. Wie ist es, in Deutschland geboren zu sein, mixed race zu sein und die ganze Zeit gefragt zu werden: ‚Wo kommst du her?‘ oder ‚Wer bist du wirklich?‘“ Nivedita habe ja zwei Kulturen, aber eigentlich auch keine von beiden, und das sei ihr großes Problem. Mithu Sanyal plädiert für ein anderes Selbstbild der Deutschen, das alle Menschen umfasst, auch die mit Migrationshintergrund.
Dass „Identitti“ so erfolgreich würde, hat Mithu Sanyal überrascht - noch mehr aber die Frage, ob der Roman „wirklich Literatur“ sei. Sanyal sieht „Erkenntnisschranken im deutschen Literaturbetrieb“, wenn noch nie ein Mensch of colour für bedeutende Buchpreise nominiert wurde, obwohl diese Literatur schon längst existiert.
Auch die Debatte um das Gendersternchen wurde im Jahr 2021 heftig geführt. Die massive Ablehnung der Gender-Sprache ist für Sanyal mehr als eine Art Abschiedsschmerz von sprachlichen Gewohnheiten: „Es gibt eine Bewegung, die sagt, ‚wir möchten Menschen sichtbar machen, die ansonsten unsichtbar sind.‘ Die andere Seite bekommt dann zu hören, dass das, was sie sagt, falsch ist. Kommunikation abzubrechen, erzeugt körperlichen Schmerz, das müssen wir ernst nehmen.“ Neue Entwicklungen hätten immer solch einen gesellschaftlichen Schmerz zur Folge: „Und darin müssen wir uns die Hand reichen.“
Für das Jahr 2022 wünscht sich Mithu Sanyal einen „parliamentary poet“ nach kanadischem Vorbild: Ein Parlamentspoet oder eine Parlamentspoetin, die den Bundestag bereichert und berät. Mit solch einem Amt könnten etwa kollektive Traumata aufgegriffen werden. Damit würde die Politik poetischer, aber auch die Poesie politischer: „Weil sie wissen: ihnen wird zugehört.“
Der erste deutsche mixed race Roman - Mithu Sanyal über "Identittti" und Gendern

Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge vor einer bemalten Wand in Berlin, 29.7.2010
Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge vor einer bemalten Wand in Berlin, 29.7.2010
Alexander Kluge
Alexander Kluge ist ein Kosmos für sich. Der Autor und Filmemacher ist unermüdlich in und mit der Kultur unterwegs. Im Jahr 2021 hat er unter anderem die Ära Bachler an der Bayerischen Staatsoper mit „Minutenopern“ begleitet. Er bringt Kultur zur Sprache, zum Sprechen, und viele unterschiedliche Dinge miteinander ins Gespräch, so wie diese Münchner Inszenierungen. Er ist ganz nebenbei die lebendige, 89-jährige Verkörperung von Weltwissen. Für Kluge gibt es nicht die eine Sprache: In der Mathematik spreche der Kosmos; auch die Sprache der Noten könne nicht jeder lesen. Aber ganz am Anfang steht für ihn die Musik. „Musik ist nie elitär. Das, was ein Kind hört, in der zärtlichen Stimme seiner Mutter, oder der bösen, die schimpft - das ist gewissermaßen der Anfang der Musik.“
Auch Alexander Kluge hat sich während der Pandemie nicht eingesperrt gefühlt. Man sei „auf sich zurückgeworfen“. Bei vielen Freunden habe er gesehen, dass das auch produktiv war.
Das Virus selbst bezeichnet Kluge als „Fremdling“, mit dem wir erst umgehen lernen müssen, wie mit dem Fremden überhaupt: „Das Weltall, die Sterne kann ich auch nicht anfassen. Menschen auf anderen Kontinenten sind zunächst fremd. Das Interesse für das andere, das wir noch nicht kennen, das könnten wir stark kultivieren."
Die Menschheit habe mit Pest und Cholera schon früher Pandemien erlebt. „Insofern sollten wir nicht zu hochstaplerisch sagen, das ist einzigartig, das uns da angegriffen hat. Man sollte im Grunde mit diesem Fremden rechnen, und da gibt es Vieles, mit dem wir umgehen müssen.“ Der Beginn der Pandemie, als man sehr aufeinander achtgab, habe ihn an die Notzeit nach dem Krieg erinnert, als die Menschen sich auch unerwartet solidarisch und diszipliniert verhielten. Wenn das länger anhalte, so Alexander Kluge, habe das Virus auch eine positive Wirkung: „Auch wir können mutieren.“ Empathie bräuchten wir dabei „wie das liebe Brot. Das ist ein Nahrungsmittel.“
 Fremdling, von dem wir lernen können - Alexander Kluge über das Virus und Musik