Freitag, 03. Mai 2024

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Habeck zu geplanten Lockerungen
„Es wird auf Hoffnung gesetzt – das ist keine Strategie“

Dass Bund und Länder die Coronamaßnahmen nun schrittweise lockern, hält der Bundessvorsitzende der Grünen, Robert Habeck, für unklug. Deutschland sei am Beginn einer dritten Welle. Statt über Öffnungen zu reden, müsse man sich daher erst einmal auf Testen und Impfen konzentrieren, sagte Habeck im Dlf.

Robert Habeck im Gespräch mit Philipp May | 04.03.2021
Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, am 23.09.2020 in Münster
"Das ist nicht Führung und Verantwortung, das ist Wildwest-Politik", sagte Grünen-Chef Robert Habeck im Dlf zur Coronapolitik der Bundesregierung (IMAGO / Rüdiger Wölk)
"Wir sind am Beginn einer dritten Welle und reden über Öffnungen, satt Dinge umzusetzen – zu impfen, zu testen", sagte Robert Habeck im Dlf zu den geplanten Lockerungen der Coronamaßnahmen. Ohne die richtigen Voraussetzungen - wie ausreichendes Impfen und Testen - oder eine digitale Nachvollziehbarkeit der Kontakte, könne man keine Lockerungen vereinbaren.
In mehrstündigen Beratungen hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsdentinnen und -präsidenten am Mittwochabend (03.03.2021) vereinbart, verschiedene Öffnungsschritte von der Infektionslage abhängig zu machen. Als Grenzwerte wurden 50 beziehungsweise 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner festgelegt. Diese und weitere Lockerungen sollen mit Schnell- und Selbsttests abgesichert werden.
Bund und Länder beschließen stufenweise Lockerungen
Ab der kommendem 8. März sollen zunächst Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte wieder öffnen. Private Kontakte werden wieder für zwei Haushalte mit insgesamt bis zu fünf Erwachsenen erlaubt. Falls die Inzidenz sieben Tage unter 100 bleibt, sind weitere Lockerungen möglich – liegt die Inzidenz hingegen an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 werden alle Lockerungen wieder zurückgenommen.
Die Bundesregierung wolle es allen recht machen, sagte Habeck. Sie verheddere sich dabei in Bürokratie. "Statt einfach die Tests zu bestellen, gründet sie einen Kreis aus sieben Ministerien in einer Doppelspitze aus Verkehrsministerium und Gesundheitsministerium. Sicherlich zwei Häuser, die nicht als Leistungsträger der Regierung gelten", so der Grünen-Chef.
Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat der Bundesregierung grobe Managementfehler bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie vorgeworfen. Vor allem bei der Bestellung und Anwendung von Schnell- und Selbsttests müsste man weiter sein: Tests als "Baustein für mehr Freiheit" würden fehlen, sagte Lindner im Dlf .
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Das vollständige Interview im Wortlaut:

Philipp May: Wir sind bisher gut durch die Pandemie gekommen. Gilt dieser Satz noch?
Robert Habeck: Nein!
May: Warum nicht?
Habeck: Als Bürger fühlt man sich im Stich gelassen und als Politiker, als Opposition hasse ich es natürlich, an anderen nur herumzumäkeln. Ich hätte gerne selber mitgeredet gestern. Aber das, was ich mitbekomme, ist aus meiner Sicht nicht klug, was wir gerade tun. Es wird auf Hoffnung gesetzt. Das ist aber keine Strategie, bei allem Respekt für die Bundeskanzlerin. Man muss mehr erwarten. Wir sind am Beginn einer dritten Welle und reden über Öffnungen, statt über Impfen, über Testen und über Nachvollziehbarkeit zu reden. Im Grunde macht die Politik ihre Hausaufgaben im Moment nicht und lässt die Menschen allein.
May: Sie redet über Öffnungen, aber über Impfen und über Testen redet sie schon auch.
Habeck: Aber sie macht es nicht. Sie redet darüber. Vielleicht ist das das Problem, dass sie darüber redet, statt die Dinge mal einfach umzusetzen.
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May: Immerhin ist jetzt beschlossen, dass es einen Gratistest pro Woche geben soll – ab 7. März, glaube ich. Das ist ja nicht nichts!
Habeck: Nein, das ist nicht nichts. Das ist ein Anfang. Es ist weniger als versprochen und später als versprochen, und es reicht sicherlich nicht, um darauf dann eine Öffnungsstrategie zu setzen. Es ist natürlich okay, damit anzufangen, aber eigentlich muss erst getestet werden und dann kann man öffnen, statt erst zu öffnen und dann zu testen.

"Im Endeffekt führt es zu zu wenig Aktion"

May: Woran machen Sie das fest? Wie erklären Sie sich das, dass das jetzt so lange versäumt wurde mit den Schnelltests? Haben Sie eine Erklärung als Opposition dafür? Das ist ja jetzt kein neues Mittel, das es erst seit gestern gibt, die Schnelltests.
Habeck: Nein. Ich habe eine wohlwollende Interpretation dessen, was wir seit einem Jahr erlebt haben. Ich glaube, dass die Bundesregierung es allen recht machen will, und deswegen versteckt sie sich und verheddert sich in Bürokratie. Statt beispielsweise einfach die Tests zu bestellen, wie das Land Baden-Württemberg es gemacht hat, gründet sie einen Kreis aus sieben Ministerien mit einer Doppelspitze aus Verkehrsministerium und Gesundheitsministerium – nun sicherlich zwei Häuser, die nicht als Leistungsträger der Regierung gelten.
Statt den Impfstoff mit einer Notzulassung zuzulassen, haben wir in Europa gesagt, wir prüfen das ganz ausgiebig und wollen da kein Misstrauen wecken, wir machen einen komplizierten Plan für die Impfreihenfolge, um es allen recht zu machen. Das ist alles gut gemeint, aber im Endeffekt führt es zu zu wenig Aktion.

"Wir agieren zu ängstlich"

May: Aber gerade, um jetzt zum Beispiel die Notfallzulassung und das reguläre Zulassungsverfahren der EMA, was es hier in Europa gegeben hat, anzusprechen – da waren sich doch zumindest alle maßgeblichen politischen Parteien damals einig, auch Sie, dass das der richtige Weg ist, zum Beispiel, um einer Impfskepsis zu begegnen. Ist das jetzt nicht ein bisschen eine wohlfeile Ex-Post-Kritik?
Habeck: Ich sage ja: Erstens ist es nicht meine Lieblingsrolle, herumzumäkeln. Und zweitens ist es eine wohlwollende Interpretation. Warum kommen wir nicht voran? Warum haben wir keine App, die funktioniert, die die Daten überträgt, haben wir nicht die Tests? – Weil wir zu ängstlich agieren. Weil die Bundesregierung sich hinter der Bürokratie versteckt, und das ist jetzt böser formuliert als eben in der ersten Antwort. Das ist aber die Erklärung, statt einfach mal zu machen.
Können Sie mir erklären, warum in den Testzentren, wenn nachmittags gesehen wird, wir haben noch Impfdosen da, nicht einfach Leute eine Liste bekommen der über 80-Jährigen und die anrufen und sagen: Wenn Sie bis 20 Uhr da sind, dann werden Sie noch geimpft? Das muss doch nicht über komplizierteste Terminvergaben gehen. Den einfachen Weg zum Tor mal suchen, statt alles richtig machen zu wollen und dabei nichts zu machen. Das ist meine Interpretation, warum wir nicht vorankommen und warum die Situation so unbefriedigend ist.
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May: Jetzt sitzen Sie allerdings in elf Landesregierungen. Sie sind Teil dieser Bund-Länder-Runde, die jetzt ja wirklich regelmäßig tagt und dann Minimal-Konsense beschließt. Welche Rolle tragen Sie, tragen die Grünen an dieser Situation, in der wir jetzt stehen?
Habeck: Eine verantwortliche Rolle tragen wir. Wir haben drei Gesundheitsminister. Wir stellen einen Ministerpräsidenten. Wie Sie sagten, wir sind an Landesregierungen beteiligt, und wir versuchen, unseren Beitrag zu leisten, innerhalb einer geschlossenen Formation das Richtige zu tun.
Ich persönlich habe jetzt große Zweifel, dass das Richtige getan wird, weil wir über die Öffnungen reden am Beginn einer dritten Welle. Ich wohne in Flensburg. Da habe ich gesehen, wie die Mutation einer Stadt, die im Grunde kaum Inzidenzen hatte, innerhalb von Windeseile den Gar ausgemacht hat. Und wir waren mitten im Lockdown. Da war noch gar keine Öffnung.
Das heißt, ohne Voraussetzung, ohne die Tests, ohne einen Fortschritt beim Impfen, ohne eine schnellere Nachvollziehbarkeit, eine digitale Nachvollziehbarkeit der Kontakte das jetzt zu machen – bei mir hinterlässt das ein mulmiges Gefühl, und hoffentlich bezahlen wir das nicht damit, dass wir Ostern wieder im Lockdown sitzen.

"Das ist Wildwest-Politik"

May: Nichts desto trotz, die Leute sind müde. Wir merken gerade, dass die Stimmung massiv kippt, dass die Leute sich nach einer Öffnungsperspektive sehnen. Ist der Druck dann nicht einfach für die Politik möglicherweise zu groß, dass man jetzt sagen muss, okay, der Inzidenz-Wert von 35 ist derzeit nicht einzuhalten, wir erhöhen das ein bisschen?
Habeck: Dann war das ja bei der letzten MPK falsch. Dann hätten wir das ja auch schon vor drei Wochen machen können. Das hätte man zumindest begründen müssen. Wenn Politik ihre Vorgaben permanent ändert, dann ist sie ja nicht besonders verlässlich.
May: Vielleicht war es ja falsch.
Habeck: Dann hätte man das sagen müssen und dann hätte man erklären müssen, warum es vor drei Wochen richtig war und drei Wochen später falsch. Da sitzen ja nicht Amateure. Das ist ja das RKI, da sind Wissenschaftler mit am Tisch. Sie beraten sie. Das ist dann begründungspflichtig. So hat man das Gefühl, Hü und Hott, und es geht ein bisschen nach Gemütslage. Das ist aber nicht Führung und Verantwortung, sondern das ist Wildwest-Politik, wenn ich das so nennen darf.
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Ich will noch ganz kurz sagen: Alle sind müde. Alle können nicht mehr. Die Freiheitsrechte sind eingeschränkt, sie müssen zurückgegeben werden. Aber wir haben Alternativen zwischen Lockdown auf Ewigkeit und Öffnen. Die Alternativen sind, dass die Politik ihre Hausaufgaben macht. Impfen, schneller Impfen, mehr Impfen, Testen, Nachvollziehbarkeit, und das ist kein Voodoo. Die Bundesregierung hat da ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Wir sind immer viel zu spät. Jetzt einen Arbeitskreis zu gründen, um dann die Tests für den April zu besorgen – ich meine, das ist fast wie Neues aus der Anstalt, oder? Muss ich dazu noch was sagen?

Kritik an der Impfstrategie

May: Nein, dazu müssen Sie nichts sagen. Aber Sie können vielleicht noch was zum Impfen sagen. Das soll ja jetzt deutlich schneller gehen. Ist es die Schuld der Bundesregierung gewesen, dass so wenig Impfstoff da war?
Habeck: Die Bundesregierung war Vorsitzland in der EU, als der Impfstoff bestellt wurde. Es ist jedenfalls zu billig zu sagen, das hat die Europäische Kommission alleine vermasselt. Wenn man sieht, dass nachdem erkannt wurde, dass wir zu wenig Impfdosen haben, Amerika es geschafft hat, noch mehr Impfdosen zu bestellen und jetzt Ende Mai alle geimpft haben wollen, und Europa nicht, muss man sagen: Eine Glanzleistung war das auch nicht. Jetzt dreht sich aber das Problem um. Auch darüber wurde ja gestern gesprochen.
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Wir haben ja offensichtlich bald sehr viel mehr Impfdosen und die werden nicht verimpft. Das ist der nächste Punkt, wo wahrscheinlich der Geduldsfaden reißt. Wenn keine Impfdosen da sind, kann man sagen, haben wir das in der Vergangenheit schlecht gemacht. Okay. Wir haben auch nicht herumgebrüllt und gesagt im letzten August, wir müssen mehr Moderna oder mehr AstraZeneca bestellen. Aber wenn Impfdosen da sind und man weiß, dass sie kommen, dann muss es jetzt organisiert werden, dass von früh bis spät geimpft wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)